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11. Dankesrede zur Verleihung des Alex-Wedding-Preises der Akademie der Künste (1986)

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Liebe Anwesende!

Mit der Verleihung des Alex-Wedding-Preises befinde ich mich zum ersten Mal in der Verlegenheit, eine Dankesrede zu halten. Es gehört sich so, dass der Geehrte ein paar Worte vom Katheder spricht. Wir kommen selten dazu, uns selbst zu feiern, nach dem ein anderer uns gelobt hat. Schnell baut sich das Bewusstsein im Selbst eine Burg oder Laube, und das nennen wir dann Selbstbewusstsein.

Damit allein kommst du aber nicht weit, denn auch vor dem Tor der Akademie der Künste wartet der Alltag, der auch von einem Schriftsteller verlangt: Fleiß, Selbstdisziplin und den Mut zur Wahrheit. Wohl nur so kann es dem Erzähler mit einer gefundenen und ausgeschmückten Geschichte gelingen, einen Faden zu ziehen vom Leben in die Kunst, auf dem dann ein paar Menschen – vielleicht mit Gewinn – hin- und zurückbalancieren können.

Nun, ich schreibe Kinderbücher, nicht nur, aber nie nebenbei. Wir nennen Kinderliteratur, was Erwachsene für Kinder schreiben. Was Erwachsene für Kinder aussuchen und kaufen. Was sie für Kinder vorlesen. Kann Literatur für Kinder denn überhaupt einen Faden bilden, auf dem Heranwachsende, nur auf ihr unfertiges Selbst gestützt, ihren Papierhelden zur Seite, sich zwischen Realwelt und Fantasiewelt hin und her bewegen? Die alte Frage „Was vermag Literatur überhaupt?“, stellte sich dem Schriftsteller in der Kinderliteratur am deutlichsten. Bei keinem anderen Publikum ist die Wirkung von Kunst und Literatur so genau nachprüfbar wie bei Kindern. Eingedenk dessen, dass die Welt wohl nie den Dichtern und Denkern gehören wird – schon darum nicht, da sie sich an dem Feuer, das sie mit ihrem Geist entzünden, nicht die Finger verbrennen wollen -, meine ich: Die Erziehung der Gefühle, die Bildung des Herzens, die Entdeckung der Seele findet im Wesentlichen in den Künsten statt. Gerade beim Kind, dem schönen, weil spielenden Menschen, der hinter jedes Geheimnis kommt und sich doch in einer Welt voller Rätsel bewegt, können Geschichten, die von der Vielfalt menschlichen Daseins, seinen Freuden und Schmerzen, Gewinnen und Verlusten erzählen, helfen, sich im Irrgarten der Wirklichkeit zurechtzufinden. Wir sollten es längst wissen: Der Meister ist fröhlicher und dem Leben gegenüber offener, wenn er in seiner Kindheit gespielt hat, bevor er üben musste. Und die Zeiten sollten für immer vorbei sein, in denen in des Deutschen Wohnzimmer kein Weltbild passte; nur allzu leicht ließen sich aus deutschen Gartenzwergen Bleisoldaten fertigen.

Ich bekenne mich nachdrücklich zu einer streitbaren Kunst und Literatur, ohne die menschliches Zusammenleben farblos und erdrückend eng wird und auch eine sozialistische Kultur - die zu definieren wir uns ja noch immer schwer tun - nicht möglich ist. Solche Zauberworte wie „Ökonomie“ und „Technologie“, die Entwicklung symbolisieren, werden uns nicht alle Hindernisse aus dem Weg räumen und gleich dem Schlüssel „Sesam, öffne dich!“, unermessliche Schatzkammern öffnen. Ohne Kunst können Menschen überleben, aber nicht leben. Schon manch einer in manch einer Zeit, und da müssen wir gar nicht so weit zurückblicken, hätte es lieber gesehen, wenn aus dem freiheitsliebenden Pegasus eine Attraktion im Hippodrom geworden wäre; der philiströs beschränkte Schulmeister Gottlieb Biedermaier musste ja zu keiner Zeit neu geboren werden.

Ich fühle mich gut aufgehoben in einer kleinen, aber starken Gruppe von Menschen, denen das Buch so notwendig ist wie das tägliche Brot. Die Kinderliteratur hat es sich hierzulande redlich verdient, nicht mehr in die Randzonen der Dichtung gestellt oder gar hinter solch fadenscheinigen Deckmänteln wie „Erziehungshilfe“ oder „Lesefutter“ verborgen zu werden. Sie ist längst aus den durchgelaufenen Igelitschuhen und dem zu engen Konfirmationsanzug heraus. Sie zeigt sich manchmal noch nicht ganz ungebunden, aber hier und da schön und frei, weil wahr und poetisch, auch wenn das manchem Literaturfunktionär suspekt ist.

Es hat sich viel getan in der Literatur für Kinder, die ja auch im besten Fall Lesestoff für Erwachsene ist. Die Helden des Homer und des Nibelungenliedes hätten schon bei Tom Sawyer und Huck Finn vielleicht nur noch den Indianer-Joe und den Muff Potter spielen dürfen. Heute sind unsere Kinder selbst die literarischen Helden, uns interessiert ihr Werden und Sein, ihre Kämpfe, Siege und Niederlagen in Elternhaus und Schule, ihre Tagträume, Hoffnungen und Enttäuschungen. Wir können sie weder in Drachenblut unverwundbar baden, noch wollen wir Götter über sie stellen, die ihnen Frieden und Freiheit versprechen und sie dann doch nur demütigen und auf einem Schlachtfeld untergehen lassen. Und es besteht wohl auch keine Gefahr, dass wir, von erdrückenden Helden und Vorbildern abgewandt, den Pykniker zum Schönheitsideal eines Spondylosezeitalters erheben. Unsere Protagonisten sind im Volk zu suchen, es sind lebendige Menschen, deren lebenserhaltende Kraft sich aus der Bewältigung des Alltags regeneriert, die es nicht vertragen zu Vorbildern aufgeblasen zu werden und sich gegen Bevormundung und Unfreiheit zur Wehr setzen, die wissen wollen, woran sie sind, um es erhalten oder verändern zu können.

Ich möchte Ihnen ein paar Zeilen aus meinem neuen Manuskript „Annabella und der große Zauberer“ vorlesen, um zu verdeutlichen, worauf ich vertraue. Gerade bei der wachsenden Sorge um den Bestand unserer Erde sollten wir doch hoffnungsvoll in die Zukunft blicken können. Es ist eine treibende Kraft in uns Menschen, tatsächlich etwas Göttliches, eine Kraft zur Wahrheit hin, durch nichts und niemand über einen langen Zeitraum aufzuhalten. Und da wir annehmen, dass Wahrheit zur Gerechtigkeit führt, und Gerechtigkeit zur Freiheit, und Freiheit zur Schönheit, sollen wir wissen, wo wir unsere Kraft lassen müssen, um frischen Mut zu gewinnen.

In der Schule störte Annabella den Unterricht. So meinte es Herr Ratzeburger. Der Lehrer las aus dem Lesebuch einen Zungenbrecher vor: Esel fressen Nesseln nicht, Nesseln fressen Esel nicht. Annabella sollte den Satz nachsprechen. Sie fragte: „Warum?“

Nein!“, rief Herr Ratzeburger. „Du mit deinem Warum!“

Warum?“, wiederholte Annabella.

Warum was?“, rief der Lehrer.

Warum fressen Esel Nesseln nicht? Und warum fressen Nesseln Esel nicht?“, fragte Annabella.

Warum?“, sagte Herr Ratzeburger leise. Dann rief er: „Warum, warum! Kannst du denn nicht einmal etwas so nehmen, wie es ist!“

Warum?“

Herr Ratzeburger steckte die Hände in die Hosentaschen, damit sie nicht den Kugelschreiber greifen konnten. Er versuchte zu lächeln. Er zwang sich, ruhig zu sagen: „Sprich mir nach, Annabella: Esel fressen Nesseln nicht, Nesseln fressen Esel nicht.“

Annabella sprach: „Warum fressen Esel Nesseln nicht? Warum fressen Nesseln Esel nicht?“

Herr Ratzeburger stöhnte. Seine Hände fuhren aus den Hosentaschen, er nahm hastig den Kugelschreiber, malte sein Gesicht blau und rief: „Tilo Rubinstein! Ich bitte dich: Sage du den Zungenbrecher richtig auf!“

Tilo Rubinstein sprach: Esel fressen Nesseln nicht, Nesseln fressen Esel nicht.“

Na also“, sagte Herr Ratzeburger erleichtert. „Eine Eins. Carola, du bist dran.“

Auch Carola bekam eine Eins für das Aufsagen des Zungenbrechers. Der Lehrer rief nacheinander alle Mädchen und Jungen auf. Schließlich sagte alle im Chor: „Esel fressen Nesseln nicht, Nesseln fressen Esel nicht.“

Aber Annabella konnte keine Ruhe geben. Sie wollte den Unterricht nicht stören. Aber von nun an war ihr „Warum?“ in jeder Stunde zu hören.

Annabella rief: „Warum will Jürgen von Erika drei Äpfel haben, wenn er schon sieben Äpfel hat?“

Das ist eine Rechenaufgabe, weiter nichts“, sagte der Lehrer. „Ich will das Ergebnis hören, nichts weiter.“

Aber“, sagte Annabella. „Jürgen hat vier Äpfel mehr als Erika. Warum will er dazu noch Erikas drei Äpfel haben? Erika muss von Jürgen zwei Äpfel bekommen. Dann hat jeder fünf Äpfel. Die können sie zusammen essen.“

Herr Ratzeburger vermied es, Annabella aufzurufen. Doch Annabellas Hand war immer oben. Und was sie alles wissen wollte: „Warum ...? Warum ...? Warum ...?“

Rufe in die Wüste

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