Читать книгу Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant - Страница 63

Im Familienkreise

Оглавление

Die Tram­way von Neuil­ly hat­te so­eben die »Por­te Mail­lot« pas­siert und fuhr nun die große Ave­nue ent­lang, wel­che auf die Sei­ne zu führt. Die klei­ne Dampf­ma­schi­ne, wel­che den Wa­gen zog, keuch­te mäch­tig bei der star­ken Stei­gung der Stras­se, und stiess ruck­wei­se ihre Rauch­wol­ken aus; es klang wie das Schnau­ben ei­nes Lau­fen­den, dem der Atem aus­geht, und die Ei­sen­glie­der ih­rer Kol­ben brach­ten ein leb­haf­tes Geräusch her­vor. Die er­schlaf­fen­de Schwü­le ei­nes zur Nei­ge ge­hen­den Som­mer­ta­ges lag auf der Stras­se, auf wel­cher sich trotz der Wind­stil­le eine dich­te, wei­ße, er­sti­cken­de und glü­hen­de Staub­wol­ke er­hob, die die feuch­te Haut be­deck­te und in Nase und Ohren drang.

Ein­zel­ne Leu­te tra­ten un­ter die Tü­ren, um et­was fri­sche Luft zu schöp­fen.

Die Schei­ben des Wa­gens wa­ren her­un­ter­ge­las­sen, und bei der schnel­len Fahrt flat­ter­ten die Vor­hän­ge im Luft­zu­ge. Nur we­ni­ge Per­so­nen be­fan­den sich im In­nern; denn bei die­sen heis­sen Ta­gen zog man das Ver­deck der Om­ni­bus­se vor. Es wa­ren dies kor­pu­len­te Da­men mit auf­fal­len­den Toi­let­ten, jene Sor­te von Be­woh­ne­rin­nen der Vor­städ­te, die das, was ih­nen an Vor­nehm­heit fehlt, durch eine ge­wis­se un­an­ge­mes­se­ne Steif­heit zu er­set­zen su­chen; fer­ner ab­ge­ar­bei­te­te Bü­ro­men­schen mit auf­ge­schwemm­ten Ge­sich­tern und kur­z­er Tail­le, de­ren eine Schul­ter in Fol­ge der ewi­gen vor­ge­beug­ten Hal­tung bei ih­ren Ar­bei­ten et­was in die Höhe ge­zo­gen war. Ihre un­ru­hi­gen und be­küm­mer­ten Mie­nen spra­chen aus­ser­dem noch von häus­li­chen Nö­ten, dro­hen­den Geld­sor­gen und von der gänz­li­chen Ver­nich­tung einst­mals viel­leicht glän­zen­der Hoff­nun­gen. Sie schie­nen alle zu je­ner Klas­se ar­mer Teu­fel zu ge­hö­ren, die in ei­nem je­ner klei­ner weiß­ge­stri­che­nen Häu­schen mit ei­nem Stück­chen Gar­ten, wie man sie auf dem Lan­de in der Um­ge­gend von Pa­ris zu Tau­sen­den fin­det, nur mit grös­ster Spar­sam­keit ihr Da­sein fris­ten.

Ganz nahe an der Türe sass ein klei­ner un­ter­setz­ter Herr mit auf­ge­dun­se­nem Ge­sicht, des­sen Bauch so­zu­sa­gen zwi­schen sei­nen ge­öff­ne­ten Schen­keln ruh­te. Er war ganz schwarz ge­klei­det und trug ein Or­dens­band im Knopf­loch. Sein Ge­gen­über, mit dem er sich eif­rig un­ter­hielt, war ein großer, ma­ge­rer Mann von nach­läs­si­gem Äus­se­ren. Sein wei­ßer Dril­lich-An­zug war sehr schmut­zig, und auf dem Kop­fe trug er einen al­ten eben­falls stark mit­ge­nom­me­nen Pa­na­ma-Hut. Der ers­te Herr sprach lang­sam, so­dass er zu­wei­len den Ein­druck ei­nes Stot­terers mach­te; es war Herr Ca­ra­van, Bü­ro­be­am­ter im Ma­ri­ne­mi­nis­te­ri­um. Der an­de­re war frü­her Kran­ken­wär­ter an Bord ei­nes Han­dels­schif­fes ge­we­sen und hat­te sich schliess­lich in Cour­be­voie nie­der­ge­las­sen, wo er bei der är­me­ren Be­völ­ke­rungs­klas­se den Rest von me­di­zi­ni­schen Kennt­nis­sen ver­wer­te­te, den er sich aus sei­nem dunklen aben­teu­er­li­chen Le­ben be­wahrt hat­te. Er hiess Che­net und hör­te sich ger­ne »Dok­tor« nen­nen; über sei­nen Cha­rak­ter gin­gen al­ler­lei Gerüch­te her­um.

Herr Ca­ra­van hat­te von je­her das gleich­mäs­si­ge Le­ben ei­nes Bü­ro­men­schen ge­führt. Seit dreis­sig Jah­ren ging er un­ver­än­der­lich je­den Mor­gen auf dem­sel­ben Wege in sein Büro, be­geg­ne­te zu der­sel­ben Stun­de und an den­sel­ben Stel­len den­sel­ben Leu­ten, die ih­ren Ge­schäf­ten nach­gin­gen; und eben­so kehr­te er abends auf dem­sel­ben Wege zu­rück, wo er noch die­sel­ben Ge­sich­ter sah, die er schon vor dreis­sig Jah­ren ge­se­hen hat­te.

Je­den Tag, nach­dem er sich an ei­ner Ecke des Fau­bourg Saint-Ho­noré sein Sou-Blätt­chen ge­kauft, hol­te er sich sei­ne zwei Bröd­chen und ging dann ins Mi­nis­te­ri­um, wie ein Ver­ur­teil­ter, der sei­ne Haft an­tre­ten will; schnell trat er in sein Büro ein, denn er wur­de die ste­te in­ne­re Un­ru­he nicht los, ob er nicht bei sei­ner An­kunft ir­gend einen Ta­del we­gen ei­nes Ver­se­hens zu er­war­ten hät­te.

Nichts hat­te bis­her die ein­för­mi­ge Ord­nung sei­nes Da­seins ge­än­dert, denn aus­ser sei­nen Bü­ro­ge­schäf­ten, Avan­ce­ments und Gra­ti­fi­ka­tio­nen be­rühr­ten ihn die sons­ti­gen Er­eig­nis­se nicht. Moch­te er nun im Mi­nis­te­ri­um oder in sei­ner Fa­mi­lie sein (er hat­te näm­lich die Toch­ter ei­nes Kol­le­gen, ohne jede Mit­gift, ge­hei­ra­tet), nie­mals sprach er von et­was an­de­rem als vom Dienst. Sein durch die geist­tö­ten­de täg­li­che Ar­beit ver­knö­cher­ter Sinn hat­te kei­ne an­de­ren Ge­dan­ken, kei­ne an­de­ren Träu­me und Hoff­nun­gen mehr, als die, wel­che sich auf sein Mi­nis­te­ri­um be­zo­gen. Aber eins ver­bit­ter­te ihm stets die Selbst­zu­frie­den­heit sei­nes Be­am­ten­da­seins: die Zu­las­sung der Ma­ri­ne-Kom­missa­re, der Klemp­ner, wie man sie ih­rer sil­ber­nen Lit­zen we­gen nann­te, zu den Stel­len der Sous-Chefs und so­gar der Chefs; und je­den Abend beim Es­sen de­mons­trier­te er sei­ner Frau, die üb­ri­gens ganz sei­nen Groll teil­te, un­ter leb­haf­ten Ge­bär­den vor, wie un­ge­recht es auf alle Fäl­le sei, die Stel­len in Pa­ris mit Leu­ten zu be­set­zen, die na­tur­ge­mä­ss für das See­le­ben be­stimmt wä­ren.

Er war jetzt alt ge­wor­den, ohne zu be­mer­ken, wie das Le­ben ver­flog; denn das Gym­na­si­um hat­te ohne ei­gent­li­che Un­ter­bre­chung sei­ne Fort­set­zung im Büro ge­fun­den und die Leh­rer, vor de­nen er frü­her ge­zit­tert hat­te, wa­ren jetzt durch die Chefs er­setzt, vor de­nen er bei­na­he noch eine grös­se­re Angst hat­te. An der Schwel­le die­ser Büro-De­spo­ten über­lief ihn stets ein hei­li­ger Schau­er, und von die­ser fort­ge­setz­ten Ängst­lich­keit hat­te er sich all­mäh­lich eine lin­ki­sche Art des Auf­tre­tens, die­se de­mü­ti­ge Hal­tung, die­ses ge­wis­se ner­vö­se Stot­tern an­ge­wöhnt.

Er kann­te von Pa­ris ei­gent­lich nicht viel mehr, als ein Blin­der, der von sei­nem Hun­de täg­lich an den­sel­ben Stand­platz ge­führt wird, und wenn er in sei­nem Sou-Blätt­chen die täg­li­chen Neu­ig­kei­ten und Skan­dal-Ge­schich­ten las, so durch­flog er sie wie hüb­sche Mär­chen, die ei­gens er­fun­den wa­ren, um den klei­nen Be­am­ten et­was Un­ter­hal­tungs­stoff zu bie­ten. Ein Mann der Ord­nung, ein Re­ak­tio­när ohne be­stimm­te Par­tei­rich­tung, aber ein ab­ge­sag­ter Feind al­ler Neue­run­gen, über­schlug er die po­li­ti­schen Nach­rich­ten, wel­che sein Blatt üb­ri­gens, je nach­dem es be­zahlt wur­de, ent­spre­chend ent­stell­te. Und wenn er abends die Ave­nue des Champs-Elysées wie­der her­auf­ging, so be­trach­te­te er die hin- und her­wo­gen­de Men­ge der Spa­zier­gän­ger und das Ge­trie­be der Wa­gen, wie ein hei­mat­lo­ser Wan­de­rer, der frem­de Ge­gen­den durch­quert.

Da er zu eben die­ser Zeit sei­ne dreis­sig Dienst­jah­re hin­ter sich hat­te, so hat­te man ihm zum 1. Ja­nu­ar das Kreuz der Ehren­le­gi­on über­reicht, wo­mit man bei den Mi­li­tär-Ver­wal­tun­gen die lan­ge und elen­de Skla­ve­rei -- man nennt sie: »Red­li­che Diens­te« -- be­lohnt, in der die­se ar­men Sträf­lin­ge am grü­nen Ti­sche schmach­ten. Die­se un­er­war­te­te Aus­zeich­nung, wel­che ihm von sei­nen Be­fä­hi­gun­gen einen ganz neu­en und ho­hen Be­griff bei­brach­te, hat­te in sei­nem We­sen eine voll­stän­di­ge Um­wäl­zung her­vor­ge­ru­fen. Von nun an ver­bann­te er sei­ne far­bi­gen Ho­sen und Fan­ta­sie-Wes­ten; er trug nur noch schwar­ze Bein­klei­der und lan­ge Über­rö­cke, auf de­nen sein sehr brei­tes Band sich bes­ser aus­nahm. Je­den Mor­gen war er glatt ra­siert, sei­ne Nä­gel pfleg­te er mit Sorg­falt, und alle zwei Tage wech­sel­te er die Wä­sche in ei­nem ganz rich­ti­gen Ge­fühl der Hochach­tung und Ehr­furcht vor dem na­tio­na­len Or­den, den er trug. So war er über Nacht ein an­de­rer, ein selbst­be­wus­s­ter, zu­ge­knöpf­ter und her­ab­las­sen­der Ca­ra­van ge­wor­den.

Zu Hau­se sprach er bei je­der Ge­le­gen­heit von »sei­nem Kreu­ze.« Er war dar­in so ei­fer­süch­tig, dass er nicht ein­mal im Knopf­loch ei­nes an­de­ren ir­gend ein bun­tes Band se­hen konn­te. Vor al­lem er­ei­fer­te er sich beim An­blick frem­der Or­den, »die man in Frank­reich gar nicht zu tra­gen er­lau­ben soll­te.« Er be­ton­te dies be­son­ders mit Be­zug auf den »Dok­tor« Che­net, den er je­den Abend auf der Tram­way mit ir­gend ei­ner weiß-blau­en, oran­ge­far­be­nen oder grü­nen De­ko­ra­ti­on im Knopf­loch an­traf.

Die Un­ter­hal­tung die­ser bei­den vom Arc de Triom­phe bis Neuil­ly war üb­ri­gens täg­lich die glei­che; und auch heu­te be­schäf­tig­ten sie sich, wie im­mer, mit lo­ka­len Übel­stän­den, über die sie sich bei­de är­ger­ten, wäh­rend der Maire von Neuil­ly sie viel zu leicht neh­me. Dann brach­te Ca­ra­van, wie das in Ge­gen­wart ei­nes Arz­tes ja stets ge­schieht, das Ge­spräch auf das Ka­pi­tel der Krank­hei­ten, in­dem er hoff­te, auf die­se Wei­se ei­ni­ge ärzt­li­che Ratschlä­ge gra­tis zu er­hal­ten. Sei­ne Mut­ter mach­te ihm üb­ri­gens seit ei­ni­gen Ta­gen wirk­lich Sor­gen. Sie hat­te öf­ters län­ge­re Ohn­machts­an­fäl­le und woll­te sich da­bei trotz ih­rer neun­zig Jah­re noch kei­ne Scho­nung auf­er­le­gen.

Ihr ho­hes Al­ter mach­te Ca­ra­van im­mer ganz weich­mü­tig, und un­auf­hör­lich frag­te er den »Dok­tor« Che­net: »Ha­ben Sie das schon oft er­rei­chen se­hen?« Und da­bei rieb er sich im­mer ganz glück­lich die Hän­de, nicht so sehr weil er glaub­te, dass das Le­ben sei­ner Mut­ter auf Er­den ewig dau­ern wür­de, son­dern weil die lan­ge Dau­er des müt­ter­li­chen Le­bens ihm selbst ein ho­hes Al­ter zu ver­spre­chen schi­en.

»Ja!« fuhr er fort, »in mei­ner Fa­mi­lie lebt man sehr lan­ge; ich bin si­cher, dass ich gleich­falls sehr alt wer­de, wenn nichts Be­son­de­res ein­tritt.«

Der ehe­ma­li­ge Kran­ken­pfle­ger warf einen mit­lei­di­gen Blick auf ihn. Er be­trach­te­te einen Au­gen­blick das röt­li­che Ge­sicht sei­nes Nach­barn, sei­nen flei­schi­gen Hals, sei­nen auf­ge­trie­be­nen Leib, der sich zwi­schen zwei schwam­mi­gen fet­ten Schen­keln ver­lor, die gan­ze apo­plek­ti­sche Er­schei­nung des ver­weich­lich­ten al­ten Be­am­ten; und in­dem er mit ei­nem Hän­de­druck sich den grau­en Stroh­hut zu­recht­rück­te, ant­wor­te­te er halb ernst, halb la­chend:

»Nicht so si­cher als Sie den­ken; Ihre Mut­ter ist die per­so­ni­fi­zier­te Ma­ger­keit und Sie sind die rei­ne Pou­lar­de.«

Ca­ra­van wur­de ver­le­gen und schwieg.


In­zwi­schen hat­te die Tram­way ih­ren Hal­te­punkt er­reicht und die bei­den Her­ren stie­gen aus. Herr Che­net schlug vor, einen Wer­mut im Café du Glo­be zu trin­ken, wo sie bei­de ih­ren Stamm­tisch hat­ten. Der Chef, ein al­ter Freund von ih­nen, reich­te ih­nen zwei Fin­ger, die sie über Fla­schen und Glä­sern hin­weg schüt­tel­ten; dann be­ga­ben sie sich an einen Tisch, wo drei Lieb­ha­ber des Do­mi­nos schon seit Mit­tag beim Spiel­chen sas­sen. Freund­schaft­li­che Re­dens­ar­ten, dar­un­ter das un­ver­meid­li­che »Was gib­t’s Neu­es« wur­den aus­ge­tauscht. Hier­auf setz­ten sich die Spie­ler wie­der zu ih­rer Par­tie und sie wünsch­ten den­sel­ben einen gu­ten Abend. Jene reich­ten ih­nen die Hän­de, ohne von ih­ren Stei­nen auf­zu­se­hen, und die bei­den Her­ren gin­gen zum Es­sen nach Hau­se.

Ca­ra­van be­wohn­te nahe beim Ron­del von Cour­be­voie ein klei­nes zwei­stö­cki­ges Haus, des­sen Erd­ge­schoss ein Fri­seur in­ne­hat­te.

Zwei Zim­mer, ein Spei­se­zim­mer und eine Kü­che, in de­nen Roll­ses­sel je nach Be­darf hin- und her­ge­scho­ben wur­den, bil­de­ten die bei­den ein­zi­gen Räu­me, in de­nen Ma­da­me Ca­ra­van ihre Ar­beits­zeit zu­brach­te, wäh­rend ihre zwölf­jäh­ri­ge Toch­ter Ma­ria-Loui­se und der neun­jäh­ri­ge Sohn Phil­ipp-Au­gust sich mit der gan­zen Stras­sen­ju­gend des Vier­tels in der Gos­se her­um­balg­ten.

Über sich hat­te Ca­ra­van sei­ne Mut­ter ein­lo­giert, de­ren Geiz in der gan­zen Um­ge­gend be­rühmt war und von de­ren Ma­ger­keit man sich sag­te, dass der Herr­gott bei ihr sei­ne ei­ge­nen Spar­sam­keits-Grund­sät­ze an­ge­wandt habe. Stets schlech­ter Lau­ne ließ sie kei­nen Tag ohne ihre be­son­de­ren Kla­gen und Hef­tig­keits-Aus­brü­che ver­ge­hen. Sie zank­te sich vom Fens­ter aus mit den Nach­ba­rin­nen vor der Türe, mit den Krä­mer­frau­en, den Gas­sen­keh­rern und den Stras­sen­jun­gen, die sie aus Ra­che beim Aus­ge­hen von Wei­tem mit dem Rufe »Seht die Bett­näs­se­rin« ver­folg­ten.

Ein klei­nes un­glaub­lich dum­mes Dienst­mäd­chen aus der Nor­man­die be­sorg­te den Haus­halt und schlief des Nachts im zwei­ten Stock bei der Al­ten, für den Fall, dass die­ser et­was zu­stos­sen soll­te.

Als Ca­ra­van nach Hau­se kam, fand er sei­ne Frau da­mit be­schäf­tigt, mit­tels ei­nes Fla­nell­lap­pens die ver­ein­zelt im Zim­mer ste­hen­den Ma­hago­ni­stüh­le wie­der auf­zu­po­lie­ren; sie litt näm­lich an chro­ni­scher Putz­sucht. Ihre Hän­de wa­ren stets von Zwirn­hand­schu­hen be­deckt, ihr Haupt war mit ei­ner Müt­ze ge­schmückt, von wel­cher bun­te Bän­der her­ab­flat­ter­ten und die stets schief auf ei­nem Ohre sass. Je­des Mal wenn sie boh­nend, bürs­tend, fir­nis­send oder sei­fend an­ge­trof­fen wur­de, pfleg­te sie zu sa­gen: »Ich bin nicht reich, bei mir ist al­les ein­fach; aber die Rein­lich­keit ist mein Lu­xus und dar­in bin ich man­cher and­ren über.«

Mit prak­ti­schem Ver­stan­de be­gabt, be­herrsch­te sie ih­ren Mann in al­lem. Je­den Abend bei Tisch und spä­ter noch im Bett spra­chen sie lan­ge noch von Büro-An­ge­le­gen­hei­ten, und ob­schon sie zwan­zig Jahr jün­ger war wie er, so ver­trau­te er sich ihr wie ei­nem Beicht­va­ter an und folg­te in al­lem ih­ren Ratschlä­gen.

Sie war nie­mals hübsch ge­we­sen; jetzt war sie so­gar häss­lich, von klei­ner schmäch­ti­ger Fi­gur. Ihre un­schein­ba­re Klei­dung ließ bei ihr jene äus­se­ren weib­li­chen For­men völ­lig ver­schwin­den, wel­che ein gut sit­zen­der An­zug künst­lich her­vor­he­ben kann. Ihre Klei­der­rö­cke wa­ren stets an ir­gend ei­ner Stel­le in die Höhe ge­schla­gen und sie pfleg­te sich häu­fig, ganz gleich­gül­tig wo, zu krat­zen, ohne jede Rück­sicht auf et­wai­ge An­we­sen­de und mit ei­ner In­ten­si­vi­tät, die ge­ra­de­zu et­was krank­haf­tes hat­te. Der ein­zi­ge Schmuck, den sie sich leis­te­te, war je­ner Auf­putz von sei­de­nen Bän­dern ver­schie­den­ar­tigs­ter Far­ben auf den stol­zen Häub­chen, die sie zu Hau­se zu tra­gen pfleg­te.

So­bald sie ih­ren Mann be­merk­te, er­hob sie sich, küss­te ihn auf bei­de Wan­gen und frag­te ihn dann: »Hast Du an Po­tin ge­dacht, lie­ber Freund?« (Es han­del­te sich um eine Be­stel­lung, die er aus­zu­rich­ten ver­spro­chen hat­te.) Er ließ sich er­schreckt auf einen Stuhl fal­len, denn er hat­te es jetzt ge­ra­de zum vier­ten Male ver­ges­sen. -- »Es ist ein Elend« sag­te er, »ein wah­res Elend! Ich kann den gan­zen Tag mich dran er­in­nern, und abends ver­ges­se ich es doch je­des Mal.« Aber als sie sah, dass es ihn al­te­rier­te, such­te sie ihn schnell zu trös­ten: »Lass doch nur! Mor­gen be­sorgst Du’s mir schon. Nichts Neu­es im Mi­nis­te­ri­um?«

»Al­ler­dings, eine große Neu­ig­keit so­gar; noch ein Klemp­ner ist Sous-Chef ge­wor­den.«

Sie wur­de sehr er­regt.

»In wel­cher Ab­tei­lung?«

»In der Ab­tei­lung für aus­wär­ti­ge Er­wer­bun­gen.«

»An Stel­le Ra­mon’s also«, sag­te sie är­ger­lich, »ge­ra­de die ich mir für Dich aus­ge­dacht hat­te. Und Ra­mon? Pen­sio­niert?«

»Pen­sio­niert«, stam­mel­te er.

»Da­mit ist’s nun aus, mit die­ser schö­nen Ge­le­gen­heit;« sag­te sie hef­tig, wäh­rend ihr Häub­chen auf die Schul­ter rutsch­te. »Es lässt sich im Au­gen­blick nichts ma­chen. Und wie heisst er denn, Dein Kom­mis­sair?«

»Bo­nas­sot«.

Sie nahm die Ma­ri­ne-Ran­glis­te, die sie stets zur Hand hat­te, und schlug nach:

»Bo­nas­sot. -- Tou­lon. -- Geb. 1851. -- Kom­missa­ri­ats-Ele­ve 1871, Un­ter-Kom­missar 1875. -- Hat er zur See ge­dient, der da?«

Bei die­ser Fra­ge hei­ter­te sich Ca­ra­van’s Ant­litz wie­der auf. Er lach­te, dass ihm der Bauch wa­ckel­te.

»Wie Ba­lin, ge­nau wie sein Chef Ba­lin.«

Und mit noch stär­ke­rem La­chen füg­te er einen al­ten Witz hin­zu, der im gan­zen Mi­nis­te­ri­um kur­sier­te:

»Man dürf­te sie ja nicht ein­mal aus­schi­cken, um die Ma­ri­ne­sta­ti­on Point-Du-Jour zu in­spi­zie­ren; sie wür­den un­ter­wegs an der See­krank­heit ster­ben.«

Aber sie blieb ernst, als hät­te sie nichts ge­hört; dann mur­mel­te sie, sich lang­sam am Kinn krat­zend:

»Wenn man nur einen De­pu­tier­ten an der Hand hät­te! Wüss­te die Kam­mer al­les, was da drin­nen vor­geht, so müss­te das Mi­nis­te­ri­um auf der Stel­le sprin­gen …«

Lau­tes Schrei­en auf der Trep­pe schnitt ihr die wei­te­ren Wor­te ab. Ma­rie-Loui­se und Phil­ipp-Au­gust, wel­che von der Gas­se her­auf­ka­men, be­ar­bei­te­ten sich ge­gen­sei­tig auf je­der Trep­pen­stu­fe mit Püf­fen und Fuss­trit­ten. Ihre Mut­ter rann­te zor­nig her­aus, nahm Je­des am Arme und stiess sie bei­de ins Zim­mer, wo­bei sie sie kräf­tig schüt­tel­te.

So­bald sie ih­ren Va­ter sa­hen, stürz­ten sie auf ihn los und er küss­te sie lan­ge zärt­lich; dann nahm er bei­de auf sei­ne Knie und plau­der­te mit ih­nen.

Phil­ipp-Au­gust war ein gars­ti­ger blas­ser Bur­sche, schmut­zig von oben bis un­ten und hat­te ein Ge­sicht wie ein Kre­tin. Ma­rie-Loui­se glich jetzt schon sehr ih­rer Mut­ter; sie sprach wie die­se, in­dem sie de­ren Wor­te wie­der­hol­te und so­gar ihre Ge­bär­den nach­ahm­te: »Was gib­t’s Neu­es im Mi­nis­te­ri­um?«

»Dein Freund Ra­mon«, sag­te er scher­zend, »der je­den Mo­nat bei uns isst, wird uns ver­las­sen, Töch­ter­chen! Ein an­de­rer Sous­chef tritt an sei­ne Stel­le.«

Sie hob die Au­gen zu ih­rem Va­ter em­por und sag­te mit ei­nem für ihr Al­ter früh­rei­fen Mit­leid:

»Noch ei­ner also, der Dir über den Kopf ge­klet­tert ist!«

Er hör­te auf zu la­chen und ant­wor­te­te nicht; dann brach­te er das Ge­spräch auf ein andres The­ma, in­dem er sich zu sei­ner Frau wand­te, die jetzt Fens­ter­schei­ben putz­te:

»Der Mut­ter geht’s gut oben?« frag­te er.

Ma­da­me Ca­ra­van hör­te auf zu rei­ben, wand­te sich um und brach­te mit ei­nem Ruck das Häub­chen, wel­ches ihr jetzt voll­stän­dig auf dem Rücken hing, wie­der in Ord­nung.

»Ach ja,« sag­te sie mit zu­cken­den Lip­pen, »lass uns von Dei­ner Mut­ter spre­chen. Sie hat mir einen net­ten Är­ger be­rei­tet. Den­ke Dir, als heu­te Ma­da­me Le­bau­din, die Frau des Fri­seurs, wäh­rend ich aus­ge­gan­gen war, her­auf­kommt, um von mir ein Packet Stär­ke zu lei­hen, hat Dei­ne Mut­ter sie fort­ge­jagt und sie eine ›Bett­le­rin‹ ge­schimpft. Aber ich habe ihr mei­ne Mei­nung ge­sagt, der Al­ten. Sie tat na­tür­lich wie­der, als höre sie nichts, wie im­mer, wenn man ihr mal die Wahr­heit sagt, aber sie ist nicht tau­ber, weißt Du, wie ich; es ist Ver­stel­lung und wei­ter nichts. Der Be­weis da­für ist der, dass sie so­fort nach oben in ihr Zim­mer ge­gan­gen ist, ohne wei­ter ein Wort zu re­den.«

Ca­ra­van, dem die­se Wen­dung des Ge­sprä­ches pein­lich war, schwieg klüg­lich still, zu­mal jetzt das Dienst­mäd­chen mel­de­te, es sei an­ge­rich­tet. Dann nahm er, um sei­ne Mut­ter hier­von zu be­nach­rich­ti­gen, einen Kehr­be­sen aus der Ecke, wo er im­mer ruh­te, und klopf­te da­mit drei­mal an die Zim­mer­de­cke. Hier­auf ging man ins Spei­se­zim­mer und Ma­da­me Ca­ra­van jr. teil­te die Sup­pe aus, wäh­rend man auf die Mut­ter war­te­te. Die­se kam je­doch nicht und die Sup­pe fing schon an kalt zu wer­den. Man be­gann lang­sam zu es­sen; aber als die Tel­ler leer wa­ren, war­te­te man im­mer noch ver­ge­bens.

»Das tut sie ab­sicht­lich«, sag­te Ma­da­me Ca­ra­van är­ger­lich zu ih­rem Gat­ten, »und Du hältst ihr im­mer noch die Stan­ge.«

Er fühl­te sich sehr un­be­hag­lich so zwi­schen zwei La­gern, und schick­te Ma­rie-Loui­se, um die Groß­mut­ter zu ho­len; dann blieb er still mit ge­senk­ten Au­gen sit­zen, wäh­rend sei­ne Frau mit der Mes­ser­spit­ze ner­vös an den Fuss ih­res Gla­ses klopf­te.

Plötz­lich öff­ne­te sich die Türe, das Kind kam al­lein, schre­ckens­bleich zu­rück und sag­te schnell:

»Groß­ma­ma liegt auf dem Fuss­bo­den!«

Mit ei­nem Sprung stand Ca­ra­van auf, warf sei­ne Ser­vi­et­te auf den Tisch und stürz­te die Trep­pe her­auf, auf der sein has­ti­ger Schritt dröh­nend wi­der­hall­te, wäh­rend sei­ne Frau, die ir­gend eine Bos­heit ih­rer Schwie­ger­mut­ter ver­mu­te­te, lang­sam und ach­sel­zu­ckend folg­te.

Die alte Frau lag mit­ten im Zim­mer der Län­ge nach auf der Erde, und als ihr Sohn sie auf­rich­te­te, er­schi­en sie steif und un­be­weg­lich, ihr runz­li­ches gel­bes Ge­sicht war fahl, die Au­gen wa­ren ge­schlos­sen, die Zäh­ne auf­ein­an­der ge­presst und al­les an ihr blieb leb­los.

»Mei­ne arme Mut­ter, mei­ne arme Mut­ter!« seufz­te Ca­ra­van, der bei ihr nie­der­ge­kniet war. Aber sei­ne Frau, wel­che sie einen Au­gen­blick be­trach­tet hat­te, sag­te:

»Bah! sie hat nur einen Ohn­machts­an­fall; das ist al­les. Sie möch­te uns nur am Es­sen hin­dern, glau­be mir.«

Man trug den Kör­per aufs Bett, ent­klei­de­te ihn und alle, Ca­ra­van, sei­ne Frau und das Dienst­mäd­chen be­gan­nen ihn zu rei­ben. Trotz al­ler An­stren­gun­gen kehr­te das Be­wusst­sein nicht zu­rück. Da sand­te man Ro­sa­lie zum Dok­tor Che­net. Er wohn­te am Quai nach Su­res­nes zu. Es war weit und man muss­te lan­ge war­ten, bis er kam. Nach­dem er sie an­ge­schaut, be­klopft und be­horcht hat­te, sag­te er:

»Das ist der Tod.«

Von hef­ti­gem Schluch­zen er­schüt­tert warf sich Ca­ra­van auf den leb­lo­sen Kör­per und be­deck­te krampf­haft das star­re Ant­litz sei­ner Mut­ter mit Küs­sen; da­bei wein­te er so hef­tig, dass sei­ne Trä­nen wie große Was­ser­trop­fen über das Ge­sicht der To­ten roll­ten.

Ma­da­me Ca­ra­van jr. fand es schick­lich, auch ih­rer­seits Trau­er zu be­zei­gen, und hin­ter ih­rem Man­ne ste­hend, stiess sie ver­schie­de­ne Seuf­zer aus, wäh­rend sie sich in auf­fal­len­der Wei­se die Au­gen wisch­te.

Ca­ra­van, des­sen Ant­litz noch rö­ter war wie sonst, und des­sen dün­ne Haa­re in Un­ord­nung um sei­ne Stirn her­um­hin­gen, war in der Tat von auf­rich­ti­gem Schmerz aufs Tiefs­te er­grif­fen.

»Aber sind Sie auch si­cher, Dok­tor … sind Sie ganz si­cher? …« wand­te er sich plötz­lich um. Der ehe­ma­li­ge Kran­ken­pfle­ger trat schnell wie­der her­an, und in­dem er den Kör­per mit ge­schäfts­mäs­si­ger Si­cher­heit be­tas­te­te, wie ein Kauf­mann, der eine Ware prü­fen will, sag­te er:

»Hier, bes­ter Freund, be­trach­ten Sie das Auge.«

Er schob die Au­gen­li­der zu­rück und un­ter sei­nen Fin­gern schi­en der Blick der al­ten Frau fast un­ver­än­dert, viel­leicht mit et­was grös­se­rer Pu­pil­le. Ca­ra­van gab es einen Stich ins Herz und ein Zit­tern über­fiel sei­nen gan­zen Kör­per. Herr Che­net er­griff den run­ze­li­gen Arm, öff­ne­te mit Ge­walt die Fin­ger und fuhr mit eif­ri­ger Mie­ne, als sei er auf Wi­der­spruch ge­stos­sen, fort:

»Aber se­hen Sie sich doch nur ’mal die­se Hand an; sei­en Sie ru­hig, ich täu­sche mich nie­mals.«

Ca­ra­van stürz­te sich von Neu­em ganz auf­ge­löst auf das Bett. Er brüll­te fast vor Schmerz, wäh­rend sei­ne Frau, im­mer lei­se schluch­zend, die not­wen­di­gen Vor­keh­run­gen traf. Sie schob das Nacht­tisch­chen her­an, auf dem sie eine Ser­vi­et­te aus­brei­te­te, stell­te vier Lich­ter dar­auf, die sie an­zün­de­te, nahm einen ge­weih­ten Buchs­baum­zweig hin­ter dem Spie­gel über dem Ka­min her­vor und steck­te ihn zwi­schen zwei Ker­zen in ein Glas, das sie mit Weih­was­ser an­füll­te.

Als sie so die äus­se­ren Zu­rich­tun­gen ge­trof­fen hat­te, um der To­ten alle Ehre zu er­wei­sen, blieb sie ge­dan­ken­voll ste­hen. Der Dok­tor, wel­cher ihr bei ih­ren An­stal­ten ge­hol­fen hat­te, flüs­ter­te ihr zu:

»Es wäre bes­ser, Ca­ra­van her­aus­zu­füh­ren.«

Sie mach­te ein Zei­chen des Ein­ver­ständ­nis­ses, und in­dem sie sich ih­rem Man­ne nä­her­te, der auf den Kni­en lie­gend im­mer noch schluchz­te, griff sie ihm un­ter einen Arm, wäh­rend Herr Che­net ihn un­ter den an­de­ren nahm.


Man setz­te ihn zu­erst auf einen Stuhl, und sei­ne Frau such­te ihm zu­zu­re­den, wäh­rend sie ihn wie­der­holt küss­te. Der Dok­tor un­ter­stütz­te ihre Be­mü­hun­gen. Er sprach von Er­ge­bung, Wil­lens­kraft, Man­nes­mut und al­lem, was man bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten an Zu­spruch ver­wen­det. Dann grif­fen ihn bei­de von Neu­em un­ter den Arm und führ­ten ihn her­aus.

Er wein­te wie ein großes Kind, mit krampf­haf­tem Schluch­zen, völ­lig hilf­los, die Arme schlaff her­un­ter­hän­gend, wäh­rend sei­ne Knie schlot­ter­ten. Ohne zu wis­sen, was er tat, und ma­schi­nen­mäs­sig einen Fuss vor den an­de­ren set­zend, stieg er die Trep­pe her­un­ter.

Man setz­te ihn in den Ses­sel, der noch im­mer am Ti­sche stand, vor sei­nen halb­lee­ren Tel­ler, in dem sich noch der Rest der Sup­pe be­fand. Da sass er nun, re­gungs­los, das Auge auf sein Glas ge­hef­tet, so auf­ge­löst, dass er nicht ’mal mehr einen kla­ren Ge­dan­ken zu fas­sen ver­moch­te.

Ma­da­me Ca­ra­van sprach in ei­ner Ecke mit dem Dok­tor, er­kun­dig­te sich nach den not­wen­di­gen For­ma­li­tä­ten, und ließ sich al­ler­lei prak­ti­sche Ratschlä­ge ge­ben. Sch­liess­lich nahm Herr Che­net, der auf ir­gen­det­was ge­war­tet zu ha­ben schi­en, sei­nen Hut und woll­te sich ver­ab­schie­den, in­dem er er­klär­te, er habe noch nicht zu Abend ge­ges­sen.

»Wie?« rief sie, »Sie ha­ben noch nicht zu Abend ge­ges­sen? Aber blei­ben Sie doch bei uns, Herr Dok­tor, blei­ben Sie doch! Sie müs­sen mit dem vor­lieb neh­men, was wir ha­ben; Sie wis­sen ja, ein großes Di­ner gibt es nicht bei uns.«

Er lehn­te ab und bat, ihn zu ent­schul­di­gen. Aber sie be­stand dar­auf:

»Wa­rum wol­len Sie nicht blei­ben? Man ist in sol­chen Au­gen­bli­cken glück­lich, einen Freund bei sich zu ha­ben. Und viel­leicht kön­nen Sie mei­nem Man­ne zu­re­den, sich et­was zu stär­ken. Er hat sei­ne Kräf­te jetzt dop­pelt not­wen­dig.«

»Wenn es denn sein muss, Ma­da­me, so neh­me ich dan­kend an«, sag­te der Dok­tor, in­dem er un­ter ei­ner Ver­beu­gung sei­nen Hut wie­der ab­leg­te.

Sie gab Ro­sa­lie, die ganz aus dem Häu­schen war, al­ler­hand Be­feh­le und setz­te sich dann selbst mit an den Tisch, »um we­nigs­tens so zu tun, als ob sie ässe, und um dem ›Herrn Dok­tor‹ Ge­sell­schaft zu leis­ten.«

Man nahm zu­nächst die auf­ge­wärm­te Sup­pe, von der Herr Che­net sich noch einen zwei­ten Tel­ler er­bat. Dann er­schi­en eine Plat­te Lyo­ner Sala­mi wel­che einen star­ken Knob­lauch-Ge­ruch ver­brei­te­te, und von der auch Ma­da­me Ca­ra­van kos­te­te.

»Aus­ge­zeich­net!« sag­te der Dok­tor.

»Nicht wahr«, lä­chel­te sie. »Nimm doch auch et­was, mein ar­mer Al­fred«, wand­te sie sich an ih­ren Mann, »nur um et­was im Ma­gen zu ha­ben. Den­ke, dass Du noch die Nacht vor Dir hast.«

Er reich­te me­cha­nisch sei­nen Tel­ler hin, wie er sich zu Bett ge­legt ha­ben wür­de, wenn man es ihn ge­heis­sen hät­te; denn er folg­te in al­lem ganz ge­dan­ken­los, zu kei­nem Wi­der­stan­de fä­hig. So ass er auch.

Der Dok­tor, der sich selbst half, griff drei­mal zu der Schüs­sel, wäh­rend Ma­da­me Ca­ra­van von Zeit zu Zeit mit der Ga­bel ein großes Stück her­aus­fisch­te und es sich ge­dan­ken­los in den Mund schob.

Als hier­auf eine Salat­schüs­sel voll Mac­caro­ni er­schi­en, mur­mel­te der Dok­tor:

»Tau­send, da kommt ’was Le­cke­res.«

Und Ma­da­me Ca­ra­van leg­te die­ses Mal al­ler Welt vor; sie füll­te so­gar die Näp­fe der Kin­der da­mit, wel­che bei der man­geln­den Auf­sicht den Wein un­ver­mischt tran­ken und sich be­reits un­ter dem Ti­sche wie­der mit Fuss­trit­ten be­ar­bei­te­ten.

Herr Che­net er­in­ner­te sich an Ros­si­ni’s Vor­lie­be für die­se ita­lie­ni­schen Ge­rich­te.

»Halt!« sag­te er plötz­lich, »habe ich da einen schö­nen Reim! man könn­te ein gan­zes Ge­dicht dar­aus ma­chen:

Der Maëstro Ros­si­ni

Lieb­te die Mac­caro­ni.«

Man hör­te nicht mehr auf ihn. Ma­da­me Ca­ra­van war plötz­lich nach­denk­lich ge­wor­den und über­leg­te alle wahr­schein­li­chen Fol­gen die­ses Er­eig­nis­ses, wäh­rend ihr Gat­te Brot­kü­gel­chen dreh­te, die er dann auf den Tel­ler leg­te und starr, mit der Mie­ne ei­nes Idio­ten, an­schau­te. Da ein bren­nen­der Durst sei­ne Keh­le ver­zehr­te, so brach­te er alle Au­gen­bli­cke das frisch­ge­füll­te Glas zum Mun­de. Sein Ver­stand, der be­reits durch Er­schüt­te­rung und Trau­er hart mit­ge­nom­men war, wur­de jetzt an­ge­regt und schi­en ihm wäh­rend sei­ner Ver­dau­ung über Schmerz und Kum­mer hin­weg­zu­tan­zen.

Der Dok­tor trank üb­ri­gens wie ein Loch und wur­de sicht­lich an­ge­hei­tert; auch Ma­da­me Ca­ra­van un­ter­lag der Re­ak­ti­on, die je­der ner­vö­sen An­span­nung folgt. Sie war, ob­schon sie nur Was­ser trank, gleich­falls auf­ge­regt und fühl­te sich et­was ver­wirrt im Kop­fe.

Herr Che­net be­gann ver­schie­de­ne To­ten-Ge­schich­ten zu er­zäh­len, die ihm sehr scherz­haft er­schie­nen. Denn in die­sen Pa­ri­ser Vor­städ­ten, de­ren Be­woh­ner in der Haupt­sa­che ehe­ma­li­ge Pro­vinz­ler sind, fin­det man noch die­se Gleich­gül­tig­keit des Land­man­nes ge­gen den To­ten, mag es nun der Va­ter oder die Mut­ter sein, die­se man­geln­de Ach­tung, die­se un­be­wuss­te Roh­heit, die auf dem Lan­de so viel­fach herrscht und in Pa­ris selbst so sel­ten ist.

»Den­ken Sie«, sag­te er, »letz­te Wo­che ruft man mich Rue de Pu­teaux; ich eile da­hin, fin­de die Kran­ke ver­schie­den und in der Nähe des To­ten­bet­tes die Fa­mi­lie da­mit be­schäf­tigt, ru­hig eine Fla­sche Ani­set­te zu lee­ren, die man tags zu­vor ge­kauft hat­te, um eine letz­te Lau­ne der Ster­ben­den zu be­frie­di­gen.«

Aber Ma­da­me Ca­ra­van hör­te nicht zu, da sie im­mer­fort an die Erb­schaft den­ken muss­te; und Ca­ra­van mit sei­nem um­ne­bel­ten Ge­hirn ver­stand erst recht nichts da­von.

Man brach­te den Kaf­fee, der ex­tra stark ge­macht war, um die gute Stim­mung zu er­hal­ten. Jede Tas­se, mit Co­gnak ge­würzt, ließ auf den Wan­gen eine plötz­li­che Röte ent­ste­hen und ver­mehr­te nur noch die Ver­wir­rung, die der Al­ko­hol und die see­li­sche Er­schüt­te­rung schon in die­sen Ge­hir­n­en an­ge­rich­tet hat­ten.

Dann be­mäch­tig­te sich der »Dok­tor« plötz­lich der Fla­sche und schenk­te je­dem noch einen Ab­schied­strunk ein. Und ohne ein Wort zu spre­chen, in der an­ge­neh­men Wär­me der Ver­dau­ung, er­grif­fen von je­ner tie­ri­schen Be­hag­lich­keit, wel­che der Al­ko­hol nach dem Es­sen ver­leiht, spül­ten sie sich lang­sam die Keh­len mit dem ge­zu­cker­ten Co­gnak aus, der auf dem Bo­den der Kaf­fee­tas­sen einen gelb­li­chen Sirup bil­de­te.

Die Kin­der fin­gen an ein­zu­schla­fen und Ro­sa­lie brach­te sie zu Bet­te.

Ca­ra­van, der wie je­der Un­glück­li­che, das Be­dürf­nis fühl­te, sich zu be­täu­ben, nahm noch meh­re­re Gläs­chen Co­gnak zu sich, so­dass sei­ne bis­her blö­den Au­gen zu glän­zen an­fin­gen.

End­lich er­hob sich der Dok­tor zum Fort­ge­hen, und sei­nen Freund un­term Arm neh­mend, sag­te er:

»Komm, geh mit mir, die fri­sche Luft wird Dir gut tun; wenn man sich durch et­was be­drückt fühlt, muss man sich Be­we­gung schaf­fen.«

Der an­de­re ge­horch­te ohne Wi­der­stand, nahm Hut und Stock und ging mit. Alle bei­de wan­del­ten Arm in Arm bei dem hel­len Ster­nen­him­mel nach der Sei­ne zu.

Ein bal­sa­mi­scher Hauch zog durch die laue Nacht, denn alle Gär­ten rings­um­her stan­den zu die­ser Jah­res­zeit in vol­ler Blü­ten­pracht, de­ren Duft, tags­über we­ni­ger be­merk­bar, sich beim Ein­bruch der Nacht zu ver­dop­peln schi­en und von dem leich­ten Abend­lüft­chen weit hin­aus ge­tra­gen wur­de.

Die brei­te Stras­se mit ih­ren bei­den Rei­hen Gas­la­ter­nen lag bis zum Arc de Triom­phe stumm und ein­sam vor ih­nen. Aber da un­ten bro­del­te Pa­ris wie ein sie­den­der Topf. Ein un­auf­hör­li­ches dump­fes Rol­len schall­te zu den ein­sa­men Spa­zier­gän­gern her­über, dem von Wei­ten her auf der Ebe­ne zu­wei­len der grel­le Pfiff ei­nes mit vol­ler Dampf­kraft her­an­kom­men­den oder ab­fah­ren­den Zu­ges ant­wor­te­te.

Die fri­sche Luft, wel­che den bei­den Män­nern ent­ge­gen­weh­te, mach­te sie an­fangs et­was be­täubt, und er­schüt­ter­te das Gleich­ge­wicht des Dok­tors, wäh­rend sie bei Ca­ra­van den Schwin­del ver­mehr­te, den er nach dem Di­ner ver­spür­te. Er ging wie träu­mend ein­her; sein Geist war ein­ge­schla­fen und un­fä­hig, einen ru­hi­gen Ge­dan­ken zu fas­sen, ohne dass and­rer­seits sein Schmerz ein sehr hef­ti­ger ge­we­sen wäre. Auch hier hin­der­te ihn die all­ge­mei­ne geis­ti­ge Er­schlaf­fung, wirk­lich zu lei­den; er fühl­te viel­mehr eine Art Er­leich­te­rung, wenn er den fri­schen bal­sa­mi­schen Duft der Früh­lings­nacht ein­sog.

Bei der Brücke wand­ten sie sich rechts und emp­fan­den mit Be­ha­gen den fri­schen Luft­hauch, den ih­nen der Fluss zu­sand­te. Die­ser floss hin­ter ei­nem Vor­hang von ho­hen Pap­peln ru­hig, fast me­lan­cho­lisch da­hin; die Ster­ne schie­nen auf dem Was­ser zu schwim­men und lang­sam von dem­sel­ben fort­ge­tra­gen zu wer­den. Ein fei­ner weiß­li­cher Ne­bel, der auf dem jen­sei­ti­gen Ufer lag, ließ eine Emp­fin­dung von Feuch­tig­keit in die Lun­gen drin­gen und Ca­ra­van, bei dem die­ser Dunst des Was­sers alte Erin­ne­run­gen wach rief, blieb plötz­lich ste­hen.

Er sah sei­ne Mut­ter wie­der vor sich wie da­mals in sei­ner Kind­heit, dort un­ten in der Pi­car­die, auf den Kni­en an dem klei­nen Was­ser, das durch den Gar­ten floss und die Wä­sche, die in ei­nem Hau­fen ne­ben ihr lag, eif­rig wa­schend. Er hör­te ih­ren Schlä­gel in dem ru­hi­gen Schwei­gen der länd­li­chen Um­ge­bung, er hör­te ihre Stim­me, wie sie rief: »Al­fred, brin­ge mir Sei­fe.« Und er spür­te die­sen sel­ben Hauch von flies­sen­dem Was­ser, die­sen sel­ben Ne­bel, der aus der feuch­ten Erde auf­steigt, die­se Wasch­haus­luft, von der der Sei­fen­ge­ruch ihm un­ver­ge­ss­lich ge­blie­ben war und den er ge­ra­de an die­sem Abend, wo sei­ne Mut­ter ge­stor­ben war, deut­lich wie­der zu rie­chen glaub­te.

So stand er da, von ei­nem neu­en An­fall sei­ner trost­lo­sen Verzweif­lung er­fasst. Es war, als habe plötz­lich ein Licht­strahl ihm die gan­ze Aus­deh­nung sei­nes Un­glücks be­leuch­tet; und bei dem Wie­der­emp­fin­den die­ses flüch­ti­gen Hau­ches fühl­te er sich in den tiefs­ten Ab­grund des bit­ters­ten Schmer­zes ge­schleu­dert. Der Ge­dan­ke an die Tren­nung für im­mer zer­riss ihm das Herz. Er sah sein Le­ben in zwei Ab­schnit­te ge­teilt, von de­nen der eine jetzt mit al­len Erin­ne­run­gen sei­ner Ju­gend­zeit durch die­sen To­des­fall für im­mer vor sei­nen Au­gen ver­schwand. Das gan­ze »Einst­mals« war für ihn zu Ende. Nie­mand wür­de mehr mit ihm von ver­gan­ge­nen Zei­ten re­den kön­nen, von Leu­ten, die er frü­her ge­kannt hat­te, von sei­ner Hei­mat, von ihm selbst, von al­len Ein­zel­hei­ten sei­nes ver­flos­se­nen Le­bens. Ein Teil sei­nes ei­ge­nen »Ich« hat­te auf­ge­hört zu exis­tie­ren; jetzt brach die Zeit des Ster­bens für den an­de­ren her­an.

Und nun zo­gen lang­sam die Erin­ne­run­gen an ihm vor­über. Er sah »die Mama« wie­der vor sich, als sie noch viel jün­ger war, mit Klei­dern, die sie so lan­ge trug, bis sie gänz­lich auf­ge­braucht wa­ren, so­dass sie mit der Vor­stel­lung von ih­rer Per­son un­zer­trenn­lich ver­bun­den wa­ren. Er fand sie un­ter tau­sen­der­lei längst ver­ges­se­nen Ver­hält­nis­sen wie­der; ihre längst­ver­schwun­de­nen Ge­sichts­zü­ge, ihre Ge­bär­den, ihre Ge­wohn­hei­ten, ihre be­son­de­ren Nei­gun­gen, die Fal­ten auf ih­rer Stirn, die Hal­tung ih­rer ma­ge­ren Fin­ger, alle die­se ver­trau­ten Ein­zel­hei­ten tra­ten ihm jetzt wie­der vor die See­le.

Und in­dem er sich fest an den Dok­tor klam­mer­te, stiess er einen Seuf­zer nach dem and­ren aus. Sei­ne schlot­tern­den Knie wank­ten, sei­ne gan­ze um­fang­rei­che Fi­gur wur­de von hef­ti­gem Schluch­zen er­schüt­tert.

»Mei­ne Mut­ter, mei­ne arme lie­be Mut­ter« stam­mel­te er ein über das an­de­re Mal.

Sein Beglei­ter, der im­mer noch an­ge­hei­tert war und sich mit der Ab­sicht trug, den Abend an ir­gend ei­nem je­ner Orte zu ver­brin­gen, die er im ge­hei­men zu be­su­chen pfleg­te, wur­de über die­sen hef­ti­gen Trau­er­an­fall sehr un­ge­dul­dig. Er re­de­te ihm zu, sich et­was am Ufer ins Gras zu set­zen und ver­liess ihn nach ei­ner Wei­le un­ter dem Vor­wan­de ei­nes drin­gen­den Kran­ken­be­su­ches.

Ca­ra­van sass hier lan­ge und wein­te sich aus. End­lich, nach­dem sei­ne Trä­nen ver­siecht wa­ren und all sein Leid an sei­nem geis­ti­gen Auge so­zu­sa­gen vor­über­ge­zo­gen war, fand er wie­der et­was Trost, eine Art Ruhe, wie einen plötz­li­chen Still­stand sei­ner Ge­füh­le.

Der Mond war auf­ge­gan­gen und sein mil­des Licht er­leuch­te­te den Ho­ri­zont. Sil­ber­ne Re­fle­xe bra­chen sich an den säu­seln­den Blät­tern der Pap­peln, und das fer­ne Geräusch auf der Ebe­ne klang nur noch wie das Fal­len des Schnees; der Fluss trug kei­ne Ster­ne mehr, da­für glänz­te er aber wie eine Perl­mut­ter­scha­le, auf der ein­zel­ne gold­glän­zen­de Fur­chen ge­zo­gen schie­nen. Die Luft war mil­de und noch im­mer spür­te man den wür­zi­gen Blü­ten­duft. Es lag et­was Weich­li­ches in die­sem Schlum­mer der Erde, aber es pass­te zu Ca­ra­van’s Stim­mung, und mit Be­ha­gen ge­noss er die lieb­li­che Ruhe der Nacht. Er at­me­te lang­sam und glaub­te zu füh­len, dass sei­nen gan­zen Kör­per eine an­ge­neh­me Fri­sche, eine sanf­te Ruhe und sei­ne See­le ein über­ir­di­scher Trost durch­drin­ge. Er kämpf­te ab­sicht­lich ge­gen die­ses be­hag­li­che Ge­fühl, in­dem er im­mer »mei­ne Mut­ter, mei­ne arme Mut­ter!« wie­der­hol­te, und sich in ei­ner Re­gung na­tür­li­chen An­stands­ge­füh­les zum Wei­nen zu zwin­gen such­te; aber er konn­te nicht mehr wei­nen, er konn­te selbst sei­nen Ge­dan­ken nicht mehr jene trau­ri­ge Rich­tung ge­ben, die ihn vor­hin hat­te so hef­tig schluch­zen las­sen.

End­lich er­hob er sich, um nach Hau­se zu ge­hen; er mach­te kur­ze Schrit­te, wie wenn er sich von der Hei­ter­keit der ihn um­ge­ben­den Na­tur nicht tren­nen könn­te, und sein Herz blieb wi­der Wil­len fried­lich be­wegt.

Als er an die Brücke kam, be­merk­te er das Licht der letz­ten schon zur Ab­fahrt be­rei­ten Tram­way und wei­ter hin­ten die er­leuch­te­ten Fens­ter des Café du Glo­be.

Da über­kam ihn das Be­dürf­nis, ir­gend­je­man­den sein Un­glück zu er­zäh­len, sein Mit­leid zu er­we­cken, sich ge­wis­ser­mas­sen in­ter­essant zu ma­chen. Er ver­fiel wie­der in sei­ne trau­ri­ge Hal­tung, öff­ne­te die Türe und ging auf das Buf­fet zu, wo der Chef all­zeit thron­te. Er hat­te auf einen ef­fekt­vol­len Au­gen­blick ge­rech­net, wie alle Welt auf ihn zu­kom­men, ihm die Hand rei­chen und ihn fra­gen wür­de: »Nun, was ha­ben Sie?« Aber nie­mand be­merk­te sein ver­stör­tes We­sen. Er stütz­te sich mit dem Elln­bo­gen auf das Buf­fet, be­grub das Ge­sicht in den Hän­den und mur­mel­te: »Mein Gott, mein Gott!«

Der Chef sah ihn an.

»Sie sind krank, Herr Ca­ra­van?«

»Nein, mein ar­mer Freund!« ant­wor­te­te er, »aber mei­ne Mut­ter ist heu­te ge­stor­ben.«

Der an­de­re mach­te ein zer­streu­tes »Ach!« und als ein Gast aus dem Hin­ter­grun­de des Zim­mers »Bit­te, ein Glas Bier« rief, ant­wor­te­te er so­fort über­laut: »Hier, so­gleich! … es kommt schon« und stürz­te fort, den ver­wun­der­ten Ca­ra­van al­lein ste­hen las­send.

An dem­sel­ben Ti­sche, wo er sie vor dem Es­sen ge­se­hen hat­te, sas­sen noch die drei Do­mi­no­lieb­ha­ber bei ih­rem Spie­le. Ca­ra­van nä­her­te sich ih­nen mit ei­ner Mie­ne zum Er­bar­men. Als ihn kei­ner zu be­mer­ken schi­en, ent­schloss er sich, zu­erst zu spre­chen.

»Mir ist so­eben ein großes Leid ge­sche­hen«, sag­te er.

Sie ho­ben alle drei gleich­zei­tig den Kopf ein we­nig, aber ihre Au­gen blie­ben auf die Stei­ne ge­hef­tet, die sie in den Hän­den hat­ten. »Nun, was denn?« -- »Mei­ne Mut­ter ist ge­stor­ben«. -- »Ach Teu­fel!« mur­mel­te ei­ner von ih­nen mit je­nem halb­be­trüb­ten Ge­sicht, wie es die Gleich­gül­ti­gen zu ma­chen pfle­gen. Ein zwei­ter, der nichts Rech­tes zu sa­gen wuss­te, ließ eine Art mit­lei­di­gen Seuf­zer hö­ren, in­dem er die Stirn in Fal­ten zog, wäh­rend der drit­te sich dem Spie­le wie­der zu­wand­te, als däch­te er: »Das ist auch wei­ter nichts.«

Ca­ra­van hat­te ein oder andres je­ner Wor­te er­war­tet, die »von Her­zen« zu kom­men pfle­gen; als er sich aber so emp­fan­gen sah, ging er wie­der fort. Ihre Gleich­gül­tig­keit bei dem Kum­mer ei­nes Freun­des em­pör­te ihn, wenn­gleich er selbst für den Au­gen­blick ja kei­nen so tie­fen Schmerz emp­fand.

Er trat wie­der auf die Stras­se hin­aus.


Sei­ne Frau er­war­te­te ihn schon im Schlaf­ge­wan­de; sie sass auf ei­nem klei­nen Ses­sel nahe des of­fe­nen Fens­ters und dach­te im­mer­fort an die Erb­schaft.

»Zieh Dich aus«, sag­te sie, »wir kön­nen im Bett noch plau­dern.«

Er schau­te auf, und mit dem Auge nach der Zim­mer­de­cke wei­send, sag­te er:

»Aber … da oben … es ist nie­mand da.«

»Ver­zeih, Ro­sa­lie ist bei ihr, Du kannst sie um drei Uhr mor­gens ab­lö­sen, wenn Du erst mal ein Weil­chen ge­schla­fen hast.«

Er zog sich trotz­dem nur teil­wei­se aus, um für alle Fäl­le be­reit zu sein, knüpf­te sich ein Hals­tuch um, und be­gab sich dann zu sei­ner Frau, wel­che schon zu Bett ge­gan­gen war.

Eine Zeit lang sas­sen sie auf­recht ne­ben­ein­an­der. Sie dach­te für sich hin.

Ihre Fri­sur war auch zu die­ser Zeit durch ein Ro­sa­band zu­sam­men­ge­rafft und die­ses Band hing gleich­falls auf dem einen Ohr her­un­ter, als müs­se das nun ein­mal so bei al­len Bän­dern sein, die sie trug.

»Weißt Du, ob Dei­ne Mut­ter ein Te­sta­ment ge­macht hat?« frag­te sie plötz­lich, sich zu ihm um­wen­dend.

»Ich … ich … weiß nicht … ich glau­be nicht …« sag­te er zö­gernd. »Nein, sie hat ohne Zwei­fel keins ge­macht.«

Ma­da­me Ca­ra­van sah ih­rem Mann voll ins Ge­sicht.

»Das ist schmach­voll, weißt Du!« sag­te sie mit tiefer zor­ni­ger Stim­me. »Denn, sieh mal, seit zehn Jah­ren pla­gen wir uns da­mit, sie zu pfle­gen, sie bei uns woh­nen zu las­sen und sie zu er­näh­ren. Dei­ne Schwes­ter hät­te nicht so viel für sie ge­tan und ich wahr­haf­tig auch nicht, wenn ich ge­wusst hät­te, wie sie uns das loh­nen wür­de! Das wirft einen trü­ben Schat­ten auf ihr An­den­ken. Du könn­test mir frei­lich ein­wen­den, dass sie uns ihre Pen­si­on be­zahl­te; aber die Pfle­ge sei­ner Kin­der kann man doch nicht mit Geld be­zah­len, man kann sie nur nach sei­nem Tode durch ein Te­sta­ment ver­gel­ten. So wer­den es alle an­stän­di­gen Leu­te hal­ten. Das habe ich nun von al­len Mü­hen und Sche­re­rei­en ge­habt. Wahr­haf­tig, das ist ei­gen­tüm­lich, muss man sa­gen; wirk­lich ei­gen­tüm­lich!«

»Mein Schatz! ich bit­te Dich«, rief Ca­ra­van ein über das an­de­re Mal be­stürzt aus, »ich bit­te Dich, ich fle­he Dich an, höre auf.«

Auf die Dau­er be­ru­hig­te sie sich und sag­te schliess­lich in ih­rem all­täg­li­chen Tone:

»Mor­gen früh müs­sen wir Dei­ne Schwes­ter be­nach­rich­ti­gen.«

»Das ist wahr«; sag­te er, we­nig er­baut, »dar­an hat­te ich nicht ge­dacht. Ich wer­de ihr gleich früh eine De­pe­sche sen­den.«

Aber als eine Frau, die an al­les denkt, hielt sie ihn zu­rück.

»Nein, schi­cke die De­pe­sche erst ge­gen zehn oder elf Uhr ab, da­mit wir Zeit ha­ben, uns um­zu­se­hen, ehe sie an­kommt. Von Cha­ren­ton bis hier­her braucht sie höchs­tens zwei Stun­den. Wir wer­den ihr sa­gen, Du hät­test voll­stän­dig den Kopf ver­lo­ren ge­habt. Wenn wir sie so zei­tig be­nach­rich­ti­gen, wer­den wir nicht mit al­lem fer­tig wer­den.«

Aber Ca­ra­van schlug sich vor die Stir­ne und mit dem furcht­sa­men Tone, in den er stets ver­fiel, wenn er von sei­nem Chef sprach, bei des­sen Na­mens­nen­nung er schon zit­ter­te, sag­te er:

»Man muss auch im Mi­nis­te­ri­um Nach­richt ge­ben.«

»Wa­rum Nach­richt ge­ben!« ant­wor­te­te sie. »Bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten ist man stets ent­schul­digt, wenn man et­was ver­gisst. Gib lie­ber kei­ne Nach­richt, glau­be mir. Dein Chef kann gar nichts sa­gen und Du wirst ihn in eine grau­sa­me Ver­le­gen­heit brin­gen.«

»Ach ja!« sag­te er, »was das an­be­trifft, ent­schie­den, und in einen rie­si­gen Zorn dazu, wenn er sieht, dass ich nicht kom­me. Ja! Du hast recht, das ist eine herr­li­che Idee. Er muss sich be­ru­hi­gen und schwei­gen, wenn ich ihm spä­ter den Tod der Mut­ter an­zei­gen wer­de.«

Und ganz ent­zückt von dem Scherz rieb sich der Be­am­te die Hän­de, wenn er an den Zorn sei­nes Chefs dach­te, wäh­rend oben über ihm, ne­ben dem Leich­nam sei­ner Mut­ter, das ein­ge­schla­fe­ne Dienst­mäd­chen hef­tig schnarch­te.

Ma­da­me Ca­ra­van wur­de wie­der nach­denk­lich, als sei sie mit et­was be­schäf­tigt, was sich nicht gut sa­gen lässt.

»Dei­ne Mut­ter«, ent­schloss sie sich end­lich, »hat Dir doch ganz si­cher ihre Uhr ver­macht, nicht wahr, das jun­ge Mäd­chen mit dem Ball­spiel?«

»Ja, ja«, sag­te er nach ei­ni­gem Nach­den­ken, »sie hat es mir ge­sagt, aber es ist schon so lan­ge her, da­mals als sie zu uns kam; ja sie sag­te: ›Die Pen­du­le da wird für Dich sein, wenn Du gut für mich sorgst.‹

Das be­ru­hig­te Ma­da­me Ca­ra­van und sie wur­de wie­der et­was hei­te­rer.

»Dann müs­sen wir sie aber her­un­ter­ho­len, weißt Du, weil, wenn wir Dei­ne Schwes­ter kom­men las­sen, sie uns dar­an hin­dern wird.«

»Glaubst Du?« … sag­te er zö­gernd.

»Ge­wiss«, sag­te sie hef­tig, »glau­be ich das; ein­mal hier, ist al­les zu spät. Das ist ge­ra­de wie mit der Kom­mo­de in ih­rem Zim­mer, die die Mar­mor­plat­te hat; sie hat sie mir ge­ge­ben, mir, als sie ein­mal sehr gut ge­launt war. Wir wol­len sie auch gleich mit her­un­ter­ho­len.«

Ca­ra­van mach­te ein et­was un­gläu­bi­ges Ge­sicht.

»Aber, mei­ne Lie­be!« sag­te er, »das ist doch eine große Verant­wor­tung!«

»Ach wirk­lich!« wand­te sie sich hef­tig zu ihm, »Du wirst stets der­sel­be blei­ben. Dei­ne Kin­der könn­ten vor Hun­ger ster­ben, ehe Du Dich rüh­ren wür­dest. Von dem Au­gen­blick an, wo sie mir die Kom­mo­de ge­ge­ben hat, ist die­se un­ser Ei­gen­tum; oder nicht? Und wenn Dei­ner Schwes­ter das nicht passt, so mag sie’s nur sa­gen, mir näm­lich, ver­stehst Du? Ich ma­che mir den Kuckuck aus Dei­ner Schwes­ter. Vor­wärts, steh auf! Wir wol­len das, was Dei­ne Mut­ter uns ge­ge­ben hat, gleich her­un­ter ho­len.«

Zit­ternd und ohne wei­te­ren Wi­der­spruch ver­liess Ca­ra­van das Bett; als er aber sei­ne Bein­klei­der an­zie­hen woll­te, hin­der­te sie ihn dar­an:

»Wa­rum Dich lan­ge an­zie­hen? Du hast ja die Un­ter­ho­sen an, das ge­nügt. Ich gehe auch, wie ich bin.«

Und alle bei­de gin­gen im Nacht­ko­stüm her­aus, stie­gen ge­räusch­los die Trep­pe hin­auf, öff­ne­ten vor­sich­tig die Türe und tra­ten in das Zim­mer, wo die vier Ker­zen und der Palm­we­del im Weih­was­ser al­lein bei der star­ren To­ten Wa­che zu hal­ten schie­nen. Denn Ro­sa­lie lag in ih­rem Ses­sel, die Bei­ne von sich ge­streckt, die Hän­de ge­fal­tet, den Kopf zur Sei­te hän­gend, und schnarch­te aus Lei­bes­kräf­ten mit of­fen­ste­hen­dem Mun­de.

Ca­ra­van nahm die Uhr. Es war dies ei­ner je­ner gro­tes­ken Kunst­wer­ke, wie man sie zur­zeit des ers­ten Kai­sers so viel­fach dar­stell­te: Ein jun­ges Mäd­chen in Gold­bron­ze, das Haupt mit al­ler­lei Blu­men ge­schmückt, trug in der Hand einen Ku­gel­fän­ger, wäh­rend die Schnur mit der Ku­gel dar­an als Per­pen­di­kel diente.

»Gib mir das«, sag­te ihm sei­ne Frau, »und nimm Du die Mar­mor­plat­te von der Kom­mo­de.«

Er ge­horch­te keu­chend, denn es kos­te­te ihm kei­ne klei­ne Mühe, die schwe­re Plat­te auf die Schul­tern zu he­ben.

Dann gin­gen bei­de fort. Ca­ra­van schritt ge­bückt durch die Tür und stieg zit­ternd die Trep­pe hin­un­ter; sei­ne Frau blieb hin und wie­der ste­hen und leuch­te­te ihm mit dem Licht in der einen Hand, wäh­rend sie die Uhr un­ter dem lin­ken Arme trug.

Als sie wie­der in ih­ren Räu­men wa­ren, sag­te sie mit ei­nem tie­fen Seuf­zer:

»So, das Schwers­te wäre ge­tan; nun wol­len wir das Üb­ri­ge ho­len.«

Aber die Schub­la­den des Mö­bels wa­ren bis oben an mit den Sa­chen der al­ten Frau voll­ge­pfropft. Man muss­te die­se erst ir­gend­wo un­ter­brin­gen. Ma­da­me Ca­ra­van kam ein Ge­dan­ke.

»Geh, hole doch den Holz­kas­ten, der im Flur un­ten steht; er ist kei­ne vier­zig Sous wert und man kann ihn ganz gut hier­her stel­len.«

Und als der Kas­ten oben war, be­gan­nen sie um­zuräu­men.

Sie hol­ten nach ein­an­der die Man­chet­ten, die Krä­gel­chen, die Müt­zen und alle die ver­schie­de­nen Klei­nig­kei­ten der al­ten Frau aus den Be­hält­nis­sen, leg­ten sie hin­ter sich und ord­ne­ten sie spä­ter sorg­fäl­tig in dem Holz­kas­ten, um da­durch Ma­da­me Braux, das an­de­re Kind der Ver­stor­be­nen, zu täu­schen, wenn sie am nächs­ten Tage kom­men wür­de.

Hier­mit fer­tig, tru­gen sie zu­erst die Schub­la­den her­aus, dann das Mö­bel­stück selbst, in­dem je­des an ei­nem Ende an­fass­te; und nun such­ten bei­de län­ge­re Zeit, wo es sich am Bes­ten hin­stel­len ließ. End­lich ent­schied man sich für das Schlaf­zim­mer, wo es dem Bett ge­gen­über zwi­schen den bei­den Fens­tern zu ste­hen kam.

Nach­dem die Kom­mo­de ein­mal an ih­rem Plat­ze war, tat Ma­da­me Ca­ra­van ihre ei­ge­ne Wä­sche hin­ein. Die Uhr wur­de auf dem Ka­min im Spei­se­zim­mer auf­ge­stellt, und das Ehe­paar be­trach­te­te sich nun, wel­chen Ein­druck sie mach­te.

»Sehr gut«, sag­te sie.

»Ja, es macht sich so sehr gut«, ant­wor­te­te er.

Dann gin­gen sie wie­der zu Bett. Sie lösch­te das Licht aus und bald schlief al­les in bei­den Eta­gen des Hau­ses.

Es war schon lich­ter Tag, als Ca­ra­van die Au­gen öff­ne­te. Beim Er­wa­chen war ihm an­fangs et­was wirr im Kop­fe, und erst all­mäh­lich kam ihm die Erin­ne­rung an al­les wie­der. Die­se Erin­ne­rung gab ihm einen neu­en Stich ins Herz und er sprang, dem Wei­nen wie­der sehr nahe, aus dem Bett.

Schnell ging er nach oben und trat in das Zim­mer, wo Ro­sa­lie noch in dem­sel­ben tie­fen Schlum­mer lag, in dem sie die gan­ze Nacht ver­bracht hat­te. Nach­dem er die­se an ihre Ar­beit ge­schickt hat­te, steck­te er neue Ker­zen auf die Leuch­ter und be­trach­te­te dann sei­ne Mut­ter, wäh­rend in sei­nem Ge­hirn jene vor­über­ge­hen­den Spu­ren tiefe­rer Ge­dan­ken, halb re­li­gi­öse, halb phi­lo­so­phi­sche Vor­stel­lun­gen, auf­tauch­ten, wel­che selbst Leu­te von mit­tel­mäs­si­gem Ver­stan­de beim An­blick des To­des zu emp­fin­den pfle­gen.

Aber schon rief sei­ne Frau wie­der nach ihm und er stieg her­un­ter. Sie hat­te eine Lis­te von al­lem an­ge­fer­tigt, was am Mor­gen zu ge­sche­hen hät­te, und über­reich­te nun die­ses Ver­zeich­nis ih­rem ver­blüff­ten Gat­ten. Er las:

1. Auf der Mai­rie den To­des­fall an­zei­gen;

2. den Lei­chen­be­schau­er her­bei bit­ten;

3. den Sarg be­stel­len;

4. bei der Kir­che vor­bei­ge­hen;

5. bei der Be­gräb­nis-An­stalt al­les be­stel­len;

6. bei der Dru­cke­rei To­des­an­zei­gen be­stel­len;

7. zum No­tar ge­hen;

8. den Ver­wand­ten te­le­gra­fie­ren.

Fer­ner noch eine Men­ge klei­ner Be­sor­gun­gen.

Nach kur­z­er Zeit nahm er sei­nen Hut und ging.

Dann, als die Nach­richt sich ver­brei­tet hat­te, ka­men all­mäh­lich die Nach­ba­rin­nen, um die Lei­che zu se­hen.

Beim Fri­seur im Erd­ge­schoss hat­te zwi­schen die­sem, der ge­ra­de einen Kun­den ra­sier­te, und sei­ner Frau über die­sen Punkt sich eine klei­ne Sze­ne ab­ge­spielt.

»Das war noch eine«, sag­te die Frau, em­sig ih­ren Strumpf stri­ckend, »und eine Gei­zi­ge dazu, wie es nicht leicht eine zwei­te gibt. Ich konn­te sie nicht gut lei­den, das ist wahr; aber ich wer­de doch wohl ’mal zu ihr hin­auf­ge­hen müs­sen.«

»Was für Ide­en!« brumm­te ihr Mann, wäh­rend er den Kun­den ein­seif­te. »Nur eine Frau kann auf so et­was kom­men. Sie är­gern uns nicht nur, so lan­ge sie le­ben; nein, auch noch im Tode müs­sen sie uns be­läs­ti­gen.«

»Es ist stär­ker wie ich«, ent­geg­ne­te sei­ne Frau, ohne sich um sein Ge­brum­me zu küm­mern; »ich muss her­auf! Es quält mich schon den gan­zen Mor­gen. Ich müss­te sonst zeit­le­bens dar­an den­ken; aber wenn ich mir ihr Ge­sicht gut ein­ge­prägt habe, wer­de ich nach­her Ruhe ha­ben.«

Der Bar­bier zuck­te mit den Ach­seln und flüs­ter­te dem Herrn zu, des­sen Ba­cke er ge­ra­de be­ar­bei­te­te:

»Ich bit­te Sie, was das für Ide­en sind; ja, die­se Teu­fels-Frau­en. Mir wür­de es we­nig Freu­de ma­chen, einen To­ten an­zu­schau­en.«

Aber sei­ne Frau hat­te es ge­hört und ent­geg­ne­te mun­ter:

»Es ist nun ’mal nicht an­ders.«

Dann leg­te sie ih­ren Strumpf fort und be­gab sich in die ers­te Eta­ge hin­auf.

Zwei Nach­ba­rin­nen be­fan­den sich schon oben und plau­der­ten mit Ma­da­me Ca­ra­van, wel­che ih­nen ge­nau alle Ein­zeln­hei­ten er­zäh­len muss­te.

Man be­gab sich ins Ster­be­zim­mer. Die vier Frau­en schli­chen auf den Ze­hen her­ein, be­spreng­ten eine nach der and­ren die Bett­de­cke mit Weih­was­ser, knie­ten nie­der, mach­ten das Kreuz­zei­chen und spra­chen ein kur­z­es Ge­bet; dann er­ho­ben sie sich wie­der und be­trach­te­ten lan­ge mit wei­tauf­ge­ris­se­nen Au­gen, den Mund halb of­fen, die Lei­che, wäh­rend die Schwie­ger­toch­ter der To­ten sich be­müh­te, hin­ter ih­rem vor­ge­hal­te­nen Ta­schen­tu­che ein herz­zer­bre­chen­des Schluch­zen her­vor­zu­brin­gen.

Als sie sich zum Her­aus­ge­hen wand­te, sah sie an der Türe Ma­rie-Loui­se und Phil­ipp-Au­gust ste­hen, bei­de im Hemd, wel­che neu­gie­rig zu­schau­ten. Sie ver­gass ih­ren künst­lich er­zeug­ten Schmerz und ging mit hoch­ge­ho­be­ner Hand auf sie zu, in­dem sie ih­nen zu­rief:

»Marsch hin­aus mit Euch, Ihr in­fa­men Ran­gen!«

Zehn Mi­nu­ten spä­ter stieg sie mit ei­ner neu­en Schar Nach­ba­rin­nen aber­mals hin­auf; man be­spreng­te wie­der­um die Schwie­ger­mut­ter mit Weih­was­ser, man be­te­te und wein­te. Aber plötz­lich be­merk­te sie, noch ganz mit ih­ren Auf­ga­ben be­schäf­tigt, aber­mals die bei­den Kin­der hin­ter sich. Sie ver­ab­reich­te je­dem ge­wis­sen­haft eine Schel­le; aber das nächs­te Mal gab sie dar­um nicht bes­ser Acht. Bei je­der Wie­der­ho­lung der Be­su­che folg­ten ihr im­mer wie­der die bei­den Nichts­nut­ze, knie­ten eben­falls in ei­ner Ecke nie­der und mach­ten ge­nau al­les nach, was sie die Mut­ter tuen sa­hen.

Nach­mit­tags ver­min­der­te sich die Schar der Neu­gie­ri­gen et­was; schliess­lich kam nie­mand mehr. Ma­da­me Ca­ra­van zog sich in ihr Zim­mer zu­rück, um alle Vor­be­rei­tun­gen für das Lei­chen­be­gäng­nis zu tref­fen und die Tote blieb wie­der al­lein.

Das Fens­ter des Ster­be­zim­mers stand of­fen; eine drücken­de Hit­ze drang mit ein­zel­nen Staub­wol­ken durch das­sel­be ein. Die Flam­men der vier Ker­zen in der Nähe der To­ten fla­cker­ten un­ru­hig hin und her, und auf den De­cken, über das Ge­sicht mit den ge­schlos­se­nen Au­gen, über die ge­fal­te­ten Hän­de kro­chen klei­ne Flie­gen, flo­gen fort und ka­men wie­der, setz­ten sich bald hier, bald dort­hin und schie­nen zu er­war­ten, dass die Stun­de ih­rer Mahl­zeit bald kom­men wer­de.

Ma­rie-Loui­se und Phil­ipp-Au­gust hat­ten sich her­aus­be­ge­ben und trie­ben sich auf der Stras­se um­her. Bald wa­ren sie von ei­ner Schar Spiel­ge­fähr­ten um­ge­ben, haupt­säch­lich klei­nen Mäd­chen, die mit dem auf­ge­weck­ten Sinn der Kin­der am schnells­ten alle Neu­ig­kei­ten in der Stadt auf­grif­fen. Sie frag­ten ge­nau wie Er­wach­se­ne: -- »Ist Dei­ne Groß­mut­ter tot?« -- »Ja, seit ges­tern Abend.« -- »Wie ist das ei­gent­lich, wenn je­mand tot ist?« -- Und Ma­rie-Loui­se er­zähl­te ih­nen al­les, von den Lich­tern, dem Weih­we­del, von der Lei­che selbst. Da er­wach­te na­tür­lich eine große Neu­gier­de bei den Kin­dern und sie ver­lang­ten sehn­süch­tig, auch in das Zim­mer zu der Lei­che her­auf zu kön­nen. Ma­rie-Loui­se ar­ran­gier­te als­bald eine ers­te Par­tie, fünf Mäd­chen und fünf Jun­gens, die gröss­ten und kühns­ten. Sie muss­ten, um nicht ent­deckt zu wer­den, un­ten an der Trep­pe ihre Schu­he aus­zie­hen; die klei­ne Ge­sell­schaft schlich sich ins Haus und stahl sich lei­se, wie eine Schar Mäu­se, die Trep­pe her­auf.

Ein­mal im Zim­mer, ahm­te das klei­ne Mäd­chen sei­ne Mut­ter nach und re­gel­te das Ze­re­mo­ni­ell. Es führ­te sei­ne Spiel­ge­fähr­ten fei­er­lich her­ein, knie­te nie­der, mach­te das Kreuz­zei­chen, be­weg­te die Lip­pen, er­hob sich, be­spreng­te das Bett, und wäh­rend die Kin­der dicht zu­sam­men­ge­drängt sich ängst­lich nä­her­ten, um mit neu­gie­ri­gem Schau­er das Ge­sicht und die Hän­de zu be­trach­ten, be­gann es plötz­lich das Schluch­zen nach­zu­ma­chen, in­dem es die Au­gen mit sei­nem klei­nen Ta­schen­tu­che be­deck­te. Dann schi­en es eben­so plötz­lich wie­der ge­trös­tet, in­dem es der draus­sen War­ten­den ge­dach­te und dräng­te schleu­nigst alle her­aus, um gleich dar­auf eine zwei­te Schar und dann noch eine drit­te her­ein­zu­füh­ren; denn die gan­ze lie­be Stras­sen­ju­gend bis auf die klei­nen zer­lump­ten Bet­tel­kin­der rann­te zu die­sem neu­ar­ti­gen Ver­gnü­gen her­bei. Je­des Mal in­sze­nier­te die Klei­ne von Neu­em die gan­ze Zie­re­rei, die sie mit voll­kom­me­ner Si­cher­heit ih­rer Mut­ter nach­ge­macht hat­te.


Auf die Dau­er hielt auch die­ser Zeit­ver­treib nicht vor. Ein an­de­res Spiel riss die Kin­der mit fort, und von Neu­em blieb die alte Groß­mut­ter al­lein, ganz ver­ges­sen von al­ler Welt.

Dun­kel­heit er­füll­te all­mäh­lich das Zim­mer, und auf dem dür­ren run­ze­li­gen Ge­sicht der Lei­che tanz­ten die Re­fle­xe der auf- und nie­der­fla­ckern­den Lich­ter.

Ge­gen acht Uhr kam Ca­ra­van her­auf, schloss das Fens­ter und steck­te neue Ker­zen auf. Sei­ne Hal­tung war jetzt ru­hi­ger. Er hat­te sich an den An­blick der To­ten ge­wöhnt, als hät­te sie schon seit Mo­na­ten da ge­le­gen. Er über­zeug­te sich so­gar, dass noch nicht die ge­rings­te Zer­set­zung sicht­bar war und sprach dies auch sei­ner Frau ge­gen­über aus, als sie sich ge­ra­de zu Ti­sche set­zen woll­ten.

»Na­tür­lich«, ant­wor­te­te die­se, »sie ist wie von Holz, sie wür­de sich ein gan­zes Jahr so hal­ten.«

Schwei­gend ass man die Sup­pe. Die Kin­der, die man den gan­zen Tag hat­te sich her­um­trei­ben las­sen, schlie­fen auf ih­ren Stüh­len ein und al­les ver­hielt sich schweig­sam.

Plötz­lich fing die Lam­pe an nied­ri­ger zu bren­nen. Ma­da­me Ca­ra­van schraub­te den Docht hö­her, aber die Schrau­be mach­te ein knir­schen­des Geräusch, die Flam­me zuck­te ei­ni­ge Male hef­ti­ger auf und dann ver­lösch­te sie plötz­lich ganz. Man hat­te ver­ges­sen, Öl zu ho­len. Zum Krä­mer zu schi­cken hät­te nur noch das Es­sen ver­zö­gert; man such­te nach Ker­zen, aber es gab wei­ter kei­ne als die, wel­che vor­hin oben Herr Ca­ra­van frisch auf­ge­steckt hat­te.

Ma­da­me Ca­ra­van sand­te kurz ent­schlos­sen Ma­rie-Loui­se her­auf, um schnell zwei da­von zu ho­len, und man sass so lan­ge im Dun­keln.

Man konn­te ge­nau den Schritt des Kin­des hö­ren, wel­ches die Trep­pe her­auf­stieg; dann dau­er­te es eine Wei­le und plötz­lich kam das Kind ei­ligst wie­der her­un­ter­ge­stürzt. Es öff­ne­te die Tür, noch leb­haf­ter und er­reg­ter als am Abend vor­her, wo es den Un­glücks­fall an­ge­kün­digt hat­te und rief keu­chend:

»Oh Papa! Groß­ma­ma klei­det sich an!«

Ca­ra­van wand­te sich so er­schreckt um, dass sein Stuhl ge­gen die Wand fiel.

»Was sagst Du?« … stot­ter­te er. »Was hast Du ge­sagt?« …

»Groß … Groß­ma … Groß­ma­ma … klei­det sich an … sie kommt gleich her­un­ter« … stot­ter­te Ma­rie-Loui­se, hal­b­er­stickt vor Er­re­gung.

Er rann­te wie när­risch die Trep­pe her­auf, ge­folgt von sei­ner halb­be­täub­ten Frau; aber an der Tür des zwei­ten Stockes hielt er, von Auf­re­gung über­wäl­tigt, einen Au­gen­blick inne. Er wag­te nicht ein­zu­tre­ten. Was wür­den sei­ne Au­gen er­bli­cken? Ma­da­me Ca­ra­van, be­herz­ter wie er, drück­te auf die Klin­ke und öff­ne­te ent­schlos­sen die Türe.

Das Zim­mer war noch fins­te­rer als vor­her, und in der Mit­te des­sel­ben be­weg­te sich eine große ha­ge­re Ge­stalt. Sie war wie­der le­ben­dig ge­wor­den, die alte Frau; und in­dem sie aus ih­rer Lethar­gie er­wacht war, be­vor ihr noch das Be­wusst­sein recht zu­rück­kehr­te, hat­te sie sich zur Sei­te ge­wen­det und, auf einen Elln­bo­gen ge­stützt, drei der Lich­ter, die in der Nähe des To­ten­bet­tes brann­ten, aus­ge­löscht. Dann ge­wann sie all­mäh­lich ihre Kräf­te wie­der und stand auf, um ihre Klei­der zu su­chen. Das Feh­len ih­rer Kom­mo­de hat­te sie an­fangs in Ver­le­gen­heit ge­bracht, aber all­mäh­lich hat­te sie ihre Sa­chen auf dem Bo­den des Holz­kof­fers ge­fun­den und sich ru­hig an­ge­klei­det. Nach­dem sie dann das Ge­fäss mit Weih­was­ser aus­ge­leert, den Palm­zweig wie­der hin­ter den Spie­gel ge­steckt und die Stüh­le wie­der an ihre Plät­ze ge­rückt hat­te, woll­te sie ge­ra­de her­un­ter­ge­hen, als ihr Sohn und ihre Schwie­ger­toch­ter er­schie­nen.

Ca­ra­van stürz­te vor, er­griff ihre Hän­de und küss­te sie mit Trä­nen in den Au­gen, wäh­rend hin­ter ihm sei­ne Frau trotz ih­res ver­driess­li­chen Ge­sich­tes ein über das an­de­re Mal aus­rief:

»Wel­ches Glück, oh, wel­ches Glück!«

Aber die alte Frau er­wi­der­te die­se Zärt­lich­keit nicht; sie schi­en gar kein Ver­ständ­nis da­für zu ha­ben. Steif wie eine Bild­säu­le mit stie­rem Auge frag­te sie nur, ob das Es­sen bald be­reit sei.

»Aber ge­wiss, Mama! Wir war­ten nur auf Dich!« stot­ter­te er, voll­stän­dig den Kopf ver­lie­rend. Und mit un­ge­wohn­tem Ei­fer nahm er ih­ren Arm, wäh­rend Ma­da­me Ca­ra­van jr. das Licht er­griff und lang­sam, Schritt für Schritt die Trep­pe her­ab­ge­hend, vor ih­nen her leuch­te­te, wie sie es in der letz­ten Nacht bei ih­rem Man­ne ge­tan hat­te, als er die Mar­mor­plat­te trug.

Als sie an die ers­te Eta­ge kam, hät­te sie bei­na­he ei­ni­ge Leu­te um­ge­rannt, die ge­ra­de die Trep­pe her­auf­stie­gen. Es wa­ren die Ver­wand­ten aus Cha­ren­ton, Ma­da­me Braux, ge­folgt von ih­rem Gat­ten.

Die Frau war von ziem­li­cher Kör­per­grös­se, dick, und in Fol­ge von Was­ser­sucht so auf­ge­schwol­len, dass sie den Ober­kör­per im­mer zu­rück­leh­nen muss­te. Sie riss vor Schreck die Au­gen weit auf und wäre bei­na­he da­von ge­lau­fen. Ihr Gat­te, ein so­zia­lis­tisch an­ge­hauch­ter Schuh­ma­cher, ein klei­nes haa­ri­ges Männ­chen, wel­ches viel Ähn­lich­keit mit ei­nem Af­fen hat­te, mur­mel­te kalt­blü­tig:

»Was ist da wei­ter? Sie ist wie­der le­ben­dig ge­wor­den.«

So­bald Ma­da­me Ca­ra­van sie er­blick­te, mach­te sie ih­nen al­ler­hand Zei­chen, sich nichts mer­ken zu las­sen; dann sag­te sie sehr laut:

»Seht ’mal an! … Seid Ihr da? … Eine herr­li­che Über­ra­schung!«

Aber Ma­da­me Braux, von Na­tur nicht sehr schlau, hat­te sie nicht ver­stan­den.

»Wir ka­men auf Eure De­pe­sche hin; wir mein­ten, es sei al­les zu Ende«, sag­te sie halb­laut.

Ihr Mann gab ihr von rück­wärts einen klei­nen Rip­pen­sto­ss, um sie zum Schwei­gen zu brin­gen.

»Es war sehr lie­bens­wür­dig von Euch uns ein­zu­la­den«, sag­te er, ein lis­ti­ges Lä­cheln un­ter sei­nem dich­ten Bart ver­ber­gend, »wir sind, wie Ihr seht, so­fort ge­kom­men.«

Hie­rin lag zu­gleich eine klei­ne An­spie­lung auf das ge­spann­te Ver­hält­nis, das schon seit lan­ger Zeit zwi­schen bei­den Fa­mi­li­en herrsch­te. Dann, als die alte Frau auf der letz­ten Stu­fe stand, ging er has­tig auf sie zu, rieb sei­ne haa­ri­ge Wan­ge an der ih­ri­gen und schrie ihr we­gen ih­rer Taub­heit ins Ohr:

»Es geht gut, Mama! im­mer mun­ter, wie?«

Ma­da­me Braux war so er­staunt, die am Le­ben zu fin­den, die sie schon si­cher tot­ge­glaubt hat­te, dass sie sie nicht ein­mal zu küs­sen wag­te. Ihr her­vor­ste­hen­der Leib nahm den schma­len Flur so völ­lig ein, dass die an­de­ren nicht wei­ter konn­ten.

Un­ru­hig und miss­trau­isch mus­ter­te die Alte die­se gan­ze Ge­sell­schaft da vor ihr, aber sie sprach kein Wort. Sie hef­te­te ihre klei­nen grau­en und ste­chen­den Au­gen bald auf den einen, bald auf den an­de­ren, und mach­te sich sicht­lich al­ler­lei Ge­dan­ken; ih­ren Kin­dern war das sehr fa­tal.

»Mama war et­was lei­dend«, sag­te er­läu­ternd Herr Ca­ra­van, »aber es geht jetzt schon wie­der bes­ser. Nicht wahr, Mama! es geht wie­der gut?«

Da ant­wor­te­te die alte Frau im Wei­ter­ge­hen mit ih­rer dür­ren Stim­me wie im Trau­me:

»Es war eine Ohn­macht; ich hör­te Euch die gan­ze Zeit hin­durch.«

Hier­auf folg­te ein ver­le­ge­nes Schwei­gen. Man kam in das Spei­se­zim­mer und setz­te sich zu ei­nem schnell im­pro­vi­sier­ten Es­sen.

Herr Braux al­lein hat­te sei­ne Ruhe be­wahrt. Mit sei­nem Go­ril­la-Ge­sicht schnitt er fort­wäh­rend Gri­mas­sen und ließ hin und wie­der zwei­deu­ti­ge Wor­te fal­len, die sicht­lich alle in Ver­le­gen­heit brach­ten.

Alle Au­gen­bli­cke schell­te es an der Vor­saal­tü­re, und Ro­sa­lie hol­te dann mit ver­le­ge­ner Mie­ne Ca­ra­van her­aus, der sei­ne Ser­vi­et­te hin­warf und schleu­nigst fort­stürz­te. Sein Schwa­ger frag­te ihn schliess­lich, ob er heu­te sei­nen Empfangs­abend hät­te.

»Nein, nur ei­ni­ge Be­stel­lun­gen, sonst nichts«, stot­ter­te er.

Als dann ein Packet ge­bracht wur­de, wel­ches er has­tig öff­ne­te, ka­men die schwarz­ge­rän­der­ten To­des­an­zei­gen zum Vor­schein. Er wur­de rot bis an die Ohren und schloss schleu­nigst den Um­schlag, wor­auf er es in sei­ne Brust­ta­sche steck­te.

Sei­ne Mut­ter hat­te es nicht be­merkt; sie hef­te­te un­aus­ge­setzt ihre Au­gen auf ihre Uhr, de­ren ver­gol­de­tes Ball­spiel auf dem Ka­min­sims sich hin- und her­be­weg­te. Die Ver­le­gen­heit der gan­zen Ge­sell­schaft wur­de im­mer grös­ser und gab sich in ei­nem ei­si­gen Schwei­gen kund.

End­lich wand­te die Alte ihr run­ze­li­ges He­xen-Ge­sicht ih­rer Toch­ter zu und sag­te mit ei­nem deut­li­chen Schim­mer von Bos­heit:

»Mon­tag kannst Du mir ’mal Dei­ne Klei­ne brin­gen; ich möch­te sie se­hen.«

»Gern, lie­be Mama«, sag­te Ma­da­me Braux mit strah­len­dem Ge­sicht, wäh­rend Ma­da­me Ca­ra­van jr., die vor Angst ver­ging, ganz bleich wur­de.

Die bei­den Män­ner fin­gen un­ter­des­sen all­mäh­lich doch zu plau­dern an und be­ga­ben sich, in Er­man­ge­lung ei­nes sons­ti­gen Stof­fes, auf das po­li­ti­sche Ge­biet. Braux, der die re­vo­lu­tio­nären und kom­mu­nis­ti­schen Ide­en ver­trat, ge­riet bald in Ei­fer; sei­ne Au­gen glänz­ten un­ter den bu­schi­gen Brau­en.

»Ei­gen­tum, Herr!« rief er, »ist ein Dieb­stahl an der Ar­beit; -- Erb­schaft ist eine Schmach und Schan­de! …«

Aber hier brach er plötz­lich ab; er wur­de ver­le­gen, wie je­mand, der ge­ra­de et­was recht Dum­mes ge­sagt hat.

»Aber ich däch­te, es wäre jetzt nicht der Au­gen­blick, um über sol­che Din­ge zu strei­ten«, füg­te er in ver­bind­li­che­rem Tone hin­zu.

Die Türe öff­ne­te sich und der »Dok­tor« Che­net trat ein. Im ers­ten Au­gen­blick war er sehr über­rascht, aber er fass­te sich schnell wie­der und nä­her­te sich der al­ten Frau.

»Ah, sieh da, die Mut­ter!« sag­te er. »Es geht gut heu­te? Ja, ja, ich zwei­fel­te kei­nen Au­gen­blick und sag­te, als ich die Trep­pe her­un­ter­ging, zu mir selbst: Ich wet­te, sie kommt wie­der hoch, die Groß­mut­ter.«

»Sie hält eben­so viel aus wie die Pont-Neuf«, füg­te er hin­zu, sie auf die Schul­ter klop­fend. »Wir wer­den se­hen, sie be­gräbt uns alle noch.«

Er setz­te sich und schlürf­te be­hag­lich von dem dar­ge­bo­te­nen Kaf­fee; dann misch­te er sich in die Un­ter­hal­tung der bei­den Män­ner, wo­bei er als al­ter Kom­mu­nard na­tür­lich voll­stän­dig den An­sich­ten des Herrn Braux beipflich­te­te.

Die alte Frau fühl­te sich müde und wünsch­te her­auf­zu­ge­hen. Ca­ra­van stürz­te her­bei, ihr sei­nen Arm zu ge­ben. Da sah sie ihn fest an und sag­te:

»Du, Du bringst mir so­fort mei­ne Kom­mo­de und mei­ne Uhr wie­der her­auf.«

Wäh­rend er hier­zu ein ver­le­ge­nes »Ja­wohl Mama!« stam­mel­te, nahm sie den Arm ih­rer Toch­ter und ver­schwand mit die­ser.

Be­stürzt und stumm, in heil­lo­ser Ver­wir­rung, blieb das Ehe­paar Ca­ra­van zu­rück, wäh­rend Braux sei­nen Kaf­fee schlürf­te und sich da­zwi­schen be­hag­lich die Hän­de rieb.

Plötz­lich stürz­te Ma­da­me Ca­ra­van, aus­ser sich vor Wut, auf ihn zu.

»Sie sind ein Dieb«, brüll­te sie, »ein Lump, eine Ka­nail­le … ich könn­te Ih­nen die Au­gen aus­krat­zen … ich könn­te Ih­nen …« Ihre Stim­me er­stick­te im Zorn, sie wuss­te kei­ne Wor­te mehr zu fin­den; er da­ge­gen lach­te und trank mun­ter wei­ter.

Dann, als sei­ne Frau zu­rück­kam, stürz­te jene sich auf ihre Schwä­ge­rin, und alle bei­de über­schüt­te­ten sich ge­gen­sei­tig mit ei­ner wah­ren Flut von Grob­hei­ten. Es war ein ko­mi­scher An­blick: die eine mit ih­rem auf­ge­trie­be­nen dro­hend her­vor­ste­hen­den Lei­be und der gan­zen ro­bus­ten Ge­stalt, die an­de­re mit die­sen schwäch­li­chen, krank­haf­ten Aus­se­hen, klein und ma­ger. Die Stim­men der bei­den Frau­en wur­den krei­schend, wäh­rend ihre Hän­de vor Wut zit­ter­ten.


Che­net und Braux leg­ten sich ins Mit­tel, letz­te­rer griff sei­ne bes­se­re Hälf­te bei den Schul­tern und schob sie zur Tür hin­aus.

»Geh doch, Ka­mel!« sag­te er, »Du schreist zu toll!«

Von der Stras­se her ver­nahm man noch den Lärm, wie sie sich ge­gen­sei­tig die schöns­ten Grob­hei­ten sag­ten.

Auch Herr Che­net emp­fahl sich.

Das Ehe­paar Ca­ra­van war nun wie­der al­lein. Sch­liess­lich warf sich der Gat­te in einen Ses­sel und sag­te, wäh­rend der kal­te Schweiß ihm von der Stirn rann:

»Was soll ich nun aber mor­gen mei­nem Chef sa­gen?«

*

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

Подняться наверх