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5. Vergessen und Erinnern (1983)
Оглавление50. Jahrestag der Bücherverbrennung
Meine Damen und Herren,
wir Menschen besitzen eine Eigenschaft, die uns oft das Überleben sichert: Böse Geschehnisse schieben wir alsbald auf sichere Entfernung und schließlich sperren wir sie in den Tresor unseres Unterbewusstseins. Wir maßen uns an die Welt zu beherrschen und sind doch so leicht zerbrechliche Wesen. Schon im Mutterleib leben wir auf der Schwelle zum Tod. Ein fallender Dachziegel, ein zu spät bremsendes Auto, eine verlorene Liebe - man muss schon auf sich aufpassen, wenn man am Leben bleiben will. Ein großer Teil der Menschheit ist den Kinderschuhen entstiegen, der Garten Eden ist nur noch ein schönes Märchenbild, das wir uns schamhaft vor Augen führen, wenn die Realität uns im Alltagsgrau zu ersticken droht und fortdauernde Gewalttaten uns das Gruseln lehren. Wir vertrauen auf die Zeit, dass sie uns heilt, die Verhältnisse bessert und uns eine Zukunft beschert, wir meinen, ihr Fluss, der uns mitzieht, hat magische Heilkraft. Und in dem wir uns treiben lassen, bleibt uns oft nichts anderes als zu vergessen, denn der starke Mensch ist ein schwacher Mensch. Zum Überleben brauchen wir das Vergessen, zum Leben aber benötigen wir das Erinnern.
Wir haben uns heute im altehrwürdigen Festsaal des Alten Rathauses versammelt, um uns zu erinnern. Wir sind zusammengekommen, weil die Geschichte uns beigebracht hat, dass wir auf die Lehrjahre der Vergangenheit nicht verzichten können, wenn wir eine Gegenwart gestalten wollen, die unseren Kindern eine friedvolle Zukunft sichert.
Wir erinnern uns an das Jahr 1933 und seinen verhängnisvollen 10. Mai. Ich bin Jahrgang vierzig und habe also die Machtergreifung Hitlers und seiner Komplizen nicht miterlebt. Mein Wissen vom damaligen Geschehen habe ich aus Geschichtsbüchern, aus Berichten der Mütter und Väter, vor allem aber aus der Literatur, die am 10. Mai 1933 in deutschen Städten auf den Scheiterhaufen verbrannte. Unser Entsetzen ist groß über Menschen, die den Umgang mit dem Kulturgut „Feuer“ auf geradezu teuflische Weise perfektioniert hatten, die ihr eigenes Kulturerbe verleugneten und all die Zeugnisse menschlicher Größe den Flammen preisgaben, und wenig später Hunderttausende ihrer Mitmenschen - Mütter, Väter, Brüder und Schwestern, ja, Kinder - in Verbrennungsmaschinen zu Asche werden ließen. Doch aus meiner Betroffenheit wächst der Triumph: Wir sind hier versammelt, einen schwer errungenen Sieg zu feiern, einen Sieg der Kultur über die Unkultur, über Unmenschen und Unmenschliches, den Sieg des Widerstandes, der kämpferischen Vernunft und Liebe also, ohne die menschliches Leben und seine Kunst nicht zu denken sind.
Der Triumph kann nur kurz sein, die Siegesfeier keinesfalls laut. Wir erinnern uns der Toten und Gebrochenen des 2. Weltkrieges - mit der Verbrennung von Büchern hatte der Nationalsozialismus zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit seine bestialische Fratze gezeigt - und blicken in die gegenwärtige zerrissene und zerstrittene Welt, der die Rüstung den Hals zuschnürt, die Augen blind und die Ohren taub macht. Eine Vielzahl die menschliche Existenz bedrohende Probleme stehen zur baldigen Lösung an - es ist in der Tat fünf vor zwölf, es steht uns eine Geisterstunde bevor, die wir, wenn wir sie nicht doch noch abwenden, alle nicht überleben werden.
Ein Triumphgefühl verliert sich schnell in meiner Angst. Gegen seine Angst muss man etwas tun, sonst webt sie uns ein in ihren engen Kokon. In einer Welt, die sich in zwei feindliche Lager gespalten hat, wobei beide Seiten sich zunehmend mehr auf Wirtschaftswachstum und militärische Stärke verlassen, dürfen wir Schriftsteller auf das mahnende Wort nicht verzichten, auf die Kunst des Erzählens von Menschengeschichten und der Menschheitsgeschichte, auf das heikle Brückenbauen von der Wirklichkeit zur Wahrheit.
Dieses Jahr 1933, dieser 10. Mai soll uns sagen: Wir sind nicht geboren, um an Wunder zu glauben. Gott, alle Hoffnung auf Erlösung, die wir bewusst oder unbewusst mit ihm verbinden - dieser Gott ist in jedem von uns. An uns sollen wir glauben, von uns und um uns müssen wir wissen. Wir sind es, die über Wohl und Wehe unserer Erde zu entscheiden haben. Oft sprechen wir von Ewigkeiten und können doch nur den Augenblick meinen. Nur die Hoffnung gibt Ewigkeit. Hoffen aber ist Tun. Und Tun ist: sich seiner selbst bewusst werden durch die Liebe und Arbeit und immer wieder einen Schritt auf den anderen zugehen. Dazu braucht es den Frieden. Wir befinden uns in einem kampflosen Zustand, durch Waffen und Angst gehalten, das ist kein Frieden. Frieden ist kein Zustand, er ist Ziel auf einem nie endenden mühseligen Weg. Um den Frieden müssen wir kämpfen; aber es darf kein anderes Kampfmittel geben, als das zum Argument erhobene Wort: Wir erinnern uns an den 10. Mai 1933.