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II.

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Ma­da­me hat­te einen Bru­der, der in ih­rer Hei­mat, Vir­ville im Eure-De­par­te­ment, als Tisch­ler eta­bliert war, und des­sen Toch­ter sie, als ihr noch das Gast­haus zu Yve­tot ge­hör­te, über die Tau­fe ge­hal­ten hat­te. Das Kind hiess Con­stan­ze, Con­stan­ze Ri­vet; sie selbst war vä­ter­li­cher­seits eine Ri­vet. Der Tisch­ler, der die gu­ten Ver­hält­nis­se sei­ner Schwes­ter kann­te, hat­te sie nicht aus den Au­gen ver­lo­ren, ob­gleich sie sich nicht oft sa­hen, da je­des durch sein Ge­schäft ge­bun­den war und sie aus­ser­dem ziem­lich weit von­ein­an­der wohn­ten. Als aber sei­ne Toch­ter das zwölf­te Jahr er­reich­te und zum ers­ten Male zur Kom­mu­ni­on ge­hen soll­te, be­nutz­te der Tisch­ler die­se Ge­le­gen­heit der Wie­deran­nä­he­rung und schrieb sei­ner Schwes­ter, er zäh­le bei der Fei­er­lich­keit auf ihre Ge­gen­wart. Die Gro­ß­el­tern wa­ren tot, sie konn­te es ih­rer Nich­te nicht ab­schla­gen und nahm also an. Ihr Bru­der Jo­seph hoff­te, mit al­ler­lei Lie­bens­wür­dig­keit bei die­ser Ge­le­gen­heit die Er­rich­tung ei­nes Te­sta­ments zu Guns­ten sei­ner Toch­ter zu er­zie­len, da Ma­da­me kei­ne Kin­der hat­te.

Das Ge­wer­be sei­ner Schwes­ter mach­te ihm kei­ner­lei Be­den­ken und im Üb­ri­gen wuss­te auf dem Lan­de nie­mand et­was da­von; »Ma­da­me Tel­lier ist Bür­ge­rin von Fe­camp,« hiess es ein­fach mit ei­nem ge­wis­sen Bei­ge­schmack, als lebe sie von ih­ren Ren­ten. Von Fe­camp bis Vir­ville wa­ren min­des­tens zwan­zig Mei­len We­ges, und zwan­zig Mei­len über Land dünkt dem Bau­er min­des­tens eben­so weit, wie dem Städ­ter eine Fahrt über den Ozean. Die Be­woh­ner wa­ren nie­mals über Rou­en her­aus­ge­kom­men, und um­ge­kehrt gab es nichts, was die Be­woh­ner Fe­camps nach ei­nem klei­nen Dörf­chen von fünf­hun­dert See­len her­aus­ge­lockt hät­te, des­sen Lage mit­ten im fla­chen Lan­de durch­aus nichts An­zie­hen­des bot, ganz ab­ge­se­hen da­von, dass es zu ei­nem an­de­ren De­par­te­ment ge­hör­te. Mit ei­nem Wort: Man wuss­te Nichts.

Als aber die Zeit der Kom­mu­ni­on her­an­nah­te, be­fand sich Ma­da­me in großer Ver­le­gen­heit. Sie hat­te kei­ne Wirt­schaf­te­rin und ge­trau­te sich nicht, ihr Haus auch nur einen Tag al­lein zu las­sen. Alle al­ten Zän­ke­rei­en zwi­schen den »Da­men« von oben und de­nen von un­ten wä­ren un­fehl­bar aufs Neue zum Aus­bruch ge­kom­men; so­dann hät­te sich Fried­rich ohne Zwei­fel be­trun­ken und wenn er be­trun­ken war, schlug er um ei­nes Au­gen­zwin­kerns hal­ber die Leu­te nie­der. So ent­schloss sie sich schliess­lich, ihr ge­sam­tes Per­so­nal mit her­aus zu neh­men bis auf Fried­rich, der bis zum über­nächs­ten Tage Ur­laub er­hielt.

Der Bru­der hat­te nichts ein­zu­wen­den als sie ihm des­halb schrieb und nahm es auf sich, die gan­ze Ge­sell­schaft für eine Nacht un­ter­zu­brin­gen. So führ­te denn der Eil­zug am Sams­tag Mor­gen um acht Uhr Ma­da­me und die Ih­ri­gen in ei­nem Wa­gen­ab­teil zwei­ter Klas­se von dan­nen.

Bis Beu­ze­ville fuh­ren sie al­lein und scha­cker­ten zu­sam­men wie die Els­tern; hier aber stieg ein Paar ein. Der Mann, ein al­ter Land­mann in blau­er Blou­se mit Um­schlag­kra­gen, brei­ten an den Faust­ge­len­ken zu­sam­men­ge­schnür­ten und mit klei­ner wei­ßer Sti­cke­rei ver­zier­ten Är­meln, auf dem Kop­fe einen ho­hen alt­mo­di­schen Hut, des­sen fuch­si­ges Haar ganz bors­tig schi­en, trug in der einen Hand einen un­ge­heu­ren grü­nen Re­gen­schirm und in der an­de­ren einen mäch­ti­gen Korb, aus dem die be­stürz­ten Köp­fe drei­er En­ten her­aus­lug­ten. Die Frau in ih­rer stei­fen länd­li­chen Tracht hat­te mit ih­rer Nase wie ein Schna­bel das Aus­se­hen ei­ner Hen­ne. Sie setz­te sich ih­rem Man­ne ge­gen­über und rühr­te sich nicht; of­fen­bar fühl­te sie sich in so hüb­scher Ge­sell­schaft aus­ser­or­dent­lich ver­le­gen.

Und in der Tat wirk­te die Far­ben­pracht, die sich in die­sem Wa­gen­ab­teil ent­wi­ckel­te, ge­ra­de­zu blen­dend. Ma­da­me trug sich blau, von oben bis un­ten in blau­er Sei­de, und dar­über einen grell­ro­ten blen­den­den Shawl aus falschem fran­zö­si­schen Kasch­mir. Fer­n­an­de er­stick­te fast in ei­ner schot­ti­schen Robe, de­ren Tail­le nur un­ter Auf­bie­tung al­ler Kräf­te von ih­ren Ge­fähr­tin­nen zu­ge­schnürt war und nun ihre straf­fen Kör­per­for­men in zwei­fa­cher Wöl­bung her­vor­tre­ten ließ. Die­sel­ben wog­ten un­ter der Klei­dung hin und her, als be­stän­den sie aus ei­ner flüs­si­gen Mas­se.

Ra­phae­le trug zu ih­rer fe­der­ge­schmück­ten Fri­sur, die das Aus­se­hen ei­nes Vo­gel­nes­tes hat­te, ein gold­ge­stick­tes Lila-Ko­stüm und ei­ni­gen ori­en­ta­li­schen Schmuck, der sehr gut zu ih­rer jü­di­schen Phy­sio­gno­mie pass­te.

Rosa la Ros­se, hat­te die Far­be ih­res Na­mens für ihre, mit brei­ten Vo­lants ver­se­he­ne Robe ge­wählt; sie sah aus wie ein zu star­kes Kind, wie ein fett­lei­bi­ger Zwerg un­ge­fähr. Die bei­den »Feu­er­sprit­zen« schie­nen ih­ren selt­sa­men Auf­putz aus al­ten Fens­ter­vor­hän­gen aus­ge­sucht zu ha­ben, die mit ih­rem Ran­ken­werk an das Re­stau­rant er­in­ner­ten.

So­bald die Da­men sich nicht mehr al­lein im Coupé be­fan­den, nah­men sie eine sehr ge­mes­se­ne Mie­ne an und spra­chen nur noch von erns­ten Din­gen, um einen gu­ten Ein­druck zu ma­chen. Aber in Bol­bec er­schi­en noch ein Herr mit blon­dem Ko­te­let­ten­bart, Rin­gen an den Fin­gern und ei­ner gol­de­nen Ket­te auf der Wes­te, der ver­schie­de­ne in Wachs­tuch gehüll­te Packe­te auf das Netz über ihm leg­te. Sein Äus­se­res ließ auf einen wit­zi­gen und gut­mü­ti­gen Men­schen schlies­sen. Er grüss­te beim Ein­stei­gen und frag­te mit leich­ten Lä­cheln: »Die Da­men wech­seln wohl die Gar­ni­son?« Die­se Fra­ge setz­te die klei­ne Ge­sell­schaft in eine pein­li­che Ver­le­gen­heit, nur Ma­da­me be­wahr­te ihre Fas­sung und ent­geg­ne­te spit­zig, um die Ehre ih­res Korps zu ret­ten: »Sie könn­ten wohl höf­li­cher sein.« Er ent­schul­dig­te sich: »Bit­te sehr um Ver­zei­hung, ich woll­te sa­gen: das Klos­ter.« Ma­da­me fand ent­we­der so­gleich kei­ne Ant­wort, oder sie moch­te auch sei­ne Recht­fer­ti­gung für hin­rei­chend hal­ten, denn sie neig­te wür­de­voll das Haupt und schwieg. Hier­auf be­gann der Herr, wel­cher zwi­schen Rosa und dem al­ten Land­mann Platz ge­nom­men hat­te, den drei En­ten, de­ren Köp­fe aus dem großen Kor­be her­vor­schau­ten, mit den Au­gen zu­zu­zwin­kern. Und als er merk­te, dass er schon die Auf­merk­sam­keit der Rei­se­ge­sell­schaft auf sich zog, kit­zel­te er die ar­men Tie­re un­term Schna­bel und hielt ih­nen da­bei scherz­haf­te An­re­den, um die Zu­hö­rer zum La­chen zu brin­gen: »Wir ha­ben un­se­re net­te klei­ne Pfüt­ze ver­las­sen! Aan! Aan! Aan! -- um die klei­ne net­te Brat­pfan­ne ken­nen zu ler­nen! Aan! Aan! Aan!« Die un­glück­li­chen Tie­re ver­dreh­ten den Hals, um den un­will­kom­me­nen Lieb­ko­sun­gen zu ent­ge­hen und mach­ten ver­zwei­fel­te An­stren­gun­gen, sich aus ih­rem Ge­fäng­nis zu be­frei­en. Dann sties­sen end­lich alle drei ein lau­tes We­he­ge­schrei aus: »Aan! Aan! Aan!« Die gan­ze Da­men­ge­sell­schaft brach in lau­tes Ge­läch­ter aus. Sie beug­ten sich vor und dräng­ten sich um bes­ser zu se­hen; es war ja auch zu när­risch mit die­sen En­ten. Der Herr ver­dop­pel­te sei­ne Lie­bens­wür­dig­keit, sei­nen Witz und sei­ne Ne­cke­rei­en.

Rosa woll­te sich be­tei­li­gen und in­dem sie sich über die Knie ih­res Nach­barn her­über­beug­te, küss­te sie die drei Tie­re auf den Schna­bel. Nun woll­te na­tür­lich jede an­de­re es eben­so ma­chen und der Herr ließ sie sich auf sei­ne Knie set­zen, schau­kel­te und kneip­te sie; dann duz­te er sie plötz­lich.

Die bei­den Land­leu­te wa­ren noch er­staun­ter, wie ihre Vö­gel; sie roll­ten die Au­gen wie be­ses­sen, wag­ten aber kein Wort zu sa­gen, und kein Lä­cheln, kein Zu­cken stahl sich über ihre run­ze­li­gen Ge­sich­ter.

Der Herr, sei­nes Zei­chens Ge­schäfts­rei­sen­der, bot jetzt zum Scherz den Da­men Ho­sen­trä­ger an, und öff­ne­te ei­nes der Packe­te, das er aus dem Netz nahm. In Wirk­lich­keit ent­hielt es Strumpf­bän­der.

Da gab es wel­che in blau­er, in rosa, in ro­ter, vio­let­ter, grau­er und ro­sen­ro­ter Sei­de, mit Me­tall­ver­schluss, aus zwei ver­gol­de­ten, sich küs­sen­den Amors her­ge­stellt. Die Mäd­chen jauchz­ten vor Ver­gnü­gen und prüf­ten die Mus­ter, ganz hin­ge­ris­sen von der Neu­gier­de, die jede Frau beim An­blick ei­nes Toi­let­te­ge­gen­stan­des emp­fin­det. Sie wink­ten sich mit den Au­gen, flüs­ter­ten sich ein­zel­ne Wor­te ins Ohr und Ma­da­me be­tas­te­te mit Wohl­ge­fal­len ein paar oran­gen­far­be­ne Strumpf­bän­der, die viel brei­ter und an­sehn­li­cher als die üb­ri­gen wa­ren; rich­ti­ge ech­te Strumpf­bän­der für eine »Ma­da­me.«

Der Herr sah war­tend zu; eine neue Idee war in ihm auf­ge­taucht. »Vor­wärts, mei­ne Kätz­chen,« sag­te er, »nun pro­biert sie an.« Das gab ein lau­tes Ge­schrei; sie press­ten ihre Rö­cke zwi­schen den Kni­en, als be­fürch­te­ten sie einen Ge­walt­streich. Er war­te­te in­des­sen ru­hig den rich­ti­gen Au­gen­blick ab: »Ihr wollt nicht, gut, dann kann ich wie­der ein­pa­cken,« Sch­liess­lich sag­te er: »Ich bie­te den­je­ni­gen ein Paar zur Aus­wahl an, die sie hier an­pro­bie­ren.« Aber sie gin­gen nicht dar­auf ein, und hiel­ten sich sehr wür­de­voll zu­rück. Die bei­den »Feu­er­sprit­zen« in­dess mach­ten ein so be­trüb­tes Ge­sicht, dass er ih­nen ge­gen­über sei­nen Vor­schlag er­neu­er­te. Schau­kel-Flo­ra vor al­lem schi­en, von leb­haf­ter Be­gier­de ge­sta­chelt, sicht­lich zu schwan­ken. »Geh doch, Mäd­chen!« dräng­te er sie, »hab nur et­was Mut; sieh nur die­ses Lila Paar müss­te herr­lich zu Dei­ner Toi­let­te pas­sen.« Da war es aus, und Flo­ra hob die Klei­der und zeig­te das di­cke, not­dürf­tig in einen gro­ben Strumpf ge­zwäng­te Bein ei­ner Kuh­magd. Der Herr beug­te sich nie­der und ver­schloss das Strumpf­band zu­erst un­ter dem Knie, dann über dem­sel­ben, wo­bei er das Mäd­chen lei­se kit­zel­te, was sie zu klei­nen Schre­ckens­schrei­en und plötz­li­chem Zu­sam­men­zu­cken ver­an­lass­te. Als er fer­tig war, gab er ihr das lila Paar und frag­te:


»Wer ist jetzt dran?«

»Ich, ich,« rie­fen alle auf ein­mal.

Er be­gann mit Rosa, wel­che ein run­des un­förm­li­ches Ding zeig­te, bei dem man nicht ein­mal die Knö­chel mehr sah, eine rich­ti­ge »Wurst von ei­nem Bein« wie Ra­phae­le sag­te. Fer­n­an­de wur­de von dem Kom­mis be­glück­wünscht, der von ih­ren mäch­ti­gen Stem­peln ganz ent­zückt war; die ma­ge­ren Stö­cke der schö­nen Jü­din da­ge­gen fan­den we­ni­ger sei­nen Bei­fall. Loui­se Co­co­te be­deck­te scher­zes­hal­ber den Kopf des Herrn mit ih­rem Rock; Ma­da­me schritt aber so­fort ein, um die­se un­ziem­li­che Spie­le­rei zu be­en­den. Sch­liess­lich bot sie selbst ihm ihr Bein hin, ein schö­nes wohl­pro­por­tio­nier­tes und mus­ku­lö­ses Nor­man­nier-Bein; der Rei­sen­de war so über­rascht und ent­zückt, dass er sei­nen Hut lüf­te­te um mit echt fran­zö­si­scher Galan­te­rie die­se Mus­ter­wa­de zu be­grüs­sen.

Die bei­den Land­leu­te wag­ten, starr vor Schre­cken, nur mit ei­nem Auge hin zu bli­cken und sie gli­chen so voll­stän­dig Hüh­nern, die auf dem Nes­te hocken, dass der Rei­sen­de, als er wie­der auf­stand, ih­nen ein lau­tes »Ki-ke-ri-ki« ins Ge­sicht kräh­te, was na­tür­lich ein neu­es stür­mi­sches Ge­läch­ter her­vor­rief.

In Mot­te­ville stie­gen die bei­den Al­ten mit ih­rem Kor­be, ih­ren En­ten und ih­rem mäch­ti­gen Re­gen­schir­me aus und man konn­te noch hö­ren, wie die Frau zu ih­rem Man­ne sag­te; »Das sind al­les die Fol­gen von die­sem Teu­fels-Pa­ris«.

Der lie­bens­wür­di­ge Ge­schäfts­rei­sen­de stieg erst in Rou­en aus, nach­dem er in­zwi­schen noch so zu­dring­lich ge­wor­den war, dass Ma­da­me sich ge­zwun­gen sah, ihn ener­gisch auf sei­nen Sitz zu­rück­zu­drücken.

»Das soll uns leh­ren, uns noch­mals mit dem ers­ten bes­ten in ein Ge­spräch ein­zu­las­sen«, füg­te sie mit mo­ra­li­scher Ent­rüs­tung hin­zu.

In Ois­sel muss­te man um­stei­gen und ei­ni­ge Sta­tio­nen wei­ter stand Herr Jo­seph Ri­vet auf dem Per­ron, um sie zu er­war­ten. Er hat­te eine große mit Stüh­len be­setz­te Kar­re mit­ge­bracht, vor der ein Schim­mel ge­spannt war.

Der Tisch­ler küss­te höf­lich sämt­li­che Da­men und führ­te sie zu sei­nem Ge­spann, wo er ih­nen beim Auf­stei­gen be­hilf­lich war. Drei setz­ten sich auf die hin­te­ren Stüh­le, Ra­phae­le, Ma­da­me und ihr Bru­der nah­men auf den drei vor­de­ren Plät­zen und Rosa, für die sich kein Sitz mehr vor­fand, muss­te sich wohl oder übel auf den Kni­en der großen Fer­n­an­de nie­der­las­sen; so ging nun die Fahrt los. Aber bald wur­de der Wa­gen durch den kur­z­en Trab des Klep­pers der­ar­tig zu­sam­men­ge­rüt­telt, dass die Stüh­le zu tan­zen an­fin­gen und die Rei­sen­den nach al­len Sei­ten her­um­flo­gen; sie be­weg­ten sich wie Ham­pel­män­ner, schnit­ten jäm­mer­li­che Ge­sich­ter und lies­sen bei je­dem neu­en Sto­ss einen Schrei des Schre­ckens hö­ren. Trotz­dem sie sich krampf­haft an den Sei­ten des Wa­gens fest­hiel­ten rutsch­ten ih­nen die Hüte bald ins Ge­sicht, bald in den Na­cken. Da­bei trab­te der Schim­mel mit vor­ge­streck­tem Kop­fe lus­tig wei­ter, den Schwanz, einen klei­nen dün­nen Rat­ten­schwanz, mit dem er sich von Zeit zu Zeit die Flan­ken schlug, nach rechts ge­dreht. Jo­seph Ri­vet stemm­te das eine Bein auf die Deich­sel, das an­de­re hat­te er un­ter ge­schla­gen und hielt die Zü­gel mit hoch­ge­zo­ge­nen El­len­bo­gen. Von Zeit zu Zeit ließ er einen schnal­zen­den Ton hö­ren, wor­auf das Pferd die Ohren spitz­te und sei­ne Gan­gart be­schleu­nig­te.

Zu bei­den Sei­ten der Stras­se zeig­ten die Fel­der sich im saf­ti­gen Grün. Der blü­hen­de Raps bil­de­te hin und wie­der große gel­be wo­gen­de Strei­fen, von de­nen ein star­ker ge­sun­der Duft auf­stieg, der mild und zu­gleich durch­drin­gend, vom Win­de weit­hin ge­tra­gen wur­de. In dem schon ziem­lich hoch­ste­hen­den Kor­ne zeig­ten sich die azur­blau­en Köp­fe der Korn­blu­men, wel­che die Mäd­chen gar zu gern ge­pflückt hät­ten; aber Ri­vet woll­te nicht hal­ten. Dann sah man plötz­lich ein Feld, wel­ches mit Blut be­sä­et schi­en, so sehr hat­ten die Klat­schro­sen es über­wu­chert. Und wei­ter durch die­se bun­ten blu­mi­gen Fel­der trab­te der Schim­mel mit dem Wa­gen, der selbst ein Blu­men­bou­quet mit noch grel­le­ren Far­ben zu tra­gen schi­en, ver­schwand un­ter den großen Bäu­men ei­nes Ge­höf­tes um jen­seits des Ge­bü­sches wie­der auf­zut­au­chen, und die­se bun­te Frau­en­last aufs neue bei gel­ben Raps­fel­dern und grü­nen blau­rot ge­blüm­ten Saa­ten vor­bei­zu­füh­ren.

Die Son­ne brann­te heiss vom Him­mel und al­les at­me­te er­leich­tert auf, als man um ein Uhr die Be­hau­sung des Tisch­lers er­reicht hat­te.

Die Rei­sen­den wa­ren wie ge­rä­dert und blass von Hun­ger, denn seit der Ab­fahrt von Fe­camp hat­ten sie noch Nichts wie­der zu sich ge­nom­men.

Frau Ri­vet stürz­te ei­lig her­bei, half beim Aus­s­tei­gen und küss­te eine nach der an­de­ren, so­bald sie auf der Erde stan­den; sie hör­te nicht auf, die Schwä­ge­rin ab­zu­schmat­zen die sie sich mit Ge­walt zur Freun­din ma­chen woll­te. Man ass in der Werk­statt, die man für das Fest­mahl des fol­gen­den Ta­ges be­reits aus­ge­räumt hat­te.

Eine schmack­haf­te Ome­let­te, wel­che auf eine Brat­wurst folg­te und mit gu­tem pri­ckeln­den Ci­der ge­würzt wur­de, gab al­len die fro­he Stim­mung wie­der. Ri­vet schenk­te fleis­sig ein und sei­ne Frau war­te­te auf, be­sorg­te die Kü­che, reich­te die Schüs­seln und trug sie wie­der fort, nicht ohne je­dem Ein­zel­nen zu­zu­flüs­tern, ob auch al­les nach Wunsch wäre.

An der Wand stan­den frisch­ge­ho­bel­te Bret­ter und die Späh­ne wa­ren noch in der Ecke auf­ge­schich­tet; sie ver­brei­te­ten einen aus­ge­spro­che­nen Ge­ruch, je­nen ech­ten har­zi­gen Duft ei­ner Tisch­ler­werk­statt, der bis in die Lun­gen dringt.

Man frag­te nach der Klei­nen; aber sie war in der Kir­che und konn­te vor Abend nicht zu­rück sein.

Dann brach die gan­ze Ge­sell­schaft auf, um einen Gang im Frei­en zu ma­chen.

Durch das klei­ne Dörf­chen führ­te eine Haupt­stras­se, an der ei­ni­ge zwan­zig Häu­ser la­gen, wel­che die Ge­schäfts­leu­te des Or­tes, den Flei­scher, den Krä­mer, den Tisch­ler, den Kaf­fee­wirt, den Schus­ter und den Bä­cker in Nah­rung setz­ten. Die Kir­che am Ende der Stras­se war von ei­nem schma­len Kirch­hof um­ge­ben; vier Lin­den, vor dem Ein­gang hin­ge­pflanzt über­schat­te­ten sie ganz. Sie war aus be­haue­nem Bruch­stein ohne je­den Styl auf­ge­führt und trug auf dem Schie­fer­dach einen Glo­cken­stuhl. Hin­ter ihr be­gann sich das wei­te Feld aus­zu­deh­nen, auf wel­chem der Blick nur hin und wie­der ein­zel­ne Baum­grup­pen traf, un­ter de­nen Bau­ern­häu­ser ver­steckt la­gen.

Ri­vet hat­te ganz ze­re­mo­ni­ell den Arm sei­ner Schwes­ter ge­nom­men und führ­te sie mit kö­nig­li­chem An­stan­de her­um, ob­gleich er in Werk­tags­klei­dern war. Sei­ne Frau, der es die gold­ge­stick­te Toi­let­te Ra­phaëlens an­ge­tan hat­te, ging zwi­schen die­ser und Fer­n­an­de. Die rund­li­che Rosa trip­pel­te hin­ter­her mit Loui­se Co­co­te und Schau­kel-Flo­ra, wel­che vor Mü­dig­keit mehr als je hin­k­te.

Die Haus­be­woh­ner eil­ten an die Tü­ren, die Kin­der un­ter­bra­chen ihre Spie­le, eine Gar­di­ne wur­de in die Höhe ge­zo­gen und ließ einen Kopf un­ter ei­ner kat­tu­ne­nen Müt­ze se­hen; ein halb­blin­des al­tes Müt­ter­chen an Krücken be­kreuz­te sich, wie vor ei­ner Pro­zes­si­on und al­les ver­folg­te mit den Bli­cken lan­ge die schö­nen Stadt­da­men, die zur ers­ten Kom­mu­ni­on der klei­nen Ri­vet so weit her­ge­kom­men wa­ren. Der Tisch­ler wuchs je­den­falls un­ge­heu­er in ih­rer Ach­tung.

Als sie bei der Kir­che vor­bei­ka­men, hör­ten sie den Ge­sang der Kin­der, es war ein ein­fa­ches Lied, das aus den jun­gen Keh­len zum Him­mel schall­te. Ma­da­me war in­des­sen da­ge­gen, dass man her­ein­ging, da­mit die klei­nen Che­ru­bi­ne nicht ge­stört wür­den.

Nach ei­nem Rund­gang über die Fel­der, bei wel­chem Jo­seph Ri­vet de­ren Haup­tei­gen­schaft, die Er­trags­fä­hig­keit des Bo­dens, und die Re­sul­ta­te sei­ner Vieh­zucht ge­prie­sen hat­te, führ­te er sei­ne »Da­men« ins Haus zu­rück und zeig­te ih­nen ihr Quar­tier.

Da der Platz sehr be­schränkt war, so hat­te man sie zu zwei und zwei in ei­nem Rau­me un­ter­ge­bracht.

Ri­vet soll­te dies­mal auf den Ho­bel­späh­nen in der Werk­statt schla­fen, wäh­rend sei­ne Frau das Bett mit ih­rer Schwä­ge­rin tei­len wür­de, und im Zim­mer da­ne­ben Fer­n­an­de und Ra­phaële zu­sam­men haus­ten. Für Loui­se und Flo­ra hat­te man auf dem Bo­den der Kü­che Ma­trat­zen ge­legt und Rosa schlief für sich al­lein in ei­nem klei­nen dunklen Rau­me ober­halb der Trep­pe, dem ge­gen­über sich der Ein­gang zu ei­nem en­gen Ver­schla­ge be­fand, in wel­chem die­se Nacht die Kom­mu­ni­kan­tin schlief.

Als das jun­ge Mäd­chen zu­rück­kam, reg­ne­te es ge­ra­de­zu Küs­se auf sie, denn alle Weibs­bil­der woll­ten ihr mit dem­sel­ben Hang zur Zärt­lich­keit, mit der­sel­ben ge­wohn­heits­mäs­si­gen Schön­tue­rei ihre Lie­be be­wei­sen, mit der sie am Mor­gen in der Bahn die En­ten ge­küsst hat­ten. Im Über­mas­se au­gen­blick­li­cher hef­ti­ger Zärt­lich­keit nahm sie jede auf den Schoss, strich mit den Hän­den über ihr fei­nes blon­des Haar, und schloss sie in ihre Arme. Das gute lie­be Kind, noch ganz un­ter dem Ein­dru­cke der eben ab­ge­leg­ten Beich­te und in from­mer an­dachts­vol­ler Stim­mung, er­trug mit Ge­duld und Sanft­mut die­se über­schweng­li­chen Lieb­ko­sun­gen.

Nach den An­stren­gun­gen, die der Tag für alle ge­habt hat­te, ging man bald nach dem Es­sen schla­fen. Das klei­ne Dorf lag bald in je­nem tie­fen, fast wei­he­vol­len Schwei­gen, wel­ches auf dem Lan­de so ernst und fei­er­lich un­ter dem Ster­nen­him­mel das Herz zur An­dacht stimmt. Die Mäd­chen, an die ge­räusch­vol­len Aben­de ei­nes öf­fent­li­chen Hau­ses ge­wöhnt, wa­ren durch die­se stil­le Ruhe ei­nes Abends auf dem Lan­de ei­gen­tüm­lich be­wegt und schlie­fen un­ter selt­sa­men Schau­ern ein; es war nicht Käl­te, die dies her­vor­rief, son­dern das Ge­fühl der Ein­sam­keit, das ein un­ru­hi­ges und ver­wirr­tes Herz so leicht be­schleicht.

So­bald sie so zu Zwei­en im Bett la­gen, rück­ten sie eng an­ein­an­der, als woll­ten sie sich ge­gen das Ein­drin­gen der tie­fen Ruhe wah­ren, wel­che die Erde be­fan­gen hielt. Aber Rosa, die in ih­rem dunklen Rau­me ganz al­lein lag, was sie doch sonst so gar nicht ge­wohnt war, fühl­te sich von selt­sa­men, ängst­li­chen Ge­füh­len be­wegt. Sie wälz­te sich schlaf­los auf ih­rem La­ger her­um als sie plötz­lich hin­ter dem Holz­ver­schla­ge ihr ge­gen­über ängst­li­ches Wim­mern, wie das Wei­nen ei­nes Kin­des hör­te. Sie rief mit lei­ser Stim­me, wer da sei. Eben­so lei­se ant­wor­te­te ihr schluch­zend die klei­ne Toch­ter Ri­vets, wel­che bis­her ge­wohnt war im Zim­mer ih­rer Mut­ter zu schla­fen und jetzt in ih­rem en­gen Ver­schla­ge eine furcht­ba­re Angst aus­stand.

Rosa stand von Mit­leid be­wegt auf und ging lei­se, um nie­mand zu we­cken zu dem Kin­de her­über. Sie hol­te es in ihr war­mes Bett, drück­te es un­ter zärt­li­chen Umar­mun­gen an sich und schlä­fer­te es mit ih­ren stür­mi­schen Lieb­ko­sun­gen ein, wor­auf sie selbst ru­hi­ger wur­de und end­lich den Schlaf fand. Bis zum Mor­gen ruh­te das Ge­sicht der Kom­mu­ni­kan­tin an der blos­sen Schul­ter der Pro­sti­tu­ier­ten.

Seit fünf Uhr, der Stun­de des »An­ge­lus«, läu­te­te die klei­ne Glo­cke der Kir­che mit al­ler Kraft und weck­te schliess­lich alle die­se Da­men auf, wel­che ge­wohnt wa­ren bis in den ho­hen Tag hin­ein zu schla­fen, um die Er­ho­lung von an­stren­gen­den Näch­ten zu fin­den.

Die Leu­te im Dor­fe wa­ren schon auf. Die Frau­en gin­gen ge­schäf­tig an die Hau­stü­ren und plau­der­ten über die Stras­se her­über mit der Nach­ba­rin; die eine brach­te vor­sich­tig einen Mous­se­lin­rock, der steif wie Pap­pe ge­stärkt war, die an­de­re trug eine Ker­ze von un­ge­heu­rer Di­men­si­on um die in der Mit­te eine sei­de­ne Schlei­fe mit Gold­fran­sen ge­knöpft war und an de­ren un­te­rem Ende Ver­tie­fun­gen zum Hal­ten an­ge­bracht wa­ren. Die Son­ne stand schon hoch am blau­en Him­mel, des­sen äus­sers­ter Rand noch einen ro­si­gen Schim­mer als letz­te Spur des Mor­gen­ro­tes hat­te. Zahl­rei­che Hüh­ner­völ­ker trip­pel­ten vor ih­ren Stäl­len um­her, und hin und wie­der er­hob ein schwar­zer schil­lern­der Hahn den rot­käm­mi­gen Kopf, schlug die Flü­gel und schmet­ter­te sei­nen Mor­gen­ruf in die Luft, dem dann sämt­li­che Häh­ne ant­wor­te­ten.

Wa­gen und Kar­ren fuh­ren vor und brach­ten aus den be­nach­bar­ten Ge­mein­den die hoch­ge­wach­se­nen Nor­mann­in­nen in schwar­zen Klei­dern, das Hals­tuch auf der Brust zu­sam­men­ge­knüpft und mit ei­ner ur­al­ten sil­ber­nen Schnal­le fest­ge­hal­ten. Die Män­ner hat­ten über dem neu­mo­di­schen Über­zie­her oder auf dem al­ten grü­nen Tuch­rock mit tief her­ab­hän­gen­den Schös­sen den blau­en Kit­tel ge­zo­gen.

Als die Pfer­de im Stal­le wa­ren, sah man längs der gan­zen Haupt­stras­se eine dop­pel­te Rei­he von länd­li­chen Fahr­zeu­gen je­der Form und je­den Al­ters, Kar­ren, Ca­brio­lets, Til­bu­rys, Bank­wa­gen, die ent­we­der vorn­über ge­kippt wa­ren, oder auch hin­ten­über ge­stürzt die Deich­sel in die Luft streck­ten.

Im Hau­se des Tisch­lers ging es wie in ei­nem Bie­nen­sto­cke zu. Die »Da­men« in Rock und Leib­chen, mit lo­sen Haa­ren, die so dünn und kurz wa­ren, als wä­ren sie vor der Zeit welk und dürr ge­wor­den, wa­ren mit der Toi­let­te des Kin­des be­schäf­tigt.

Die Klei­ne stand auf ei­nem Tisch und rühr­te sich nicht, wäh­rend Ma­da­me Tel­lier die Ar­bei­ten ih­rer flie­gen­den Schar lei­te­te. Man wusch und putz­te sie, man fri­sier­te sie, und zog sie mit Zu­hil­fe­nah­me zahl­lo­ser Steck­na­deln an, man ord­ne­te die Fal­ten des Klei­des, steck­te die viel zu wei­te Tail­le en­ger, kurz man such­te sie so ele­gant wie mög­lich aus­zu­staf­fie­ren. Dann als man hier­mit fer­tig war, hiess man das arme Op­fer­lamm sich auf einen Stuhl set­zen und mög­lichst re­gungs­los blei­ben; wor­auf die leb­haf­te Ge­sell­schaft an ihre ei­ge­ne Toi­let­te eil­te.

Auf der klei­nen Kir­che be­gann es von Neu­em zu läu­ten. Der wim­mern­de Ton der Glo­cke ver­lor sich in der Luft, wie eine schwa­che Stim­me, die in ei­nem wei­ten Rau­me ver­hallt.

Die Kom­mu­nion­kin­der eil­ten aus den Tü­ren der Häu­ser auf das Ge­mein­de­haus zu, wel­ches die bei­den Schu­len und die Mai­rie ent­hielt und an ei­nem Ende des Dor­fes lag, wäh­rend man das »Got­tes­haus« am an­de­ren Ende er­rich­tet hat­te.

Die El­tern folg­ten ih­ren Klei­nen in fest­li­cher Klei­dung und mit je­ner lin­ki­schen und un­ge­schick­ten Hal­tung, wie sie sich ein an har­te Ar­beit ge­wöhn­ter Kör­per an­eig­net. Die klei­nen Mäd­chen ver­schwan­den in Wol­ken von weißem Tüll, der sie wie ge­schla­ge­ner Schaum um­gab, wäh­rend die klei­nen Bur­schen, die mit ih­rem fri­sier­ten wohl­pomma­di­sier­ten Haup­te wie Pic­co­los aus­sa­hen, beim Ge­hen die Bei­ne mög­lichst weit von­ein­an­der spreiz­ten, um nur ja die neue schwar­ze Hose nicht zu be­schmut­zen.

Es war für jede Fa­mi­lie ein be­sond­rer Stolz, wenn mög­lichst vie­le An­ge­hö­ri­ge auch von wei­ter her das Kind be­glei­te­ten: der Tri­umph des Tisch­lers war in die­ser Fra­ge also un­be­strit­ten. Das gan­ze Re­gi­ment Tel­lier, die Pa­tro­nin an der Spit­ze, be­glei­te­ten Kon­stan­ze; der Va­ter führ­te sei­ne Schwes­ter, die Mut­ter folg­te mit Ra­phaële, Fer­n­an­de mit Rosa, und schliess­lich ka­men die bei­den »Feu­er­sprit­zen.« So stol­zier­te man ma­je­stä­tisch da­hin wie ein Re­gi­ments-Stab in großer Uni­form.

Der Ein­druck auf die Dorf­be­woh­ner war ge­ra­de­zu ver­blüf­fend.

Bei der Schu­le stell­ten sich die Mäd­chen un­ter Lei­tung ei­ner Schwes­ter auf; die Kna­ben wur­den von dem Schul­meis­ter ge­ord­net, ei­nem an­sehn­li­chen hüb­schen Men­schen. So setz­te sich der Zug un­ter An­stim­mung ei­nes Lie­des in Be­we­gung.

Die Kna­ben an der Spit­ze ging es durch die dop­pel­te Rei­he der aus­ge­spann­ten Wa­gen hin­durch; den Kna­ben folg­ten die Mäd­chen, und da man den Da­men aus der Stadt re­spekt­vollst den Vor­tritt ge­las­sen hat­te, so ka­men die­se, eben­falls paar­wei­se ge­hend, dreie rechts und dreie links, un­mit­tel­bar hin­ter den Klei­nen in die Kir­che.

Ihre Toi­let­ten er­weck­ten den Ein­druck ei­nes Bril­lant-Feu­er­werks und ihr Ein­tritt in die Kir­che rief eine große Sen­sa­ti­on her­vor. Man schob und dräng­te sich, wand­te die Köp­fe und stiess sich, um sie nur se­hen zu kön­nen. Die An­däch­ti­gen spra­chen bei­na­he laut, hin­ge­ris­sen von der Pracht die­ser Da­men, wel­che die der Kir­chen­ge­wän­der fast über­traf. Der Maire bot ih­nen so­fort sei­ne Bank, die ers­te rechts hin­term Cho­re, an, und Ma­da­me Tel­lier nahm mit ih­rer Schwä­ge­rin Fer­n­an­de und Ra­phaële dar­in Platz; Rosa und die bei­den Feu­er­sprit­zen be­setz­ten in Ge­mein­schaft mit dem Tisch­ler die nächs­te.

Der Chor der Kir­che war mit kni­en­den Kin­dern, die Kna­ben rechts, die Mäd­chen links, an­ge­füllt; und die lan­gen Ker­zen, wel­che sie in Hän­den hiel­ten, sa­hen wie em­por­ge­streck­te Lan­zen aus.

Vor dem Chor­pult stan­den drei Män­ner und san­gen mit vol­ler Stim­me, wo­bei sie die Sil­ben des la­tei­ni­schen Tex­tes end­los ver­län­ger­ten und das »A« im »Amen« furcht­bar hin­aus­zo­gen, von der Or­gel hier­in aufs Bes­te un­ter­stützt. Eine hel­le Kin­der­stim­me gab die Ant­wort, und von Zeit zu Zeit er­hob sich ein Geist­li­cher, der mit dem vier­e­cki­gen Bar­rett be­deckt im Chor­stuh­le sass, be­te­te eine Re­ci­ta­ti­on, wor­auf dann die drei Män­ner, nach­dem er sich ge­setzt hat­te, wie­der an­ho­ben, den Blick starr auf das vor ih­nen auf­ge­schla­ge­ne Chor­buch hef­tend, das von den aus­ge­brei­te­ten Flü­geln ei­nes auf ei­nem Ge­stell be­fes­tig­ten höl­zer­nen Ad­lers ge­hal­ten wur­de.

Hier­auf trat eine fei­er­li­che Stil­le ein. Alle An­we­sen­den san­ken auf die Knie und es er­schi­en der Pfar­rer, ein ehr­wür­di­ger Greis mit wei­ßen Haa­ren, das Ant­litz auf den Kelch ge­beugt, den er in der lin­ken Hand trug. Vor ihm gin­gen die bei­den Mess­die­ner in ro­ten Chor­rö­cken und hin­ter ihm folg­te eine An­zahl Sän­ger in wei­ßen Rö­cheln, die sich zu bei­den Sei­ten des Chors ver­teil­ten.

Der Ton ei­nes klei­nen Glöck­leins un­ter­brach jetzt die laut­lo­se Stil­le; der Got­tes­dienst be­gann. Nach­dem der Pries­ter lang­sam vor den ver­gol­de­ten Ta­ber­na­kel hin­ge­tre­ten war und dort eine Knie­beu­gung ge­macht hat­te, trat er an die Al­tar­stu­fen zu­rück und be­te­te mit sei­ner hei­se­ren al­ters­schwa­chen Stim­me den In­tro­itus. So­bald er den­sel­ben be­en­det und wie­der zum Al­tar her­auf­ge­stie­gen war, fie­len Chor­sän­ger und Or­gel gleich­zei­tig ein, und auch die Leu­te in der Kir­che san­gen mit; ihre Stim­men wa­ren et­was ge­dämpf­ter, we­ni­ger laut als die der Ers­te­ren.

Dann hör­te man wie­der das »Ky­rie elei­son« des Pries­ters, dem alle An­däch­ti­gen mit Mund und Her­zen folg­ten. Die gan­ze Ge­mein­de sang so laut und in­brüns­tig mit, dass eine Wol­ke von Staub und Mör­tel­stück­chen sich in Fol­ge der mäch­ti­gen Schall­wel­len an dem al­ten mor­schen Ge­wöl­be er­hob. Die Son­ne brann­te heiss auf die klei­ne Kir­che, in der all­mäh­lich eine dump­fe Stick­luft zu herr­schen be­gann. Eine tie­fe Be­we­gung, eine ängst­li­che Span­nung auf das na­hen­de hei­li­ge Ge­heim­nis be­mäch­tig­te sich der Kin­der­her­zen und schnür­te die Keh­len der Müt­ter zu­sam­men.

Der Pries­ter schritt nun mit ent­blöss­tem, im Glan­ze der Sil­ber­haa­re schim­mern­den Haup­te an die rech­te Sei­te des Al­tars und schick­te sich mit zit­tern­den Hän­den an, die hei­li­ge Op­fe­rung zu be­ge­hen.

Dann wand­te er sich zu den Gläu­bi­gen und sprach, die Hän­de zu ih­nen aus­stre­ckend: »Ora­te fra­tres« -- »be­tet, mei­ne Brü­der«, wor­auf die Stil­le ei­nes laut­lo­sen Ge­be­tes der gan­zen Ge­mein­de folg­te. Nach dem Sank­tus be­gann dann wie­der das Still­ge­bet in je­nem fei­er­li­chen an­dachts­vol­len Schwei­gen, wel­ches die Her­zen auf die ei­gent­li­che ge­heim­nis­vol­le Fei­er vor­be­rei­tet. Ein Glöck­chen­zei­chen des Mess­die­ners rief eine all­ge­mei­ne Be­we­gung her­vor; je­der such­te sei­nem Kör­per auch äus­ser­lich die in­ne­re de­muts­vol­le Er­war­tung auf­zu­drücken. Jetzt sprach der Pries­ter mit halb­lau­ter Stim­me in klei­nen Ab­sät­zen die Ver­wand­lungs­wor­te, drei­mal schlug das Glöck­chen an und ein je­der klopf­te an­däch­tig an sei­ne Brust, Gott voll In­brunst an­be­tend. Über den Kin­dern lag es wie eine Wol­ke schau­er­vol­ler Wei­he.

In die­sem fei­er­li­chen Au­gen­bli­cke er­in­ner­te sich Rosa plötz­lich ih­rer Mut­ter, der Kir­che ih­res Dor­fes und ih­rer ei­ge­nen ers­ten Kom­mu­ni­on. Sie ver­setz­te sich im Geis­te an je­nen Tag zu­rück, wo sie, noch eben­so klein und un­schul­dig, ganz in ih­rem wei­ßen Klei­de ver­hüllt war, und fing an zu wei­nen. Erst wein­te sie lei­se; lang­sam dran­gen die Trä­nen aus ih­ren Wim­pern. Dann aber wuchs ihre Be­we­gung mit ih­ren Erin­ne­run­gen, und schliess­lich schluchz­te sie laut, den Kopf tief ge­beugt mit hef­tig wo­gen­der Brust. Sie hat­te ihr Ta­schen­tuch her­vor­ge­zo­gen, sie wisch­te sich die Au­gen, schnupf­te sich und press­te den Mund auf das Tuch, um nicht auf­zu­schrei­en, al­lein es half al­les nichts. Eine Art Rö­cheln drang aus ih­rer Keh­le und wur­de von zwei herz­zer­reis­sen­den Seuf­zern rechts und links be­ant­wor­tet; denn Loui­se und Flo­ra, von den­sel­ben Erin­ne­run­gen an die fer­ne Ju­gend­zeit er­grif­fen, seufz­ten eben­falls un­ter strö­men­den Trä­nen.

Das wirk­te an­ste­ckend, und Ma­da­me fühl­te, dass auch ihre Au­gen­li­der feucht wur­den; als sie sich zu ih­rer Schwä­ge­rin um­wand­te, sah sie, dass die gan­ze Bank wein­te.

Der Pries­ter zeig­te den Leib des Herrn und die Kin­der ver­gas­sen, in ah­nungs­vol­ler Ban­ge auf die Knie ge­sun­ken, al­les rings um sie her. In der Kir­che zog bald hier bald dort eine Frau, eine Mut­ter, eine Schwes­ter, hin­ge­ris­sen von der ei­ge­nen Be­we­gung oder viel­leicht auch durch das Bei­spiel der kni­en­den frem­den Da­men, die un­auf­hör­lich seufz­ten und schluchz­ten, ihr groß­kar­rier­tes kat­tu­ne­nes Ta­schen­tuch, die Lin­ke fest an das hef­tig po­chen­de Herz pres­send.

Wie ein Fun­ke, der eine dür­re Gras­flä­che in Brand setzt, so hat­ten die Trä­nen Ro­sas und ih­rer Ge­fähr­tin­nen mit ei­nem Male auf die gan­ze Men­ge ge­wirkt. Män­ner und Frau­en, Grei­se und Jüng­lin­ge, fast al­les wein­te, und et­was Über­mensch­li­ches, der Hauch ei­ner See­le, der wun­der­ba­re Odem ei­nes un­sicht­ba­ren all­mäch­ti­gen We­sens schi­en über ih­nen zu schwe­ben.

Jetzt hör­te man in der Kir­che einen lei­sen kur­z­en Schlag wi­der­hal­len: Die Schwes­ter gab das Zei­chen zum Be­ginn der Kom­mu­ni­on, in­dem sie mit dem Rücken des Fin­gers an ihr Ge­bet­buch klopf­te, und von himm­li­schen Schau­ern be­wegt nä­her­ten sich die Kin­der dem Ti­sche des Herrn.

Die ers­te Rei­he knie­te nie­der. Der alte Pfar­rer, das ver­gol­de­te sil­ber­ne Ci­bo­ri­um in der Hand, trat zu je­dem ein­zel­nen her­an und bot ihm zwi­schen sei­nen zwei Fin­gern die ge­weih­te Hos­tie, den Leib des Herrn und Er­lö­sers. Sie öff­ne­ten krampf­haft den Mund mit ei­ner Art ner­vö­sem Zit­tern, die Au­gen in An­dacht ge­schlos­sen, bleich vor Er­re­gung, und das Kom­mu­ni­on­tuch un­ter ih­rem Kinn be­weg­te sich wie wo­gen­des Was­ser.

Eine Art von Ver­zückung brach in der Kir­che aus, man hör­te das Geräusch der er­grif­fe­nen Men­ge, das wo­gen­de Schluch­zen wie un­ter­drück­tes Schrei­en. Es war wie das Säu­seln des Win­des in den Kro­nen der Bäu­me. Un­be­weg­lich, eine Hos­tie in der Hand, stand der grei­se Pries­ter, tief er­grif­fen, einen Au­gen­blick da: »Das ist Gott, Gott, der sei­ne Ge­gen­wart un­ter uns be­kun­det, der auf mei­nen Ruf zu sei­nem kni­en­den Vol­ke her­ab­steigt«, so wog­te es in sei­nem Her­zen, und halb­ver­zückt mur­mel­te er ein wort­lo­ses Ge­bet, das Ge­bet ei­ner See­le, die den Him­mel of­fen zu se­hen glaubt.


Er vollen­de­te die Spen­dung der hei­li­gen Hos­tie mit sol­cher Glau­bens-In­brunst, dass ihm die Knie zit­ter­ten, und nach­dem er selbst das Blut des Herrn ge­trun­ken, er­goss sich sein Herz in ei­nem stil­len heis­sen Dank­ge­bet.

Die Ge­mein­de hin­ter ihm be­ru­hig­te sich erst all­mäh­lich. Die Sän­ger in ih­ren wei­ßen Chor­hem­den be­gan­nen mit un­si­che­rer noch et­was vi­brie­ren­der Stim­me aufs Neue ih­ren Ge­sang, und selbst die Or­gel klang et­was hei­ser, als habe auch sie sich der Trä­nen nicht er­weh­ren kön­nen.

Als der Pries­ter die Hän­de hob, brach sie ihr Spiel ab, und der ehr­wür­di­ge Greis schritt nun zwi­schen den zwei Grup­pen glück­strah­len­der Kin­der hin­durch bis an die Chor­bank vor.

Die Gläu­bi­gen hat­ten sich ge­setzt, und durch die gan­ze Kir­che hör­te man das Rücken der Bän­ke und das lau­te Geräusch noch­mals ge­brauch­ter Ta­schen­tü­cher. Dann trat fei­er­li­che Stil­le ein, und mit tiefer ver­schlei­er­ter Stim­me, et­was sto­ckend, be­gann der Pries­ter:

»Mei­ne teu­ren Brü­der! Mei­ne teu­ren Schwes­tern! Lie­be Kin­der! Ich dan­ke Euch aus gan­zem Her­zen, dass Ihr mir die schöns­te Freu­de mei­nes Le­bens be­rei­tet habt. Ich habe es emp­fun­den, dass Gott selbst auf mein Fle­hen zu Euch her­ab­ge­stie­gen ist. Er selbst ist ge­kom­men, um mit sei­ner Ge­gen­wart un­ter uns zu wei­len, die See­len zu er­fül­len und die Au­gen über­quel­len zu ma­chen. Ich bin der äl­tes­te Pries­ter der Di­öce­se, aber ich bin auch heu­te der glück­lichs­te der­sel­ben. Ein Wun­der hat sich un­ter uns er­eig­net, ein wahr­haf­ti­ges großes er­ha­be­nes Wun­der. Wäh­rend Je­sus Chris­tus zum ers­ten Male von den See­len die­ser Klei­nen Be­sitz nahm, um dar­in zu woh­nen, hat sich der Hei­li­ge Geist, die Him­mel­stau­be, der Odem Got­tes auf Euch her­ab­ge­las­sen, hat sich Eu­rer Her­zen be­mäch­tigt, hat sie um­fan­gen und um­säu­selt wie der lin­de Mor­gen­wind den blü­hen­den Ro­sen­stock.« Sich dann mit kla­re­rer Stim­me zu den bei­den ers­ten Bän­ken wen­dend, in de­nen die Gäs­te des Tisch­lers sas­sen, fuhr er fort: »Dank vor al­lem Euch, mei­ne lie­ben Schwes­tern, die Ihr so weit her­ge­kom­men seid, und de­ren An­we­sen­heit un­ter uns, de­ren sicht­ba­rer Glau­be, de­ren leb­haf­te An­dacht uns Al­len ein so heil­sa­mes Bei­spiel ga­ben. Ihr wa­ret die Er­bau­ung mei­ner Ge­mein­de, Eure Be­we­gung hat ihre Her­zen mit ent­zün­det; ohne Euch hät­te die­ser große Tag viel­leicht nie­mals die­sen wahr­haft er­ha­be­nen Ver­lauf ge­nom­men. Ge­nügt doch oft ein ein­zel­nes aus­er­wähl­tes Lamm, dass der Herr zur gan­zen Her­de sich her­ab­las­se.«

Die Stim­me ver­sag­te ihm. »Ich wün­sche Euch Al­len Got­tes reichs­ten Se­gen. Amen«, füg­te er noch hin­zu. Und er stieg wie­der zum Al­tar em­por, um die hei­li­ge Hand­lung zu vollen­den.

Als der Pries­ter zur Sa­kris­tei schritt, be­eil­te sich al­les her­aus­zu­kom­men. Die Kin­der so­gar wa­ren un­ru­hig, nach­dem die Span­nung ih­res Geis­tes et­was nach­ge­las­sen hat­te; und aus­ser­dem be­gan­nen sie auch hung­rig zu wer­den. Ein­zel­ne Müt­ter hat­ten sich schon vor dem letz­ten Evan­ge­li­um ent­fernt, um die Vor­be­rei­tun­gen zum Mit­ta­ges­sen zu tref­fen.

War das ein Ge­drän­ge an der Kir­chen­tür! ein lär­men­des Ge­drän­ge, ein Stim­men­ge­wo­ge in der sin­gen­den nor­man­ni­schen Mund­art. Sch­liess­lich bil­de­ten sich zwei Hau­fen, um die Kin­der durch­zu­las­sen, und als die­se end­lich er­schie­nen, wur­de ein je­des so­fort von sei­ner Fa­mi­lie mit Be­schlag be­legt.

Con­stan­ze war na­tür­lich gleich her­aus­ge­holt, um­ringt und von der gan­zen weib­li­chen Schar um­armt und ge­küsst; be­son­ders Rosa hör­te nicht auf, sie stets von Neu­em an ihre Brust zu drücken. Sch­liess­lich nahm sie das Kind an der einen Hand, Ma­da­me Tel­lier er­griff Con­stan­zens an­de­re, Ra­phaële und Fer­n­an­de fass­ten den Zip­fel sei­ner lan­gen Mous­se­lin-Schlep­pe, da­mit sie nicht stau­big wür­de, Loui­se und Flo­ra folg­ten mit Ma­da­me Ri­vet; und so ging nun das Kind, noch ganz durch­drun­gen und er­grif­fen von dem ho­hen Ge­heim­nis­se, des­sen es vor Kur­zem ge­wür­digt war, in­mit­ten die­ser Ehren­be­glei­tung dem el­ter­li­chen Hau­se zu.

Das Fest­mahl fand in der Werk­statt an lan­gen Bret­tern statt, die man über zwei Bö­cke ge­legt hat­te.

Durch die of­fe­ne Tür, wel­che auf die Stras­se führ­te, drang die fröh­li­che Stim­mung des gan­zen Dor­fes her­ein. Durch je­des Fens­ter konn­te man fest­lich ge­klei­de­te Men­schen bei der Ta­fel sit­zen se­hen, und lau­tes La­chen und Scher­zen war über­all ver­nehm­lich. Die Bau­ern in Hemds­är­meln tran­ken den Ci­der aus vol­len Glä­sern, und in­mit­ten ei­ner je­den Ge­sell­schaft be­merk­te man zwei Kin­der, bald Kna­ben, bald Mäd­chen, die mit ih­rer Fa­mi­lie als die Ge­fei­er­ten des Ta­ges das Fest­mahl ein­nah­men.

Hin und wie­der fuhr ein Bau­ern­wa­gen, von ei­ner al­ten Mäh­re ge­zo­gen, in lang­sa­men Tra­be durch das Dorf, auf wel­ches die Mit­tags­son­ne ihre bren­nen­den Strah­len her­ab­sand­te, und der Mann im Kit­tel, der ihn lenk­te, warf einen nei­di­schen Blick auf alle die­se Herr­lich­kei­ten.

In der Be­hau­sung des Tisch­lers hielt sich die Fest­freu­de in ge­mes­se­nen Gren­zen; eine Nach­we­he der be­weg­ten Stim­mung in der Kir­che. Nur Ri­vet war im bes­ten Zuge und trank über Ge­bühr. Ma­da­me Tel­lier schau­te alle Au­gen­bli­cke auf die Uhr, denn man muss­te den 4 Uhr-Zug, der sie abends nach Fe­camp brach­te, er­rei­chen, um das Haus nicht zwei Tage hin­ter­ein­an­der leer ste­hen zu las­sen.

Der Tisch­ler gab sich alle Mühe, sei­nen Be­such um­zu­stim­men und bis zum and­ren Mor­gen da­zu­be­hal­ten, aber Ma­da­me war un­er­bitt­lich. In Ge­schäftssa­chen pfleg­te sie nicht zu spa­ßen.

So­bald man den Kaf­fee ge­nom­men hat­te, be­fahl sie ih­ren Pen­sio­nä­rin­nen, sich schnell be­reit zu ma­chen; dann wand­te sie sich an ih­ren Bru­der und bat ihn, nur rasch an­zu­span­nen, wor­auf sie selbst ihre letz­ten Vor­be­rei­tun­gen vollen­de­te.

Als sie wie­der her­un­ter kam, war­te­te schon ihre Schwä­ge­rin auf sie, um mit ihr von der Toch­ter zu spre­chen; in­des­sen kam bei der gan­zen Un­ter­re­dung nichts Be­stimm­tes her­aus. Die Bäue­rin, wel­che das Ver­geb­li­che ih­rer Be­mü­hun­gen ein­sah, hör­te schliess­lich auf; Ma­da­me Tel­lier, auf de­ren Schoss das Kind sass, ver­pflich­te­te sich zu nichts und mach­te nur al­ler­hand lee­re Ver­spre­chun­gen: Man wür­de sie nicht ver­ges­sen, es habe ja noch Zeit und üb­ri­gens wer­de man sich bald wie­der se­hen.

Der Wa­gen fuhr in­des­sen nicht vor und die Mäd­chen ka­men nicht her­un­ter. Man hör­te so­gar von oben lau­tes Ge­läch­ter, Stamp­fen, ein­zel­ne Schreie und leb­haf­tes Hän­de­klat­schen. Wäh­rend die Frau des Tisch­lers zum Stall ging, um nach dem Wa­gen zu se­hen, stieg Ma­da­me schleu­nigst die Trep­pe wie­der her­auf.

Ri­vet, sehr er­regt und in sehr man­gel­haf­ter Toi­let­te, such­te, wenn auch ver­geb­lich, Rosa, die vor La­chen er­stick­te, in sei­ne Ge­walt zu be­kom­men. Die bei­den Feu­er­sprit­zen hiel­ten ihn an den Ar­men zu­rück und such­ten ihn zu be­ru­hi­gen, ab­ge­stos­sen von ei­nem sol­chen Be­neh­men nach der erns­ten Fei­er des Ta­ges, wäh­rend Ra­phaële und Fer­n­an­de ihn er­mun­ter­ten und sich vor La­chen die Sei­ten hiel­ten. Bei je­dem sei­ner nutz­lo­sen Ver­su­che kreisch­ten sie laut auf vor Ver­gnü­gen. Der Mann war ganz aus­ser sich; mit hoch­ro­tem Kopf, fast ohne jede Be­klei­dung such­te er ver­geb­lich un­ter Auf­bie­tung al­ler Kräf­te die bei­den Mäd­chen, die sich an ihn klam­mer­ten, los zu wer­den und sich Ro­sas zu be­mäch­ti­gen, in­dem er hef­tig her­vors­tiess: »Du willst nicht, Du Schlan­ge?« -- Aber schon stürz­te Ma­da­me voll Ent­rüs­tung her­bei, fass­te ih­ren Bru­der an den Schul­tern und warf ihn so hef­tig aus dem Zim­mer, dass er an die Wand tau­mel­te.

Ei­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter hör­te man schon, wie er sich am Brun­nen im Hofe den Kopf wusch; und als er bald dar­auf mit dem Wa­gen er­schi­en, war er wie­der ganz nüch­tern.

Man fuhr in der­sel­ben Wei­se fort wie tags zu­vor, und der klei­ne Schim­mel be­weg­te sich in dem­sel­ben leb­haf­ten und schau­keln­den Tem­po.

Trotz der war­men Son­ne er­wach­te jetzt die wäh­rend des Mah­les ge­dämpft ge­we­se­ne Mun­ter­keit. Den Mäd­chen mach­ten jetzt die Sprün­ge des Wa­gens Freu­de, sie sties­sen selbst an die Stüh­le ih­rer Nach­ba­rin­nen, und bra­chen bei der Erin­ne­rung an Ri­vet’s ver­geb­li­che An­stren­gun­gen je­des Mal wie­der in ein lau­tes Ge­läch­ter aus.

Auf den Flu­ren lag eine Luft, die zur Aus­ge­las­sen­heit reiz­te, eine Luft, die ei­nem vor den Au­gen tanz­te; un­ter den Rä­dern stie­gen zwei mäch­ti­ge Staub­wol­ken her­vor, die lan­ge Zeit hin­ter dem Wa­gen her­lie­fen, wie zwei über­mü­ti­ge Clowns.

Fer­n­an­de, eine große Mu­sik­freun­din, bat plötz­lich Rosa, et­was zu sin­gen; die­se ließ sich das nicht zwei­mal sa­gen und woll­te eben das Lied: »Der di­cke Pfar­rer von Meu­don« an­stim­men, als Ma­da­me ihr so­fort Schwei­gen ge­bot. Sie hielt den Text des Lie­des für den heu­ti­gen Tag nicht pas­send und sag­te: »Sing uns lie­ber et­was von Beran­ger.« -- Rosa sann einen Au­gen­blick nach und hob dann mit ih­rer et­was ver­ros­te­ten Stim­me die »Groß­mut­ter« an:

Groß­müt­ter­chen hat­te am Na­mens­fest kaum

Zwei Schlück­chen vom Wein nur ge­nippt;

Da sprach sie und nickt mit dem Kopf wie im Traum:

»Wie hab’ ich doch einst viel ge­liebt!


Doch ver­dorrt ist der Arm,

So ro­sig und warm:

Und ver­welkt ist das Herz,

Nur ge­blie­ben der Schmerz.«

Und von Ma­da­me selbst ge­lei­tet, fiel der Cho­rus der Mäd­chen ein:

»Doch ver­dorrt ist der Arm,

So ro­sig und warm;

Und ver­welkt ist das Herz,

Nur ge­blie­ben der Schmerz.«

»Herr­lich! präch­tig!« rief Ri­vet, den der Schluss­vers hin­ge­ris­sen hat­te; Rosa fuhr in­des­sen fort:

Wie? Müt­ter­chen! also auch Du warst nicht brav?

»Nein, Kind­chen, nicht ein­mal im Schlaf.

Wie konnt’ es auch sein, denn mit fünf­zehn Jah­ren,

Da hat­t’ ich ge­nug von der Lie­b’ schon er­fah­ren.«

Alle zu­sam­men gröhlten den Re­frain, und Ri­vet trat mit dem Fus­se auf der Deich­sel den Takt und schlug ihn gleich­zei­tig mit den Zü­geln auf dem Rücken des Schim­mels. Die­ser war selbst gleich­sam von der Me­lo­die des Lie­des an­ge­feu­ert und setz­te sich in flot­ten Ga­lopp, in Fol­ge des­sen die Da­men von ih­ren Sit­zen flo­gen und sich in ei­nem bun­ten Hau­fen auf dem Bo­den des Wa­gens wälz­ten.


Sie er­ho­ben sich un­ter aus­ge­las­se­nem Ge­läch­ter und brüll­ten von Neu­em aus vol­lem Hal­se ihr Lied übers Feld, auf des­sen rei­fen­de Früch­te die Son­ne ihre sen­gen­den Strah­len sand­te. Der Schim­mel nahm bei je­der Wie­der­ho­lung einen neu­en Ga­lopp-An­lauf, was den In­sas­sen des Ge­fähr­tes eine un­bän­di­ge Freu­de mach­te.

Hin und wie­der wand­te sich ein Stein­klop­fer nach ih­nen um und be­trach­te­te durch das Draht­netz sei­ner Schutz­bril­le die­ses heu­len­de Fahr­zeug, das durch den wir­beln­den Staub da­hin­ras­te.

Der Tisch­ler war sehr un­zu­frie­den, als man in die Nähe des Bahn­ho­fes kam.

»Scha­de, dass Ihr fort­müsst« sag­te er, »wir hät­ten uns herr­lich amü­siert.«

»Je­des Ding zu sei­ner Zeit,« ant­wor­te­te Ma­da­me über­le­gen »man kann sich nicht im­mer nur amü­sie­ren.«

Da kam Ri­vet auf eine gute Idee: »Höre, ich wer­de Euch nächs­ten Mo­nat in Fe­camp be­su­chen« sag­te er, Rosa mit ei­nem ver­zeh­ren­den Blick und lis­ti­gem Blin­zeln an­schau­end.

»Gut« sag­te Ma­da­me, »man muss ver­nünf­tig sein. Du kannst kom­men, wenn Du willst, aber Du darfst kei­ne Dumm­hei­ten ma­chen.«

Er ant­wor­te­te nicht und be­gann jede Ein­zel­ne aus der Ge­sell­schaft zu um­ar­men, als man von Wei­tem den Zug her­an­na­hen hör­te. Bei Rosa an­ge­kom­men, such­te er de­ren Mund zu er­wi­schen, den die­se ihm je­des Mal, hin­ter ih­ren ge­schlos­se­nen Zäh­nen la­chend, durch eine schnel­le Wen­dung ent­zog. Er hielt sie zwar in sei­nen Ar­men, aber er kam nicht zum Ziel, weil ihn sei­ne große Peit­sche hin­der­te, die er in der Hand hielt, und mit der er hin­ter ih­rem Rücken bei sei­nen ver­geb­li­chen Ver­su­chen die son­der­bars­ten Fi­gu­ren be­schrieb.

»Nach Rou­en ein­stei­gen!« rief der Por­tier; so muss­ten sie sich tren­nen.

Die klei­ne Pfei­fe des Zug­füh­rers schrill­te vom Per­ron und gleich dar­auf er­tön­te der lau­te Pfiff der Lo­ko­mo­ti­ve, die dann so­fort ihre ers­te Dampf­wol­ke in die Luft stiess, wäh­rend die Rä­der un­ter krei­schen­dem Geräusch ein we­nig an­zo­gen.

Ri­vet ver­liess das In­ne­re des Bahn­ho­fes und lief an die Schran­ke, um Rosa noch ein­mal zu se­hen, und als der Wa­gen mit sei­ner mensch­li­chen Last an ihm vor­bei­fuhr, knall­te er mit der Peit­sche und hüpf­te um­her, da­bei aus Lei­bes­kräf­ten sin­gend:

»Doch ver­dorrt ist der Arm

So ro­sig und warm,

Und ver­welkt ist das Herz,

Nur ge­blie­ben der Schmerz.«

Dann sah er eine wei­ße Rauch­wol­ke in der Fer­ne lang­sam ver­schwin­den.

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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