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IX.
ОглавлениеDrei Monate waren seitdem vergangen. Die Scheidung Du Roys war ausgesprochen. Seine Frau hatte den Namen Forestier wieder angenommen. Da die Walters am 15. Juli nach Trouville fahren wollten, so hatte man verabredet, noch vor der Trennung einen Tag auf dem Lande zu verbringen.
Man wählte einen Donnerstag und brach schon um neun Uhr morgens in einem großen sechssitzigen Reiselandauer, der mit vier Pferden bespannt war, auf. Es sollte in Saint-Germain im Pavillon Henry IV. gefrühstückt werden. Bel-Ami hatte sich ausgemacht, der einzige Mann in der Gesellschaft zu sein, denn er konnte weder die Anwesenheit noch das Gesicht des Marquis de Cazolles ertragen. Doch im letzten Augenblick entschloss man sich, den Grafen de Latour-Yvelin mitzunehmen. Er wurde am Tage vorher benachrichtigt und sollte gleich, nachdem er aufgestanden war, abgeholt werden.
Der Wagen fuhr in raschem Trabe die Avenue des Champs-Elysees hinab und dann durch das Bois de Boulogne.
Es war ein herrliches, nicht zu heißes Sommerwetter. Die Schwalben zogen durch den blauen Himmel in wundervollen Kurven, sie flogen so schnell, dass man sie immer noch zu sehen glaubte, als sie schon vorüber waren, Die drei Damen saßen tief im Vordersitz des Landauers, die Mutter zwischen den beiden Töchtern und im Rücksitz die drei Männer, Walter in der Mitte, rechts und links die beiden Gäste.
Man fuhr über die Seine am Mont-Valérien vorbei und gelangte nach Bougival. Dann ging es am Fluss entlang bis nach Pecq.
Graf de Latour-Yvelin war schon ein reifer Mann mit einem langen, dünnen Doppelbart, dessen Spitzen sich beim leisesten Windhauch bewegten und wie Du Roy oft behauptete, »der Wind schaffe die schönsten Effekte in seinem Bart«.
Der Graf sah Rose liebevoll an; sie waren seit einem Monat verlobt. Georges war sehr bleich und blickte oft zu Suzanne hinüber, die auch sehr bleich war. Ihre Augen trafen sich, sie schienen übereinzustimmen, sich gegenseitig zu verstehen und geheime Gedanken auszutauschen, um sich dann gleich wieder zu fliehen. Frau Walter war ruhig und glückselig.
Das Frühstück dauerte lange. Vor der Rückfahrt nach Paris schlug Georges vor, einen Spaziergang auf der Terrasse zu machen.
Man blieb zunächst eine Weile stehen, um die Aussicht zu bewundern. Alle stellten sich in einer Reihe längs der Brüstung, und man war über den weiten ungeheuren Horizont begeistert. Am Fuße eines langen Hügelrückens floss die Seine nach Maison-Lafitte zu, wie eine Riesenschlange, die auf einer großen Wiese lag. Rechts auf dem Kamm der Hügelkette hob sich die Wasserleitung von Marly vom Himmel ab; sie sah wie eine riesige Raupe mit breiten Pfoten aus, und Marly selbst verschwand in dem dichten grünen Laub der Bäume.
Auf der weiten Ebene, die sich vor ihnen ausbreitete, sah man hin und wieder kleinere Dörfer. Die Seen von Vesinet bildeten schöne weiße Flecke in dem spärlichen Grün der kleinen Haine. Links, ganz in der Ferne, ragte über dem Horizont der spitze Turm von Sartrouville.
Walter erklärte:
»Nirgends in der Welt findet man solch ein Panorama. Selbst in der Schweiz gibt es nichts Ähnliches.«
Dann begann man langsam auf und ab zu gehen, um den Blick auf die weite Landschaft zu genießen.
Georges und Suzanne blieben etwas zurück. Sobald sie ein paar Schritte von den anderen entfernt waren, sprach er mit gedämpfter, leiser Stimme zu ihr:
»Suzanne, ich liebe Sie über alles, ich liebe Sie zum Wahnsinnigwerden.«
Sie flüsterte:
»Ich auch, Bel-Ami.«
Er fuhr fort:
»Wenn Sie nicht meine Frau werden, verlasse ich für immer Paris und dieses Land.«
»Versuchen Sie doch, Papa um meine Hand zu bitten, vielleicht willigt er ein.«
Er machte eine kurze, ungeduldige Bewegung.
»Nein, ich sage es Ihnen zum zehnten Mal, es ist zwecklos. Er würde mir nur sein Haus verbieten; er jagt mich aus der Zeitung fort, und wir werden uns nicht einmal sehen können. Das würde das hübsche Ergebnis sein, wenn ich in der üblichen Form um Sie anhalte. Man hat Sie dem Marquis de Cazolles versprochen, und man hofft, dass Sie schließlich doch ja sagen. Man wartet.«
»Was soll man da tun?« fragte sie.
Er sah sie von der Seite an und fragte zögernd:
»Lieben Sie mich so heiß, dass Sie für mich eine Torheit begehen könnten?«
»Ja«, sagte sie entschlossen.
»Eine große Torheit.«
»Ja.«
»Eine sehr große Torheit.«
»Ja.«
»Hätten Sie genügend Mut, Ihrem Vater und Ihrer Mutter zu trotzen?«
»Ja.«
»Bestimmt?«
»Ja.«
»Also gut. Es gibt ein einziges Mittel, die ganze Sache muss von Ihnen und nicht von mir ausgehen. Sie sind die Lieblingstochter, ein verwöhntes Kind. Sie dürfen alles sagen; man wird auch über eine neue Keckheit Ihrerseits nicht so arg erstaunt sein. Also hören Sie zu. Wenn Sie heute Abend nach Hause kommen, suchen Sie Ihre Mama auf, wenn sie ganz allein im Zimmer ist und gestehen ihr, dass Sie mich heiraten wollen. Sie wird in eine große Aufregung geraten und sehr wütend sein …«
Suzanne unterbrach ihn:
»Oh, Mama wird mit größter Freude einwilligen.«
»Nein,« sagte er lebhaft, »Sie kennen sie nicht, sie wird noch zorniger und aufgeregter sein als Ihr Vater. Sie werden sehen, wie sie es Ihnen verweigert. Aber Sie halten sich. Sie geben nicht nach. Sie wiederholen immerfort, dass Sie mich heiraten wollen, nur mich allein und niemanden anderen. Werden Sie das tun?«
»Ja, ich werde es tun.«
»Wenn Sie von Ihrer Mutter kommen, sagen Sie dasselbe Ihrem Vater, aber sehr ruhig und entschlossen.«
»Ja, sehr gut; und dann?«
»Und dann … und dann kommen wir an den schwierigsten Punkt. Wenn Sie entschlossen, richtig entschlossen sind, meine Frau zu werden, meine liebe, liebe, kleine Suzanne … dann … dann entführe ich Sie.«
Sie fuhr vor Freude auf und begann in die Hände zu klatschen. .
»Oh, welches Glück! Sie werden mich entführen, wann werden Sie mich dann entführen?«
Die ganze Poesie der nächtlichen Entführungen mit Postkutschen, Herbergen und all den wunderbaren Abenteuern, wie sie in den Büchern stehen, fuhr ihr plötzlich wie ein märchenhaftes Traumbild, das sich verwirklichen sollte, durch den Kopf. Sie wiederholte:
»Wann werden Sie mich entführen?«
Er antwortete ganz leise:
»Heute noch … heute Abend… vielleicht in der Nacht.«
Sie fragte zitternd:
»Und wohin gehen wir?«
»Das ist mein Geheimnis. Aber überlegen Sie sich genau, was Sie tun. Bedenken Sie, dass nach dieser Flucht Ihnen nichts anderes übrigbleibt, als meine Frau zu werden. Es ist das einzige Mittel, aber es ist … sehr gefährlich … für Sie …«
Sie erklärte:
»Ich bin entschlossen … Wo werde ich Sie treffen können?«
»Können Sie das Palais ganz allein verlassen?«
»Ja. Ich kann die Seitentür aufschließen.«
»Nun gut! Wenn der Portier sich schlafen gelegt hat, erwarte ich Sie auf dem Place de la Concorde. Sie finden mich in einer Droschke, gegenüber dem Marineministerium.«
»Ich komme«, sagte sie.
»Bestimmt?’’
»Ganz bestimmt.«
Er nahm ihre Hand und drückte sie.
»Oh, wie ich Sie liebe, wie Sie gut und tapfer sind! Sie wollen also den Marquis de Cazolles nicht heiraten?«
»O nein.«
»War Ihr Vater sehr böse, als Sie nein sagten?«
»Das will ich wohl meinen, er wollte mich in ein Kloster schicken.«
»Sie sehen also, dass wir energisch sein müssen.«
»Ich werde es auch sein.«
Sie sah vor sich die weite Landschaft, den Kopf voll Gedanken über die Entführung. Sie würde noch weiter ziehen … mit ihm! … Sie wurde entführt! … Sie war stolz darauf! Sie dachte nicht an ihren Ruf, an das Infame und Schändliche, was ihr vielleicht bevorstand. Wusste sie etwas davon? Ahnte sie das überhaupt?
Frau Walter wandte sich um und rief:
»Aber komm doch, Kleine! Was machst du da mit Bel-Ami?«
Sie holten die anderen ein. Man sprach über Seebäder, wo man bald sein würde.
Dann fuhren sie über Chatou zurück, um nicht denselben Weg noch einmal machen zu müssen. Georges sagte nichts. Er dachte: »Also, wenn diese Kleine etwas Mut hat, dann würde die Sache endlich klappen.«
Seit drei Monaten spann er um sie das unwiderstehliche Netz der schmeichelnden Zärtlichkeit. Er bezauberte, er verführte und eroberte sie. Er hatte sich von ihr lieben lassen, er strengte sich an, so gut wie er es irgend konnte. Er hatte mit Leichtigkeit ihre Puppenseele gewonnen.
Er hatte zunächst erreicht, dass sie dem Marquis de Cazolles absagte. Nun hatte er erreicht, dass sie mit ihm durchgehen würde, denn es war das einzige Mittel.
Dass Frau Walter niemals zustimmen würde, ihm ihre Tochter zu geben, das begriff er sehr wohl. Sie liebte ihn noch, sie würde ihn immer lieben, und zwar mit einer leidenschaftlichen Wucht. Er hielt sie durch seine berechnete Kälte in den Schranken, aber er fühlte, wie sie von einer gierigen, ohnmächtigen und verzehrenden Leidenschaft gequält wurde. Sie würde nie nachgeben. Sie würde nie zulassen, dass er Suzanne heiratete. Aber sobald er die Kleine in der Ferne versteckt hielt, dann konnte er mit dem Vater unterhandeln, wie eine Macht mit der anderen.
Er dachte über dieses alles nach. Er antwortete mit abgehackten Sätzen auf die Fragen, die man an ihn richtete und auf die er kaum hörte. Als man nach Paris zurückkam, wachte er wieder auf.
Auch Suzanne war in Gedanken. Das Schellengeklingel der vier trabenden Pferde klang ihr im Kopf, und sie träumte von endlosen. Straßen, unter ewigem Mondschein, von finstern Wäldern, Herbergen am Rande der Landstraßen und von Stallknechten, die hastig die Pferde umspannten, denn jeder sollte erraten, dass sie verfolgt würden.
Als der Landauer in den Hof des Palais einfuhr, wollte man Georges zum Diner dabehalten. Er lehnte jedoch dankend ab und ging nach Hause. Nachdem er etwas gegessen hatte, ordnete er seine Papiere, als wenn ihm eine lange Reise bevorstand. Er verbrannte die Briefe, die ihn kompromittieren konnten, die anderen versteckte er und schrieb an einige Freunde.
Von Zeit zu Zeit sah er auf die Standuhr und dachte:
»Jetzt muss es drüben sehr heiß hergehen.«
Eine Unruhe und Unsicherheit nagte ihm am Herzen. Wie, wenn ihm die Sache misslingen würde? … Was hatte er ja eigentlich zu fürchten? Er hatte sich noch immer aus der Klemme ziehen können. Es war doch ein sehr großes Spiel, das er heute spielte.
Gegen elf Uhr verließ er sein Haus. Er wanderte eine Weile auf und ab. Dann nahm er eine Droschke und ließ den Kutscher an der Place de la Concorde vor den Arkaden des Marineministeriums halten. Hin und wieder zündete er ein Streichholz an, um nach der Uhr zu sehen. Je mehr die Mitternachtsstunde heranrückte, umso fieberhafter und unruhiger wurde seine Ungeduld. Alle Augenblicke steckte er seinen Kopf aus dem Wagenfenster und spähte hinaus.
Eine ferne Turmuhr schlug zwölf, gleich darauf schlug eine andere in der Nähe und dann gleich zwei auf einmal. Als der letzte Schlag verhallt war, dachte er: »Nun ist es aus, es ist misslungen, sie kommt nicht mehr!« Trotzdem war er entschlossen zu bleiben, bis es Tag wurde. In solchen Fällen muss man Geduld haben.
Er hörte, wie es ein viertel, dann ein halb, dann dreiviertel schlug, und schließlich wiederholten sämtlich Uhren, eine nach der anderen, eins, wie sie zwölf Uhr geschlagen hatten.
Er hatte die Hoffnung schon verloren und zerbrach sich den Kopf darüber, was wohl geschehen sein könnte. Plötzlich blickte ein Frauenkopf durch die Fenster und fragte:
»Sind Sie da, Bel-Ami?«
Er fuhr atemlos empor:
»Sind Sie das, Suzanne?«
»Ja, das bin ich.«
Die Türklinke ging nicht sofort auf und er konnte sie nicht rasch umdrehen, inzwischen wiederholte er:
»Ach … Sie sind es … da sind Sie, Gott sei Dank … kommen Sie herein.«
Sie stieg ein und sank in seine Arme.
Er rief dem Kutscher zu: »Vorwärts!« Und die Droschke setzte sich in Bewegung. Vor Aufregung konnte sie kein Wort hervorbringen.
Er fragte:
»Nun erzählen Sie, wie ist es bei Ihnen zu Hause hergegangen?«
Beinahe ohnmächtig murmelte sie:
»Oh! Es war furchtbar, besonders mit Mama.«
Er war unruhig und zitterte:
»Erzählen Sie? Was hat Ihnen Ihre Mama erzählt, erzählen Sie mir alles.«
»Oh, es war entsetzlich. Ich kam in ihr Zimmer und habe ihr die Sache vorgetragen, wie ich sie mir im Voraus vorbereitet hatte. Da wurde sie ganz blass und schrie:
›Niemals, nie im Leben!‹
Ich habe geweint, ich wurde böse, ich habe geschworen, dass ich nur Sie heiraten würde. Ich habe gedacht, sie würde mich schlagen. Sie wurde wie wahnsinnig. Sie erklärte, dass man mich morgen schon ins Kloster schicken würde. Ich habe sie noch nie in einem solchen Zustande gesehen. Da kam Papa, der offenbar gehört hatte, wie sie alle ihre Dummheiten sagte. Er wurde nicht so wütend wie sie, aber er erklärte, Sie seien keine gute Partie für mich. Sie machten mich auch wütend, und da schrie ich noch lauter als sie. Da befahl mir Papa mit einem dramatischen Gesichtsausdruck, der ihm gar nicht stand, hinauszugehen. Das brachte mich zum Entschluss, mit Ihnen zu fliehen. Nun! Hier bin ich. Wo fahren wir hin?«
Er hielt ihre Taille sanft umschlungen; und er hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, sein Herz klopfte, ein zorniger, neidischer Hass stieg in ihm gegen diese Leute auf. Doch er hielt die Tochter. Nun würden sie sehen.
»Es ist zu spät,« antwortete er, »wir können keinen Zug mehr erreichen. Wir fahren mit diesem Wagen nach Sevres und dort übernachten wir, und morgen früh reisen wir nach La Roche Guyon weiter. Es ist ein hübsches Dorf an der Seine, zwischen Montes und Bonnieres.«
Sie murmelte:
»Ich habe aber gar keine Sachen mit.«
Er lächelte mit sorgloser Miene.
»Ach was, das richten wir drüben irgendwie ein.«
Der Wagen rollte durch die Straßen. Georges nahm die Hand des jungen Mädchens und begann sie langsam und rücksichtsvoll zu küssen. Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte, denn er war an platonische Zärtlichkeiten nicht gewöhnt. Plötzlich schien es ihm, als wenn sie weinte.
Erschrocken fragte er:
»Was haben Sie, meine liebe Kleine?«
Sie antwortete mit schluchzender Stimme:
»Meine arme Mutter, wenn sie bemerkt hat, dass ich fort bin, wird sie jetzt sicher nicht schlafen können.«
Und in der Tat schlief ihre Mutter nicht.
Sobald Suzanne das Zimmer verlassen hatte, stand Frau Walter ihrem Manne gegenüber und fragte ängstlich und niedergeschmettert:
»O Gott! Was soll das nur bedeuten?«
»Das bedeutet,« rief Walter wütend, »dass dieser Intrigant ihr den Kopf verdreht hat. Er war es doch, der sie bewegen hat, dem Cazolles abzusagen. Natürlich findet er die Mitgift hübsch!«
Er begann wütend im Zimmer hin und her zu laufen und fuhr fort:
»Du auch, du hast ihn immerfort ins Haus gelockt, du hast ihm geschmeichelt, du hast ihm den Hof gemacht, du fandest nie genug schöne Worte für ihn. Bel-Ami hier, Bel-Ami dort, — so ging es vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Nun hast du den Lohn dafür.«
»Ich?« stammelte sie totenblass, »ich lockte ihn ins Haus?«
Er schleuderte ihr ins Gesicht:
»Jawohl, du! Ihr alle seid toll auf ihn, die Marelle, Suzanne und viele andere. Glaubst du, dass ich nicht merkte, wie du keine zwei Tage aushalten konntest, ohne dass er hierherkam?«
Sie richtete sich mit tragischer Miene empor:
»Ich erlaube Ihnen nicht, mit mir so zu reden. Sie vergessen, dass ich nicht wie Sie in einem Laden erzogen bin.«
Er stand zuerst starr und verblüfft da, dann stieß er ein wütendes »O Gott!« aus, ging hinaus und warf die Tür hinter sich zu.
Sobald sie allein war, ging sie unwillkürlich zum Spiegel, um zu sehen, ob nicht etwas an ihr verändert wäre, so unglaublich, so ungeheuerlich erschien ihr das Geschehene. Suzanne war in den Bel-Ami verliebt und Bel-Ami wollte Suzanne heiraten! Nein! Sicher irrte sie sich, es konnte nicht wahr sein. Das junge Mädchen hatte sich in den schönen jungen Mann vergafft, es war ganz natürlich; sie hoffte, ihn zum Gatten zu bekommen; sie hatte es sich in den Kopf gesetzt! Aber er? Er konnte doch unmöglich die Hand im Spiel haben! Sie grübelte, verwirrt, wie man überhaupt vor einem bevorstehenden Unglück verwirrt ist. Nein, Bel-Ami konnte nichts von Suzannes Streich wissen.
Sie sann lange über die mögliche Gemeinheit oder Unschuld dieses Mannes nach. Oh! welch ein treuloser Schurke war er, wenn er diesen Streich vorbereitet hat! Was würde dann geschehen? Wie viele Gefahren und wie viele Qualen glaubte sie dann vorauszusehen.
Wenn er nichts wusste, dann konnte alles noch gerettet werden. Man würde mit Suzanne für sechs Monate verreisen und damit wäre alles zu Ende. Wie konnte aber sie ihn dann wiedersehen? Sie liebte ihn noch immer. Diese Leidenschaft hatte sich in sie hineingebohrt wie Pfeilspitzen, die sich nicht wieder herausreißen lassen. Leben ohne ihn war unmöglich. Dann lieber sterben.
Ihre Gedanken schweiften in dieser Angst und Ungewissheit herum. Ein heftiger Schmerz drückte auf ihren Kopf. Ihre Gedanken wurden sorgenvoll, trübe und quälten sie furchtbar. Verzweifelt suchte sie die Sache zu ergrübeln, und die Unwissenheit: machte sie nervös. Sie sah nach der Uhr, es war eins vorbei. Sie sagte sich: »So kann es nicht bleiben, sonst werde ich wahnsinnig. Ich muss mir Gewissheit verschaffen. Ich werde Suzanne wecken und sie ausfragen.«
Dann ging; sie ohne Schuhe, um keinen Lärm zu machen, mit der Kerze in der Hand nach dem Zimmer ihrer Tochter. Sie öffnete leise die Tür, trat herein und sah nach dem Bett. Es war nicht angerührt. Zunächst begriff sie nichts und dachte, das Mädchen spräche vielleicht noch mit seinem Vater. Dann aber stieg plötzlich in ihr ein furchtbarer Verdacht auf und sie eilte zu ihrem Gatten. Blass und keuchend stürzte sie in sein Zimmer. Er lag im Bett und las.
Er war bestürzt.
»Was ist denn? Was ist los?«
Sie stammelte:
»Hast du Suzanne gesehen?«
»Ich? Nein. Wieso?«
»Sie ist … sie ist … sie ist durchgegangen. Sie ist nicht in … in ihrem Zimmer.«
Mit einem Satz sprang er auf den Teppich, schlüpfte in seine Pantoffeln und stürzte ohne Unterhosen, im bloßen Hemd, das um ihn herumflatterte, in das Zimmer seiner Tochter. Sobald er es selbst gesehen hatte, hegte er keinen Zweifel mehr. Sie war entflohen.
Er sank in einen Sessel und stellte die Lampe vor sich auf den Boden hin.
Seine Frau kam nach. Sie stammelte;
»Nun? … Was jetzt? …«
Er hatte keine Kraft mehr zu antworten. Er war nicht mehr wütend, er seufzte nur:
»Es ist erledigt. Er hat sie. Wir sind verloren.«
Sie begriff ihn nicht.
»Wieso verloren?«
»Nun ja. Jetzt muss er sie heiraten.«
Sie stieß einen Schrei aus wie ein wildes Tier.
»Er! Nein, niemals! Bist du wahnsinnig?«
Er antwortete traurig:
»Es nützt nichts, zu schreien. Er hat sie entführt, er hat sie auch sicher entehrt. Das beste, was wir noch tun können, ist, sie ihm zu geben. Wenn wir uns klug verhalten, wird niemand von diesem Streich etwas erfahren.«
Sie war von einer entsetzlichen Erregung erschüttert und wiederholte:
»Niemals, nie soll er Suzanne bekommen. Ich werde nie meine Zustimmung geben.«
Walter murmelte niedergeschmettert:
»Er hat sie doch schon. Er wird sie so lange irgendwo verborgen halten, bis wir nachgeben. Um einem Skandal zu entgehen, muss man sofort nachgeben.«
Von einer entsetzlichen Seelenqual gepeinigt, wiederholte seine Frau immerfort:
»Nein! Nein! Nie gebe ich meine Einwilligung.«
Er fuhr ungeduldig fort:
»Darüber lässt sich nicht mehr streiten. Es muss sein. Ah! Der Halunke, wie hat er uns hereingelegt … Aber er ist stark, trotzdem. Wir hätten einen Mann aus einem viel besseren gesellschaftlichen Kreis finden können, aber keinen mit so viel Verstand und so großen Zukunftsaussichten. Er wird Abgeordneter und Minister.«
Madame Walter erklärte mit einer wilden Energie:
»Niemals lasse ich ihn Suzanne heiraten … verstehst du? … Niemals.«
Er wurde schließlich böse und begann als praktischer Mann den Bel-Ami in Schutz zu nehmen.
»Schweige doch … ich sage dir doch, es muss sein … es muss unbedingt sein. Wer weiß? Vielleicht werden wir es auch gar nicht bedauern. Bei Männern von diesem Schlage weiß man nie, was kommen kann. Du hast ja gesehen, wie er in drei Artikeln den Trottel Laroche-Mathieu gestürzt hat; wie würdig er es getan hat, und dabei war es in seiner Lage als Ehemann so verdammt schwierig und heikel. Wir wollen sehen … Denn wir sitzen immer noch in der Klemme und können nicht heraus.«
Sie hätte am liebsten laut geschrien, sich auf den Boden geworfen, sich die Haare ausgerissen.
»Er bekommt sie nicht«, versetzte sie mit verzweifelter Stimme. »Ich … will … es … nicht.«
Walter stand auf, nahm seine Lampe und fuhr fort:
»Du bist dumm, wie alle Weiber. Ihr handelt immer nur aus Passion, und wisst nie, euch den Verhältnissen anzupassen … ihr seid töricht! Ich sage dir, er wird sie heiraten … es muss so sein.«
Mit den Pantoffeln schlurfend, ging er hinaus. Er durchschritt wie ein komisches Gespenst im Nachthemd den breiten Flur des riesigen schlafenden Palastes und begab sich geräuschlos in sein Zimmer.
Von entsetzlichen Schmerzen innerlich zerrissen blieb Frau Walter zurück. Dabei war ihr noch immer nicht alles klar, sie litt nur. Dann sah sie ein, dass; sie unmöglich hier bis zum Tagesanbruch unbeweglich stehen konnte. Sie empfand ein heftiges Verlangen zu entfliehen, fortzulaufen, Hilfe zu suchen, getröstet zu werden.
Sie suchte, wen sie nun herbeirufen könnte. Welchen Mann? Sie wusste keinen. Einen Priester! Ja, einen Priester! Sie würde sich zu seinen Füßen werfen, sie würde alles gestehen, ihm ihre Sünde und Verzweiflung beichten. Er würde sie verstehen, er würde begreifen, dass dieser Ehrlose Suzanne nicht heiraten könnte, und er würde es zu verhindern wissen.
Sie brauchte sofort einen Priester! Wo sollte man ihn jetzt finden? Wohin sollte sie gehen? Und so bleiben konnte sie nicht mehr.
Da trat ihr wie eine Vision die erleuchtete Gestalt des auf dem Meere wandelnden Jesus vor Augen. Sie sah ihn so klar und deutlich, als stünde sie vor dem Bilde. Er rief sie also! Er sagte zu ihr: »Kommet zu mir, kniet vor mir hin. Ich will euch trösten und auch eingeben, was ihr tun sollt.«
Sie nahm ihr Licht, verließ das Zimmer und ging hinab in den Wintergarten. Das Jesusbild befand sich ganz am Ende desselben in einem kleinen Räume, der mit einer Glastür verschlossen war, damit die Feuchtigkeit der Erde die Leinwand des Gemäldes nicht angreifen könnte.
Das Ganze sah aus wie eine kleine Kapelle in einem Wald von seltsamen Bäumen.
Als sie den Wintergarten betrat, den sie nie anders als nur in heller Beleuchtung gesehen hatte, stand sie betroffen da vor seiner dunklen Tiefe. Die schweren Tropenpflanzen verdickten die Luft mit ihrem schwülen Atem. Und da die Türen geschlossen waren, so drang der beklemmende Duft dieses seltsamen Waldes, der von einer Glaskuppel bedeckt und umschlossen war, schwer und berauschend in die Lungen.
Die unglückselige Frau ging langsam vorwärts; sie blickte ängstlich auf die Schatten der fantastisch geformten Pflanzen, auf die das schimmernde Licht der Kerze fiel, und die wie ungeheuer lebende, seltsame Missgestalten auftauchten.
Plötzlich sah sie Christus. Sie öffnete die Tür, die ihn von ihr trennte, und stürzte auf die Knie.
Zuerst betete sie ganz verstört, stammelte Liebesworte und leidenschaftliche und verzweifelte Beschwörungen, dann wurde sie etwas ruhiger und richtete ihre Augen zu ihm empor, und sie blieb in einer unendlichen Angst erstarrt. Beim flackernden Licht einer einzigen Kerze, die ihn von unten schwach beleuchtete, war die Ähnlichkeit zwischen ihm und Bel-Ami noch auffallender. Es war nicht mehr Gott, sondern ihr Geliebter, der sie ansah. Es waren seine Augen, seine Stirn, sein Gesichtsausdruck, seine kalte und hochmütige Haltung.
Sie stammelte: »Jesus! — Jesus! — Jesus!«
Aber das Wort »Georges« kam über ihre Lippen. Auf einmal fiel ihr ein, dass Georges vielleicht in dieser Stunde ihre Tochter verführte und in Besitz nahm. Er war allein mit ihr, irgendwo, in irgendeinem Zimmer. Er! Er! Mit Suzanne. Sie wiederholte: »Jesus! … Jesus!« Doch sie dachte an sie … an ihre Tochter und an ihren Geliebten! Sie waren allein in einem Zimmer… es war Nacht. Sie sah die beiden. Sie sah sie so deutlich, so deutlich, wie das Bild, das vor ihr stand. Sie lächelten sich zu, sie küssten sich. Das Zimmer war dunkel, das Bett aufgedeckt. Sie stand auf, um sich zu nähern, um ihre Tochter am Haar zu fassen und sie aus dieser Umarmung herauszureißen. Sie wollte sie an der Kehle packen, erwürgen, ihre eigene Tochter, die sie hasste, ihre Tochter, die sich diesem Manne hingab. Sie fasste sie schon. … ihre Hände stießen an die Leinewand des Gemäldes. Sie berührte die Füße Christi … Sie schrie laut auf und sank zu Boden. Die Kerze war umgefallen und erlosch.
Was geschah weiter? Sie träumte lange von seltsamen schrecklichen Dingen. Es war immer Georges und Suzanne, die vor ihre Augen traten, eng aneinander geschmiegt, und der Christus segnete ihre verruchte Liebe.
Sie hatte das Gefühl, sie befinde sich nicht in ihrem Hause. Sie wollte aufstehen, fliehen, doch sie hatte keine Kraft. Eine Starrheit hatte sie befallen, ihre Glieder waren gelähmt, nur die Gedanken blieben ihr noch, wenn auch verwirrt und betört durch grässliche, fantastische Vorstellungen. Sie war halb betäubt und träumte. Es war ein ungesunder, seltsamer und bisweilen tödlicher Traum, den die einschläfernden tropischen Pflanzen mit ihren wundervollen Formen und schwülem Duft in das Menschengehirn eindringen lassen.
Bei Tagesanbruch fand man Frau Walter bewusstlos und halbtot vor dem Christusbild auf dem Rücken ausgestreckt liegen. Sie war so krank, dass man für ihr Leben fürchtete. Erst am Tage darauf kam sie wieder zu vollem Bewusstsein. Dann begann sie zu weinen.
Das Verschwinden Suzannes wurde der Dienerschaft damit erklärt, dass sie plötzlich ins Kloster zurückgeschickt worden sei. Herr Walter antwortete Du Roy auf seinen langen Brief und sagte ihm die Hand seiner Tochter zu.
Bel-Ami hatte seinen Brief in den Postkasten geworfen, in dem Augenblick, wo er Paris verließ, denn er hatte ihn schon am Abend vor der Entführung geschrieben. In respektvollen Ausdrücken teilte er darin mit, dass er seit langem schon das junge Mädchen liebe, dass jedoch nie eine Verabredung zwischen ihnen beiden bestanden hatte, dass er aber, als sie in voller Freiheit zu ihm gekommen war, um ihm zu sagen: »Ich will Ihre Frau sein«, sich für berechtigt hielt, sie zu behalten und sogar zu verbergen, bis er von den Eltern eine Antwort erhalten würde, deren rechtmäßigen Willen er respektiere, aber für weniger maßgebend halte, als den Willen seiner Verlobten selbst.
Er bat Herrn Walter, ihm postlagernd zu antworten; ein Freund würde ihm den Brief übermitteln.
Als er seinen Zweck erreicht hatte, brachte er Suzanne nach Paris und schickte sie zu ihren Eltern zurück; er selbst hielt sich eine Weile von ihnen fern.
Sie hatten sechs Tage an der Seine in La Roche-Guyon verbracht.
Noch nie hatte sich das junge Mädchen so amüsiert. Sie spielte die Bäuerin. Und da er sie als seine Schwester ausgab, so lebten sie ungeniert und keusch nebeneinander, in einer Art verliebter Kameradschaft. Er hielt es für gescheiter, sie nicht anzurühren. Am Tage nach ihrem Eintreffen kaufte sie sich Bauernwäsche und Kleider. Sie angelte und trug dabei auf dem Kopf einen riesigen Strohhut mit Feldblumen. Sie fand die Gegend bezaubernd. Es gab da einen alten Turm und ein altes Schloss, wo man prächtige Wandteppiche zeigte.
Georges trug eine Bauernbluse, die er sich im Dorfe beim Kaufmann erstanden hatte. Er machte mit Suzanne Ausflüge entweder zu Fuß am Fluss entlang, oder im Boot. Sie küssten sich jeden Augenblick. Suzanne in voller Unschuld, er bereit, seiner Begierde zu unterliegen. Doch er nahm sich zusammen, und als er ihr sagte: »Morgen kehren wir nach Paris zurück, Ihr Vater versichert mir Ihre Hand«, da meinte sie ganz naiv:
»Schon, es hat mir so viel Spaß gemacht, Ihre Frau zu sein!«