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Der Kirchhof Montmartre

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Die fünf Freun­de wa­ren mit ih­rem Di­ner zu Ende. Es wa­ren fünf in den bes­ten Jah­ren ste­hen­de Män­ner aus der gu­ten Ge­sell­schaft. Drei von ih­nen wa­ren ver­hei­ra­tet, wäh­rend die zwei üb­ri­gen dem Jung­ge­sel­len­stan­de an­ge­hör­ten. Je­den Mo­nat ka­men sie ein­mal in die­ser Wei­se zu­sam­men, um die Erin­ne­rung an ihre Ju­gend­zeit zu fei­ern und nach dem hei­te­ren Mah­le noch un­ter freund­schaft­li­chem Ge­plau­der bis in die Mor­gen­stun­de hin­ein zu ver­wei­len. Man sprach über dies und Je­nes, über al­les, was Pa­ris be­schäf­tigt und amü­siert; man trieb es hier nicht an­ders, wie in den meis­ten Pa­ri­ser Sa­lons, wo die Un­ter­hal­tung wei­ter Nichts ist, wie eine münd­li­che Wie­der­ga­be des­sen, was man in den Mor­gen­blät­tern ge­le­sen hat.

Ei­ner die­ser Lus­tigs­ten un­ter ih­nen war Jo­seph de Bar­don, ein Jung­ge­sel­le, der das Pa­ri­ser Le­ben so voll­stän­dig und viel­sei­tig wie mög­lich aus­kos­te­te. Er war we­der ein Schwel­ger, noch ein Wüst­ling, aber er hat­te den Wunsch, al­les zu ken­nen, was das Le­ben bot; und die­se Art von Ge­nuss be­rei­te­te ihm eine wirk­li­che Freu­de. Sei­ne vier­zig Jah­re er­laub­ten ihm das üb­ri­gens auch. Ein Welt­mann im wei­tes­ten und bes­ten Sin­ne des Wor­tes, be­sass er viel Witz ohne be­son­de­re Geis­tes­tie­fe, vie­le Kennt­nis­se ohne gründ­li­che Bil­dung, eine schnel­le Auf­fas­sungs­ga­be ohne be­son­de­ren Hang zum Stu­di­um; er wuss­te das, was er bei al­len sei­nen Aben­teu­ern und Er­leb­nis­sen sah und be­ob­ach­te­te, so hübsch zu scherz­haf­ten und gleich­zei­tig tief­sin­ni­gen An­ek­do­ten zu ver­wer­ten und sei­ne Be­trach­tun­gen dar­an zu knüp­fen, dass ihm in der gan­zen Stadt der Ruf ei­nes geist­rei­chen Men­schen ge­zollt wur­de.

Bei ih­ren ge­mein­schaft­li­chen Di­ners war er stets der Fe­st­red­ner. Er hat­te im­mer et­was in Be­reit­schaft und auf ir­gend eine neue Ge­schich­te konn­te man stets bei ihm zäh­len. Er gab sie zum Bes­ten, ohne sich lan­ge bit­ten zu las­sen.

Eine Zi­gar­ret­te rau­chend, die Ell­bo­gen auf den Tisch ge­stützt, auf dem vor ihm ein halb­vol­les Glas »fine Cham­pa­gne« stand, und mit Be­ha­gen den Duft ein­zie­hend, wel­cher sich aus dem aro­ma­ti­schen Ta­bak im Ve­rein mit dem damp­fen­den Kaf­fee ent­wi­ckel­te, schi­en er ganz in sich ge­kehrt, wie es ein­zel­ne Per­so­nen an ge­wis­sen Or­ten und zu ge­wis­sen Zei­ten zu sein pfle­gen.

Zwei Rauch­wol­ken von sich bla­send, sag­te er dann nach ei­ni­gen Mi­nu­ten die­ses brü­ten­den Schwei­gens:

»Mir ist vor ei­ni­ger Zeit eine selt­sa­me Ge­schich­te pas­siert.«

»Er­zäh­le!« tön­te es gleich­zei­tig aus al­ler Mun­de.

»Sehr gern«, ent­geg­ne­te er. »Ihr wisst, dass ich sehr viel in Pa­ris her­umspa­zie­re, wie die Ra­ri­tä­ten­samm­ler, wel­che alle Schau­fens­ter und Lä­den durch­stö­bern. Mich in­ter­es­siert al­les, die Leu­te, das Ge­drän­ge, kurz al­les, was an mir vor­über­geht und al­les, was um mich her­um vor­geht.

Schön! Ei­nes Ta­ges, Mit­te Sep­tem­ber, ver­liess ich, an­ge­lockt durch das herr­li­che Wet­ter, mei­ne Woh­nung, und schlen­der­te zu­nächst plan­los durch die Stras­sen. Man hat stets das un­be­stimm­te Be­dürf­nis, ir­gend ei­ner hüb­schen Dame sei­nen Be­such zu ma­chen. Man durch­stö­bert im Geis­te die gan­ze Rei­he sei­ner Be­kann­ten, ver­gleicht den Reiz der einen und das In­ter­es­se, wel­ches sie uns ein­flösst, mit den Ei­gen­schaf­ten der And­ren, und ent­schei­det sich schliess­lich je nach der Lau­ne, die man an die­sem Tage ge­ra­de hat. Aber wenn die Son­ne so herr­lich scheint und die Luft so mil­de ist, ver­geht ei­nem manch­mal die Lust zu je­dem Be­su­che.

So ging es auch mir da­mals, und ich zün­de­te mir eine Zi­gar­re an, um stumpf­sin­nig dem äus­se­ren Bou­le­vard zu­zu­stre­ben. Dann kam mir, als ich dort spa­zie­ren ging, plötz­lich der Ge­dan­ke, den Kirch­hof auf dem Mont­mar­tre zu be­su­chen.

Ich gehe gern auf einen Kirch­hof; es bringt mir das eine ge­wis­se me­lan­cho­li­sche Ruhe, der ich zu­wei­len be­darf. Und dann hat man ja auch so man­chen gu­ten Freund da, den man im Le­ben nicht wie­der­sieht. Wa­rum soll­te ich also nicht zu­wei­len da­hin ge­hen?

Und ge­ra­de auf den Kirch­hof Mont­mar­tre zieht mich im­mer eine alte Her­zens­ge­schich­te. Dort ruht eine Freun­din von mir, die mich viel ge­quält und viel ge­liebt hat, ein rei­zen­des klei­nes Frau­chen, an die ich oft mit Ver­druss, oft aber auch mit Be­dau­ern … ja mit großem Be­dau­ern … zu­rück­den­ke … Da gehe ich dann, um an ih­rem Gra­be zu träu­men … Sie hat nun aus­ge­lit­ten!

Ich lie­be auch die Kirch­hö­fe, weil sie mir im­mer wie große dicht­be­völ­ker­te Städ­te vor­kom­men. Den­ken Sie nur, wie viel Tote auf die­sem en­gen Rau­me bei ein­an­der lie­gen, den­ken Sie nur an all’ die Ge­ne­ra­tio­nen von Pa­ri­sern, die dort woh­nen, für im­mer woh­nen, rich­ti­ge Höh­len­be­woh­ner, die in ih­ren klei­nen Höh­len da ein­ge­schlos­sen sind, in ih­ren klei­nen durch einen Stein oder ein Kreuz be­zeich­ne­ten Lö­chern hau­sen, wäh­rend die Le­ben­den, die­se To­ren, so viel Raum ein­neh­men und so viel Geräusch von sich ma­chen.

Aus­ser­dem gibt es noch auf den Kirch­hö­fen eben­so in­ter­essan­te Denk­mä­ler wie in den bes­ten Mu­seen. Das Grab­mal Ca­vai­gnac’s gibt mir schon Stoff zum Nach­den­ken, ohne es mit dem Meis­ter­wer­ke Jean Gou­jon’s ver­glei­chen zu wol­len: Dem Bil­de Lud­wigs de Bre­zé, der in der un­ter­ir­di­schen Ka­pel­le der Ka­the­dra­le von Rou­en be­gra­ben liegt. All’ un­se­re so­ge­nann­te mo­der­ne und rea­lis­ti­sche Kun­strich­tung, mei­ne Her­ren, stammt von da­her. Die­ser tote Lud­wig de Bre­zé ist wahr­heits­ge­treu­er, grau­sen­er­re­gen­der, in sei­ner Leb­lo­sig­keit ver­kör­per­ter, durch den Tod ver­zerr­ter, als alle die er­küns­tel­ten Leich­na­me, die man jetzt auf die Grab­denk­mä­ler mei­selt.

Aber auf dem Kirch­hof Mont­mar­tre kann man auch noch das groß­ar­ti­ge Denk­mal Bau­din’s be­wun­dern, fer­ner das­je­ni­ge Gau­thier’s und das­je­ni­ge Mür­ger’s; auf letz­te­rem be­merk­te ich ei­nes Ta­ges einen arm­se­li­gen Kranz aus ver­bli­che­nen Im­mor­tel­len. Wer moch­te ihn ge­bracht ha­ben? Vi­el­leicht die letz­te Gri­set­te, die jetzt, alt und run­ze­lig, ir­gend­wo in der Nähe als Tür­sch­lies­se­rin ihr Le­ben fris­te­te. Das Gan­ze ist eine Sta­tu­et­te, das Werk Mil­let’s, an dem aber Schmutz und Ver­nach­läs­si­gung ihr Zer­stö­rungs­werk ver­rich­ten. O Ju­gend­lied, o Mür­ger!

Hier war ich nun, auf dem Kirch­hof Mont­mar­tre, und plötz­lich um­fing mich Trau­rig­keit, jene Art von Trau­rig­keit, die ei­nem nicht ge­ra­de wehe tut, son­dern die uns mehr zum Nach­den­ken stimmt und bei der wir uns sa­gen, wenn es uns noch wohl geht: »Das ist kein hei­te­rer Ort hier, aber der Au­gen­blick für mich ist noch nicht ge­kom­men …«

Die herbst­li­che Stim­mung, jene laue Feuch­tig­keit, wel­che das Abster­ben der Blät­ter an­kün­digt, und die ab­neh­men­de Kraft der Son­nen­strah­len, die an zu­neh­men­de Schwä­che und schwin­den­des Le­ben er­in­nert, ver­mehr­ten in mir das Ge­fühl der Ein­sam­keit und die Vorah­nung vom Ende al­ler Din­ge, wel­che die­sen Ort um­schwe­ben. Es war, als hör­te man von Wei­tem die Schwin­gen des To­des rau­schen.

Lang­sam schritt ich durch die­se Grä­ber­stras­sen, wo der Nach­bar die Nach­ba­rin nicht kennt, wo je­der für sich schläft und nie­mand mehr eine Zei­tung liest. Ich be­gann die Gra­bin­schrif­ten zu stu­die­ren. Das ist, ne­ben­bei be­merkt, eine der un­ter­hal­tends­ten Be­schäf­ti­gun­gen. Nie­mals habe ich über La­bi­che oder über Meil­hac so herz­lich la­chen müs­sen, wie über die pro­sa­i­sche Ko­mik so man­cher Gra­bin­schrif­ten. Wahr­lich, ihr In­halt ist zwerch­fel­ler­schüt­tern­der, als die Bü­cher Pauls de Kock, wenn er auch nur auf Mar­mor oder Sand­stein ge­schrie­ben ist.

Vor al­lem aber zieht es mich auf die­sem Kirch­hof im­mer nach dem ein­sam lie­gen­den lee­ren Teil, der mit Cy­pres­sen und Ta­xus be­wach­sen ist; dem al­ten Quar­tier der To­ten, das nun bald wie­der neu­be­setzt sein wird, nach­dem man die mit mensch­li­chen Kör­pern ge­nähr­ten Bäu­me nie­der­ge­hau­en hat, um fri­sche Lei­chen un­ter klei­nen Mar­mor­stei­nen der Rei­he nach hier zu bet­ten.

Als ich hier eine Zeit lang ge­weilt und mei­nen Geist wie­der er­frischt hat­te, fühl­te ich das Be­dürf­nis nach et­was An­de­rem und dach­te mir, es sei Zeit, die letz­te Stät­te mei­ner klei­nen Freun­din auf­zu­su­chen. Als ich nahe bei dem Gra­be war, fühl­te ich doch einen Stich im Her­zen. Arme Klei­ne! Sie war so lieb und gut, so duf­tig und frisch … und jetzt! … wenn man das da öff­nen wür­de! …

An das Git­ter ge­lehnt klag­te ich ihr ganz lei­se mein Leid, moch­te sie es ver­ste­hen oder nicht. Schon woll­te ich hier­auf wie­der ge­hen, als ich eine schwarz­ge­klei­de­te Dame be­merk­te, die in tiefer Trau­er an dem nächs­ten Gra­be knie­te. Ihr zu­rück­ge­schla­ge­ner Crê­pe­schlei­er ließ mich einen hüb­schen Blond­kopf ent­de­cken, des­sen Haa­re sich dem nächt­li­chen Schwarz ih­rer Toi­let­te ge­gen­über wie ein Schim­mer des Mor­gen­rots aus­nah­men. Ich blieb noch.

Sie war sicht­lich von tie­fem Kum­mer be­drückt. Das Ge­sicht in den Hän­den be­gra­ben, starr wie eine Bild­säu­le, ganz ver­sun­ken in ih­rem Schmerz, schi­en sie an ih­ren ge­schlos­se­nen und mit den Hän­den be­deck­ten Au­gen eine gan­ze Rei­he qual­vol­ler Erin­ne­run­gen vor­über­zie­hen zu las­sen. Sie selbst glich ei­ner To­ten, die an einen To­ten denkt. Dann er­riet ich plötz­lich, dass sie zu wei­nen be­gann, und zwar er­riet ich es an ei­ner klei­nen Be­we­gung ih­res Rückens, die dem Säu­seln des Win­des in ei­ner Trau­er­wei­de glich. Zu­erst wein­te sie lei­se, dann stär­ker, mit hef­ti­ger Er­schüt­te­rung von Hals und Schul­tern. Sch­liess­lich nahm sie die Hän­de vom Ge­sicht; ihre glän­zen­den Au­gen, wel­che voll Trä­nen wa­ren, ließ sie ei­ner Ir­ren gleich um­her­schwei­fen, wie wenn sie aus ei­nem tie­fen Trau­me er­wach­te. Sie sah, dass ich sie be­ob­ach­te­te und schi­en sich zu schä­men, denn sie ver­barg aufs neue ihr Ge­sicht in den Hän­den. Ihr Schluch­zen wur­de jetzt krampf­haft, und sie neig­te das Haupt auf den kal­ten Mar­mor. Wie sie so ihre Stir­ne dar­an lehn­te und der zu­rück­ge­schla­ge­ne um ih­ren Ober­kör­per wal­len­de Schlei­er die wei­ßen Kan­ten des Grab­mals be­deck­te, sah die­ses aus, als wäre es mit ei­nem neu­en Trau­er­flor um­wun­den. Ich hör­te sie plötz­lich seuf­zen; dann sank sie zu­sam­men und blieb mit dem Ge­sicht auf dem Stein re­gungs­los und ohne Be­wusst­sein lie­gen.


Ich stürz­te zu ihr hin, rieb ihr die Hän­de, hauch­te ihr ins Ge­sicht und las zu­gleich die ein­fa­che Grab­schrift: »Hier ruht Lud­wig Theo­dor Car­rel, Ka­pi­tän der Ma­ri­ne-In­fan­te­rie; er fiel vor dem Fein­de in Ton­kin. Be­tet für ihn.«

Die­ser To­des­fall hat­te sich ei­ni­ge Mo­na­te vor­her zu­ge­tra­gen, wie mir jetzt wie­der ein­fiel. Ich war zu Trä­nen ge­rührt und ver­dop­pel­te mei­ne Be­mü­hun­gen, die schliess­lich auch von Er­folg be­glei­tet wa­ren; sie kam wie­der zu sich. Ich war sehr be­wegt -- bei mei­nen vier­zig Jah­ren habe ich noch ein wei­ches Herz. -- Bei ih­rem ers­ten Au­gen­auf­schlag be­merk­te ich, dass sie mir dank­bar sein wür­de. Sie äus­ser­te denn auch ihre Er­kennt­lich­keit un­ter neu­en Trä­nen­strö­men und er­zähl­te mir stück­wei­se, von häu­fi­gem Schluch­zen un­ter­bro­chen, ihre Ge­schich­te. Der Ka­pi­tän war nach dem ers­ten Jah­re ih­rer Ehe in Ton­kin ge­fal­len; er hat­te sie, die el­tern­lo­se Wai­se, aus Lie­be ge­hei­ra­tet, denn sie be­sass kaum ge­nug, um die vor­ge­schrie­be­ne Kau­ti­on stel­len zu kön­nen.

Ich trös­te­te und be­ru­hig­te sie, ich stütz­te sie und hob sie schliess­lich vom Bo­den auf.

»Blei­ben Sie nicht län­ger hier; kom­men Sie!« sag­te ich dann.

»Ich kann kaum einen Schritt ge­hen«, mur­mel­te sie.

»Ich wer­de Sie stüt­zen.«

»Dan­ke, mein Herr! Sie sind sehr gü­tig. Auch Sie woll­ten ge­wiss einen To­ten hier be­wei­nen?«

»Ja­wohl, Ma­da­me!«

»Eine Tote?«

»Ja, Ma­da­me!«

»Ihre Gat­tin?«

»Nein, eine Freun­din.«

»Man kann eine Freun­din eben­so sehr lie­ben, wie eine Frau; die Nei­gung kennt kein Ge­bot.«

»Das ist wahr, Ma­da­me!«

So gin­gen wir zu­sam­men fort, wo­bei sie sich auf mich stütz­te; in­des­sen trug ich sie mehr über die Wege des Fried­ho­fes, als dass ich sie führ­te. Als wir draus­sen wa­ren, über­fiel sie die Schwä­che von Neu­em.

»Ich fürch­te, mir wird ganz schlecht«, mur­mel­te sie.

»Wol­len Sie ir­gend­wo her­ein­ge­hen und et­was zu sich neh­men?«

»Ach ja, mein Herr!«

Ich be­merk­te in der Nähe ei­nes je­ner Re­stau­rants, wo sich die Leid­tra­gen­den nach be­en­de­tem Be­gräb­nis zu stär­ken pfle­gen. Wir tra­ten ein und ich ließ ihr eine Tas­se heis­sen Tee ge­ben, der sie sicht­lich zu er­qui­cken schi­en; ein flüch­ti­ges Lä­cheln glitt über ihre Lip­pen. Sie sprach mir von ih­rem Le­ben. Es sei so trau­rig, so un­säg­lich trau­rig, ganz al­lein im Le­ben zu ste­hen, ganz al­lein zu woh­nen bei Tag und Nacht, Nie­man­den mehr zu ha­ben, dem man Zärt­lich­keit, Lie­be und Ver­trau­en schen­ken kön­ne.

Das al­les klang so na­tür­lich, so lieb­lich ge­ra­de­zu aus ih­rem Mun­de. Mir wur­de or­dent­lich warm ums Herz. Sie war noch sehr jung, zwan­zig Jah­re viel­leicht. Ich mach­te ihr ei­ni­ge höf­li­che Re­dens­ar­ten, die sie gern an­zu­neh­men schi­en. Dann schlug ich ihr nach Ver­lauf ei­ner Stun­de vor, sie in ei­nem Wa­gen nach Hau­se zu brin­gen, wor­auf sie dank­bar ein­ging. Im Fia­ker sas­sen wir so dicht ne­ben ein­an­der, Schul­ter an Schul­ter, dass ich ihre Kör­per­wär­me durch mei­ne Klei­der hin­durch fühl­te; die sinn­ver­wir­rends­te Emp­fin­dung üb­ri­gens, die ich ken­ne.

Als der Wa­gen vor ih­rem Hau­se hielt, sag­te sie mit schwa­cher Stim­me:

»Ich kom­me al­lei­ne nicht die Trep­pe her­auf, denn ich woh­ne im vier­ten Stock. Sie wa­ren schon so gut; wol­len Sie mich noch bis an mei­ne Tür füh­ren?«

Wer war dazu be­rei­ter wie ich? Sie ging lang­sam, fast bei je­dem Schritt schwer auf­at­mend. Dann sag­te sie, als wir vor ih­rer Tür an­ge­langt wa­ren:

»Tre­ten Sie doch einen Au­gen­blick ein, da­mit ich Ih­nen dan­ken kann.«

Und mei­ner Seel! ich zö­ger­te nicht lan­ge.

Ihre Ein­rich­tung war be­schei­den, so­gar ein we­nig ärm­lich, aber sau­ber und ge­schmack­voll.

Wir setz­ten uns ne­ben­ein­an­der aufs So­pha, und sie sprach aufs Neue von ih­rem ein­sa­men trost­lo­sen Le­ben.

Sie schell­te ih­rem Mäd­chen, um mir et­was zu trin­ken zu be­stel­len; aber es kam nie­mand. Mir war das sehr an­ge­nehm, denn ich sag­te mir, dass die­ses Mäd­chen sie nur des Mor­gens be­dien­te: was man so eine Zu­ge­he­rin nennt.

Sie hat­te ih­ren Hut ab­ge­nom­men und sah wirk­lich al­ler­liebst aus, als sie jetzt ih­ren Blick auf mich rich­te­te. Die­se Au­gen sa­hen mich so scharf, so durch­drin­gend an, dass ich der Ver­su­chung, die ich plötz­lich emp­fand, nach­gab und sie mit bei­den Ar­men um­fing, wäh­rend ich Kuss um Kuss auf ihre jetzt ge­schlos­se­nen Au­gen­li­der drück­te. Ich konn­te mich gar­nicht satt küs­sen, so hat­te der Blick mich be­zau­bert.

Sie wehr­te sich nach Kräf­ten und such­te mich zu­rück­zu­stos­sen, in­dem sie fort­wäh­rend rief:

»Hö­ren Sie auf … ma­chen Sie ein Ende … ma­chen Sie doch ein Ende.«

Was woll­te sie da­mit sa­gen? In ähn­li­chen Fäl­len we­nigs­tens kann das Wort »ein Ende ma­chen« einen dop­pel­ten Sinn ha­ben. Um sie zum Schwei­gen zu brin­gen, drück­te ich jetzt mei­ne Küs­se auf ih­ren Mund, und gab so ih­rem Rufe die Deu­tung, die mir an­ge­neh­mer war. Sie sträub­te sich nicht gar zu sehr, und als wir uns nach die­ser son­der­ba­ren Art, das An­den­ken des in Ton­kin ge­fal­le­nen Ka­pi­täns zu eh­ren, wie­der an­sa­hen, sprach aus ih­ren Au­gen eine hin­ster­ben­de, wi­der­stands­lo­se Zärt­lich­keit, wel­che mei­ne Be­sorg­nis­se zer­streu­te.

Dann wur­de ich wie­der ganz Welt­mann, spiel­te den Lie­bens­wür­di­gen und Un­ter­hal­ten­den. Und nach ei­ner wei­te­ren Stun­de der an­ge­nehms­ten Plau­de­rei er­laub­te ich mir zu fra­gen:

»Wo spei­sen Sie?«

»Na­he­bei, in ei­nem klei­nen Re­stau­rant.«

»Ganz al­lei­ne?«

»Na­tür­lich.«

»Wol­len Sie nicht mit mir zu­sam­men spei­sen?«

»Wo denn?«

»In ei­nem gu­ten Bou­le­vard-Re­stau­rant.«

Sie zö­ger­te noch et­was, aber ich gab nicht nach. Sch­liess­lich wil­lig­te sie ein, in­dem sie sich gleich­sam vor sich selbst ent­schul­dig­te:

»Ich lang­wei­le mich sehr … ach so sehr! -- Je­den­falls muss ich aber eine hel­le­re Toi­let­te an­le­gen«, füg­te sie dann hin­zu.

Und sie ging in ihr Schlaf­zim­mer.

Als sie wie­der her­austrat, war sie in Halb­trau­er, rei­zend, zart und schlank; sie trug eine graue, sehr ein­fa­che Toi­let­te. Je­den­falls stand ihr die­se Ge­sell­schafts-Toi­let­te min­des­tens so gut, wie vor­her das Trau­er-Ko­stüm.

Das Di­ner ver­lief sehr lus­tig. Sie trank Cham­pa­gner, wur­de im­mer auf­ge­räum­ter und zu­tun­li­cher, und schliess­lich kehr­te ich mit ihr wie­der in ihre Woh­nung zu­rück.


Die­ses an den Grab­stät­ten ent­stan­de­ne Ver­hält­nis dau­er­te un­ge­fähr drei Wo­chen. Aber man wird schliess­lich al­les leid, auch die Frau­en. Ich trenn­te mich von ihr un­ter dem Vor­wan­de ei­ner un­auf­schieb­ba­ren Rei­se. Bei mei­nem Ab­schied be­wies ich mich so groß­mü­tig, dass sie des Dan­kes kein Ende fand. Ich muss­te ihr ver­spre­chen, ja schwö­ren, dass ich nach mei­ner Rück­kehr wie­der zu ihr kom­men wür­de; sie schi­en in der Tat et­was in mich ver­liebt zu sein.

Ich un­ter­hielt mich mit an­de­ren Ver­hält­nis­sen und es ver­ging un­ge­fähr ein Mo­nat, ohne dass ich dar­an dach­te, die­se klei­ne Grä­ber-Lieb­schaft wie­der zu er­neu­ern. Ver­ges­sen hat­te ich sie al­ler­dings noch nich … Die Erin­ne­rung an sie ver­folg­te mich wie ein Ge­heim­nis, wie ein psy­cho­lo­gi­sches Rät­sel, wie eine je­ner un­lös­ba­ren Fra­gen, die wir uns un­aus­ge­setzt zu ent­wir­ren quä­len.

Ei­nes Ta­ges hat­te ich das leb­haf­te Ge­fühl, ich weiß selbst nicht warum, dass ich sie auf dem Fried­hof Mont­mar­tre wie­der­fin­den wür­de, und ich be­gab mich kurz ent­schlos­sen dort­hin.

Lang­sam spa­zier­te ich dort her­um, ohne je­mand an­de­res an­zu­tref­fen, als die ge­wöhn­li­chen Be­su­cher die­ser Stät­te, Leu­te, die noch nicht alle Be­zie­hun­gen zu ih­ren To­ten ab­ge­bro­chen ha­ben. Auf dem Gra­be des in Ton­kin ge­fal­le­nen Ka­pi­täns war we­der eine trau­ern­de Dame zu ent­de­cken, noch auch Blu­men oder ein Kranz.

Aber als ich mich ge­ra­de in ein an­de­res Vier­tel die­ser großen To­ten­stadt be­ge­ben woll­te, be­merk­te ich plötz­lich am Ende ei­ner schma­len von Kreu­zen ein­ge­fass­ten Gas­se ein Paar, Herr und Dame, in tiefer Trau­er auf mich zu­kom­men. Wer be­schreibt mein Er­stau­nen, als ich die sich Nä­hern­den er­kann­te? Sie war es!

Als sie mich be­merk­te, wur­de sie feu­er­rot, und als ich sie im Vor­bei­ge­hen streif­te, mach­te sie mir ein klei­nes Zei­chen, ein Zwin­kern mit dem Auge, als ob sie sa­gen woll­te: »Tue nicht, als ob Du mich kenn­test!« aber auch zu­gleich: »Komm bald wie­der mal zu mir, mein Schatz!«

Der Herr sah an­stän­dig vor­nehm und ele­gant aus; er trug das Band der Ehren­le­gi­on im Knopf­loch und moch­te un­ge­fähr fünf­zig Jah­re alt sein.

Er stütz­te sie im Ge­hen, wie ich selbst sie ge­stützt hat­te, als wir zu­sam­men den Kirch­hof ver­lies­sen.

Ganz ver­blüfft ging ich von dan­nen und frag­te mich nach al­lem dem ver­geb­lich, zu wel­cher Sor­te von Men­schen wohl die­se Kirch­hof-Pflan­ze ge­hö­ren möch­te. War es ein­fach eine Dir­ne, eine fin­di­ge Don­na, die ihre Kun­den an den Grä­bern un­ter Män­nern such­te, die noch um eine Frau, eine Braut oder eine Freun­din trau­ern und die ver­schwun­de­nen Lie­bes­freu­den noch nicht ver­ges­sen kön­nen? War sie die ein­zi­ge? Gibt es de­ren meh­re­re? Etwa eine gan­ze Zunft? Treibt man es jetzt auf den Kirch­hö­fen wie auf der Gas­se? Ach! so­gar die Grä­ber! Oder war sie viel­mehr doch die Ein­zi­ge ge­we­sen, die die­se wun­der­ba­re Idee aus­ge­heckt hat­te und mit schlau­em Ver­ständ­nis den Schmerz über ver­lo­re­nes Lie­bes­glück aus­beu­te­te, der hier an die­ser Stät­te un­will­kür­lich neu er­wacht?

Ei­nes hät­te ich al­ler­dings noch gern er­fah­ren mö­gen, näm­lich: »Wes­sen Wit­we sie wohl an je­nem Abend ge­spielt hat.«

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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