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Bertha

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Schon oft hat­te mein al­ter Freund (man hat zu­wei­len Freun­de, die viel äl­ter sind wie wir) der Dok­tor Bon­net, mich ein­ge­la­den, ei­ni­ge Zeit bei ihm in Riom zu­zu­brin­gen. Da ich die Au­ver­gne noch nicht kann­te, so ent­schloss ich mich end­lich, im Som­mer 1876 zu ihm zu ge­hen.

Als ich ei­nes Mor­gens mit dem Früh­zu­ge dort ein­traf, war die ers­te Ge­stalt, wel­che ich auf dem Per­ron be­merk­te, die des Dok­tors. Er trug einen grau­en An­zug und einen run­den schwar­zen Hut aus wei­chem Filz mit brei­tem Ran­de, des­sen ho­her Bo­den sich nach oben zu wie ein Ofen­rohr ver­eng­te; ein ech­ter Au­ver­gna­ten-Hut, der für einen Köh­ler ge­macht schi­en. So be­klei­det ließ der Dok­tor mit sei­nem schmäch­ti­gen Kör­per un­ter der hel­len Ge­wan­dung, auf dem sein di­cker Blond­kopf thron­te, auf den ers­ten Blick den al­ten Jung­ge­sel­len er­ken­nen.

Er um­arm­te mich mit je­ner auf­fal­len­den un­ge­stü­men Freu­de, mit wel­cher die Pro­vinz­ler die An­kunft lan­ger­sehn­ter Freun­de zu be­grüs­sen pfle­gen und rief voll Stolz, in­dem er mit weit­aus­ge­streck­ter Hand rings­um deu­te­te: »Schau, das ist die Au­ver­gne.« Ich sah wei­ter nichts Be­son­de­res, als eine Rei­he von Ber­gen vor mir, de­ren ab­ge­stumpf­te Ke­gel auf ehe­ma­li­ge Vul­ka­ne schlies­sen lies­sen.

Dann wies er mit dem Fin­ger auf den Na­men der Sta­ti­on, der am Bahn­ho­fe an­ge­bracht war, und sag­te fei­er­lich:

»Riom, die Hei­mat der Be­am­ten, der Stolz des Be­am­ten­tums, wel­ches in kür­zes­ter Zeit mehr noch die Hei­mat der Ärz­te sein dürf­te.«

»Wie­so?« frag­te ich.

»Wie­so?« ant­wor­te­te er la­chend. »Dre­hen Sie den Na­men um, dann ha­ben Sie mori, mo­ri­tu­ri … Se­hen Sie, lie­ber Freund, wes­halb ich mich hier nie­der­ge­las­sen habe.«

Und sich ent­zückt über die­sen Scherz die Hän­de rei­bend, zog er mich mit sich fort.

So­bald ich eine Tas­se heis­sen Kaf­fee ge­trun­ken hat­te, ging es an die Be­sich­ti­gung der al­ten Stadt. Ich be­wun­der­te das Haus des Arz­tes und die üb­ri­gen se­hens­wer­ten Häu­ser; sie wa­ren alle schwarz, sa­hen aber im Üb­ri­gen mit ih­ren Faça­den aus ge­haue­nem Stein ganz hübsch aus, wie klei­ne Nip­pessa­chen. Ich be­wun­der­te wei­ter die Sta­tue der heil. Jung­frau, der Schutz­pa­tro­nin der Flei­scher, und er­fuhr hier­bei die Ge­schich­te ei­nes nied­li­chen Aben­teu­ers, wel­che ich viel­leicht spä­ter ’mal er­zäh­len wer­de. Dann sag­te mir Dok­tor Bon­net:

»Jetzt bit­te ich mich für fünf Mi­nu­ten zu ei­nem Kran­ken­be­su­che zu ent­schul­di­gen; dann wer­de ich Sie auf den Hü­gel Cha­tel-Guy­on füh­ren und Ih­nen noch vor dem Früh­stück den Ge­samt-An­blick der Stadt und der gan­zen Puy-de-Dome-Ket­te zei­gen. Sie kön­nen mich auf dem Trot­toir er­war­ten, ich gehe nur her­auf und her­un­ter.«

Er ver­liess mich, als wir uns ei­nem je­ner al­ten, fins­te­ren, stum­men und trau­ri­gen Häu­ser ge­gen­über be­fan­den, wie man sie noch öf­ters in den klei­nen Pro­vinz­städ­ten fin­det. Die­ses hier schi­en mir üb­ri­gens noch ein ganz be­son­ders fins­te­res Aus­se­hen zu ha­ben, und die Ur­sa­che hier­von hat­te ich bald ent­deckt. Alle großen Fens­ter der ers­ten Eta­ge wa­ren zur Hälf­te mit mas­si­ven höl­zer­nen La­den ge­schlos­sen. Nur die obe­re Hälf­te war zu öff­nen, als woll­te man alle Leu­te, die sich in die­sem großen stei­ner­nen Sar­ge be­fan­den, hin­dern, auf die Stras­se zu se­hen.

Als der Dok­tor wie­der er­schi­en, teil­te ich ihm mei­ne Beo­b­ach­tung mit.

»Sie ha­ben sich nicht ge­täuscht«, sag­te er, »das arme We­sen, wel­ches dort drü­ben ein­ge­schlos­sen ist, darf nicht se­hen, was auf der Stras­se vor sich geht. Es ist eine Irr­sin­ni­ge, oder bes­ser ge­sagt eine Idio­tin, oder um es ganz rich­tig zu be­zeich­nen, eine Ein­fäl­ti­ge, was Ihr an­de­ren, Ihr Nor­man­nen, eine ›Null‹ nen­nen wür­det. Ja, se­hen Sie ’mal; das ist eine trau­ri­ge Ge­schich­te und zu­gleich ein merk­wür­di­ger pa­tho­lo­gi­scher Fall. Soll ich Ih­nen er­zäh­len?«

Selbst­re­dend be­jah­te ich.

»Nun gut!« fuhr er fort. »Es ist jetzt zwan­zig Jah­re her, dass die Ei­gen­tü­mer die­ses Hau­ses, mei­ne Kund­schaft üb­ri­gens, ein Kind hat­ten, ein Mäd­chen wie je­des an­de­re Mäd­chen auch.

Aber ich be­merk­te bald, dass, wäh­rend der Kör­per die­ses klei­nen We­sens sich wun­der­bar ent­wi­ckel­te, sein Ver­stand völ­lig zu­rück­b­lieb.

Es lern­te sehr früh­zei­tig ge­hen, sprach aber kein Wort. Ich schob dies an­fangs nur auf ein­fa­che Dumm­heit; dann stell­te ich fest, dass es sehr gut hör­te, aber nichts ver­stand. Bei hef­ti­gem Geräusch fing es an zu zit­tern, ohne sich über die Ur­sa­chen des­sel­ben klar zu wer­den.

Es wuchs her­an, war hübsch aber stumm; stumm aus Ver­stan­des­man­gel. Ich ver­such­te mit al­len er­denk­li­chen Mit­teln in sei­nem Kop­fe auch nur den Schim­mer ei­nes Ge­dan­kens zu er­we­cken, aber es half al­les nichts. Ich glaub­te zu be­mer­ken, dass es sei­ne Er­näh­re­rin er­ken­ne, aber so­bald es ent­wöhnt war, kann­te es die Mut­ter nicht mehr. Nie­mals konn­te es die­ses Wort aus­spre­chen, wel­ches die Kin­der als ers­tes stam­meln und die auf dem Schlacht­feld ster­ben­den Sol­da­ten als letz­tes mur­meln, das Wort ›Mut­ter‹. Es ver­such­te ei­ni­ge Male et­was zu stot­tern, ei­ni­ge lee­re Ver­su­che, und dann war es nichts mehr.

War das Wet­ter schön, so lach­te sie die gan­ze Zeit und stiess da­bei leich­te Schreie aus, dem Zwit­schern der Vö­gel ver­gleich­bar; reg­ne­te es, so wein­te und seufz­te sie in ei­ner ganz trau­ri­gen herz­zer­bre­chen­den Wei­se, ähn­lich wie Hun­de kla­gen, die an ei­ner Lei­che heu­len.

Sie wälz­te sich gern im Gra­se nach Art der jun­gen Tie­re und lief wie toll um­her; je­den Mor­gen, wenn die Son­ne in ihr Zim­mer schi­en, klatsch­te sie vor Ver­gnü­gen mit den Hän­den. Das­sel­be tat sie auch, wenn man das Fens­ter öff­ne­te, da­mit man sie nur schnell an­zie­hen möch­te.

Im Üb­ri­gen schi­en sie kei­nen Un­ter­schied zwi­schen den Leu­ten zu ma­chen, we­der zwi­schen ih­rer Mut­ter noch ih­rer Wär­te­rin, zwi­schen ih­rem Va­ter oder mir, zwi­schen dem Kut­scher und der Kö­chin.

Da ich ihre un­glück­li­chen El­tern sehr gern hat­te, so kam ich fast je­den Tag zu ih­nen, und speis­te auch oft bei den­sel­ben. Hier­bei glaub­te ich zu be­mer­ken, dass Ber­t­ha (dies war ihr Tauf­na­me) die Ge­rich­te zu un­ter­schei­den und das eine dem and­ren vor­zu­zie­hen schi­en.

Sie war da­mals zwölf Jah­re alt, viel grös­ser als ich und hät­te ih­rer gan­zen Er­schei­nung nach für acht­zehn­jäh­rig gel­ten kön­nen.

So kam ich auf den Ge­dan­ken, ih­ren Ge­schmacks­sinn zu er­we­cken und mit­tels des­sel­ben zu ver­su­chen, ih­rem Geis­tes­le­ben Ab­wechs­lung zu brin­gen. Ich woll­te sie durch Ver­schie­den­heit der Ap­pe­tits-Äus­se­run­gen durch die gan­ze Stu­fen­lei­ter von Ge­schmacks-Rich­tun­gen, wenn auch nicht ge­ra­de zu be­wuss­ten oder über­leg­ten Ent­sch­lies­sun­gen, so doch we­nigs­tens zu in­stink­ti­ven Un­ter­schei­dun­gen brin­gen, bei de­nen sich dann doch im­mer­hin eine Art ma­te­ri­el­ler Ge­dan­ken­ar­beit voll­zog.

Wenn man so ihre Nei­gun­gen reiz­te, so konn­te man viel­leicht, na­ment­lich bei sorg­fäl­ti­ger Berück­sich­ti­gung der­je­ni­gen, die am aus­ge­spro­chens­ten auf­tra­ten, eine um­ge­kehr­te Wir­kung des Kör­pers auf den Ver­stand er­zie­len und all­mäh­lich ihr Ge­hirn aus sei­ner bis­he­ri­gen Un­tä­tig­keit auf­we­cken.

Ich stell­te also ei­nes Ta­ges zwei Schüs­seln, die eine mit Sup­pe und die an­de­re mit sehr süs­sem Va­nil­le-Crê­me vor ihr hin, und ließ sie ab­wech­selnd von bei­den kos­ten Dann über­liess ich ihr die Wahl und sie ass den Crê­me auf.

In kur­z­er Zeit war sie sehr wäh­le­risch ge­wor­den, so­dass sie ei­gent­lich nur noch den Ge­dan­ken ans Es­sen oder bes­ser ge­sagt, das Ver­lan­gen da­nach im Kop­fe hat­te. Sie er­kann­te die Schüs­seln ganz ge­nau, streck­te die Hän­de nach de­nen aus, die sie wünsch­te, und ver­zehr­te al­les mit Gier. Sie wein­te, wenn man es ihr fort­nahm.

Nun ver­such­te ich sie auf den Klang der Tisch­glo­cke ein­zuü­ben; es dau­er­te lan­ge, ge­lang aber auch. Es bil­de­te sich zwei­fel­los bei ihr ein un­be­wus­s­ter Zu­sam­men­hang zwi­schen dem Glo­cken­zei­chen und ih­rem Ap­pe­tit, also eine Art Be­zie­hung zwi­schen zwei Sin­nen, eine Wir­kung des einen auf den and­ren und fol­ge­rich­tig ein Ide­en-Zu­sam­men­hang -- wenn man die­se Art von in­stink­ti­vem Zu­sam­men­wir­ken zwei­er or­ga­ni­scher Funk­tio­nen als Idee be­zeich­nen kann.

Mei­ne Hoff­nung wuchs, und ich dehn­te mei­ne Ver­su­che nun dar­auf aus, ihr die Stun­de der Mahl­zeit auf dem Zif­fer­blatt der Wand­uhr -- und mit wel­cher Mühe! -- be­greif­lich zu ma­chen.

Lan­ge Zeit hat­te sie für die Be­we­gung der Zei­ger ab­so­lut kein Ver­ständ­nis; aber es ge­lang mir, ihr den Stun­den­schlag ein­zu­prä­gen. Die Sa­che war sehr ein­fach. Ich ließ das Läu­ten der Tisch­glo­cke ein­stel­len, da­ge­gen stan­den wir alle auf, um zu Tisch zu ge­hen, so­bald als der klei­ne Ham­mer des Uhr­werks zum An­schla­gen der Mit­tags­stun­de aus­hob.

So streng­te ich mich z. B. ver­geb­lich an, ihr das Zäh­len der Schlä­ge bei­zu­brin­gen. Sie stürz­te je­des Mal auf die Türe zu, so­bald sie über­haupt die Uhr schla­gen hör­te, aber all­mäh­lich wur­de es ihr doch klar, dass alle Schlä­ge der Uhr doch, nicht die Es­sens­stun­de an­zeig­ten, und so fing sie an, das Auge, vom Ge­hör un­ter­stützt, mehr wie sonst auf das Zif­fer­blatt zu len­ken.

Als ich dies be­merk­te, trug ich Sor­ge, je­den Tag zur Mit­tags­stun­de und um 6 Uhr mei­nen Fin­ger auf die Zahl 12 und 6 zu rich­ten, so­bald der so sehn­lich von ihr er­war­te­te Au­gen­blick ein­ge­tre­ten war. Ich konn­te bald be­ob­ach­ten, dass sie an­fing, auf­merk­sam den Be­we­gun­gen der klei­nen bron­ze­nen Zei­ger zu fol­gen, die ich in ih­rer Ge­gen­wart so oft hat­te um das Zif­fer­blatt lau­fen las­sen.

Sie hat­te es also be­grif­fen; ich möch­te viel­mehr sa­gen, sie hat­te es sich ge­merkt. Es war mir ge­lun­gen, das Be­wusst­sein oder noch bes­ser die Emp­fin­dung der Stun­de in ihr zu er­we­cken, wie man dies, al­ler­dings ohne Hil­fe ei­ner Uhr, bei den Kar­pfen er­reicht, in­dem man ih­nen je­den Tag ge­nau zu der­sel­ben Zeit Fut­ter wirft.

Nach­dem wir nun ein­mal so­weit wa­ren, er­reg­te jede Art von Zeit­mes­ser, die im Hau­se nur exis­tier­te, ihre Auf­merk­sam­keit in ganz be­son­de­rer Wei­se. Sie ver­brach­te ihre Zeit da­mit, sie zu be­trach­ten, sie zu hö­ren und auf die Glo­cken­schlä­ge zu war­ten.

Ein­mal pas­sier­te so­gar et­was sehr Ko­mi­sches. Das Schlag­werk ei­ner klei­nen ein­ge­leg­ten Uhr aus der Zeit Lud­wigs XVI., wel­che man am Kop­fen­de ih­res Bet­tes auf­ge­hängt hat­te, war in Un­ord­nung ge­ra­ten. Sie be­merk­te es wohl und war­te­te seit zwan­zig Mi­nu­ten, das Auge un­ver­wandt auf die Zei­ger ge­hef­tet, dass die Uhr zehn schla­gen soll­te. Aber als der Zei­ger die Zahl über­schrit­ten hat­te, war sie ganz ver­wun­dert, nichts zu hö­ren; der­art ver­wun­dert, dass sie sich hin­setz­te, ohne Zwei­fel von ei­ner ähn­li­chen Ge­müts­be­we­gung er­grif­fen, wie wir sie beim An­blick ir­gend ei­nes großen Er­eig­nis­ses ha­ben. Sie hat­te die auf­fal­len­de Ge­duld, vor dem klei­nen Ding bis elf Uhr zu war­ten, um zu se­hen, was sich dann er­eig­nen wür­de. Sie hör­te na­tür­lich wie­der nichts; da er­griff sie, ent­we­der im hef­ti­gen Zorn dar­über, ent­täuscht und be­tro­gen zu sein, oder im ers­ten Dran­ge der Be­stür­zung über ein furcht­ba­res Ge­heim­nis, oder schliess­lich von ra­sen­der Un­ge­duld dar­über ver­zehrt, dass ihr ein Hin­der­nis ent­ge­gen­trat, die Ofenzan­ge, und schlug mit sol­cher Ge­walt auf die Uhr los, dass sie im nächs­ten Au­gen­blick in Trüm­mer ging.


Ihr Ge­hirn funk­tio­nier­te also, es über­leg­te; wenn auch, wie ich zu­ge­ben muss, nur in sehr un­kla­rer Wei­se und in sehr be­schränk­tem Mas­se. Denn ich konn­te sie nicht dazu brin­gen, die Per­so­nen eben­so wie die Stun­den zu un­ter­schei­den. Man muss­te, um eine Re­gung ih­res geis­ti­gen Be­wusst­seins zu er­zie­len, an ihre Lei­den­schaf­ten im wah­ren Sin­ne des Wor­tes ap­pel­lie­ren.

Hier­für er­hiel­ten wir bald einen and­ren, lei­der sehr schreck­li­chen Be­weis.

Sie war äus­ser­lich wun­der­schön ge­wor­den, in der Tat eine ty­pi­sche Er­schei­nung, eine Art be­wun­derns­wer­te aber geist­lo­se Ve­nus.

Sie war jetzt sech­zehn Jah­re alt, und sel­ten habe ich in dem Al­ter eine ähn­li­che Fül­le der For­men, eine ähn­li­che Fein­heit und Vollen­dung der Züge ge­se­hen. Ich nann­te sie eine Ve­nus, und sie war es in der Tat: Blond, zart­ge­run­det, eben­mäs­sig, mit großen, hel­len, träu­me­ri­schen Au­gen, de­ren Bläue der Hanf­blü­te glich; der Mund ge­schwun­gen, mit vol­len run­den Lip­pen, ein lieb­li­cher, sinn­li­cher Mund, ein Mund zum Küs­sen.

Da trat ei­nes Ta­ges ihr Va­ter bei mir ein; er mach­te ein erns­tes Ge­sicht und setz­te sich, ohne mei­nen Gruss zu er­wi­dern.


»Ich muss et­was ganz Wich­ti­ges mit Ih­nen be­spre­chen«, sag­te er. »Wür­de es mög­lich sein … kann man … Ber­t­ha ver­hei­ra­ten?«

Ich war starr vor Er­stau­nen und rief:

»Ber­t­ha ver­hei­ra­ten? … aber das ist ja un­mög­lich!«

»Ich weiß«, sag­te er … »ja … aber den­ken Sie … Dok­tor … es könn­te … viel­leicht … wir ha­ben ge­dacht … wenn sie Kin­der hät­te … das wäre für sie eine große Ge­müts­be­we­gung, ein Glück und … wer weiß, ob die Mut­ter­freu­den ih­ren Geist nicht er­we­cken wür­den? …«

Ich war ganz ver­blüfft; das war nicht so un­rich­tig. Mög­li­cher­wei­se ver­moch­te die­se ganz neue Lage, die­ser wun­der­ba­re Mut­ter-In­stinkt, der im wil­den Tie­re eben­so wohnt wie im Her­zen der Frau, und der die Hen­ne sich dem Hun­de ent­ge­gen­stel­len lässt, um ihre Küch­lein zu ver­tei­di­gen, auch in die­sem fühl­lo­sen Men­schen­kop­fe eine be­son­de­re Er­re­gung, eine voll­stän­di­ge Um­wäl­zung her­vor­zu­brin­gen und den bis­her un­be­weg­li­chen Ge­dan­ken-Mecha­nis­mus in Gang zu set­zen.

Mir fiel so­fort ein Bei­spiel aus mei­ner ei­ge­nen Er­fah­rung ein. Ich hat­te ei­ni­ge Jah­re vor­her eine klei­ne Jagd­hün­din ge­habt, die so un­ge­leh­rig war, dass ich nichts mit ihr an­fan­gen konn­te. Kaum hat­te sie ein­mal Jun­ge ge­wor­fen, als sie so­zu­sa­gen von heu­te auf mor­gen, wenn auch nicht ge­ra­de her­vor­ra­gend, so doch vie­len mit­tel­mäs­sig ent­wi­ckel­ten Hun­den ähn­lich wur­de.

Kaum hat­te ich die­se Mög­lich­keit er­wo­gen, als der Wunsch, Ber­t­ha ver­hei­ra­tet zu se­hen, in mir im­mer re­ger wur­de, wenn auch, of­fen ge­stan­den, nicht so sehr aus Freund­schaft für sie und ihre ar­men El­tern, als aus wis­sen­schaft­li­chem In­ter­es­se. Wie wür­de es aus­fal­len? Das war ’mal wirk­lich ein merk­wür­di­ges Pro­blem!

»Vi­el­leicht ha­ben Sie Recht …« ant­wor­te­te ich dem­ge­mä­ss dem Va­ter, »man könn­te den Ver­such ma­chen … Ver­su­chen Sie es … aber … aber … Sie wer­den nie­mals einen Mann fin­den, der sich dar­auf ein­lässt.«

»Ich habe schon einen«, sag­te er halb­laut.

Aufs Neue be­trof­fen stam­mel­te ich:

»Ei­nen ge­eig­ne­ten?… Ei­nen aus … Ihren Krei­sen?«

»Ja«, ant­wor­te­te er, »voll­kom­men.«

»Ach! Und … darf ich sei­nen Na­men wis­sen?«

»Ich woll­te ihn ge­ra­de Ih­nen nen­nen und Sie um Ihre An­sicht über ihn bit­ten. Er heisst Gas­ton du Boys de Lu­cel­les!«

»Der Elen­de!« hät­te ich bei­na­he aus­ge­ru­fen, aber ich be­zwang mich noch recht­zei­tig, und nach kur­z­em Schwei­gen sag­te ich:

»Ja … sehr gut. Ich sehe kein Hin­der­nis.«

Der arme Mann drück­te mir die Hand:

»Die Hoch­zeit wird nächs­ten Mo­nat sein« sag­te er.

*

Gas­ton du Boys de Lu­cel­les war ein Tau­ge­nichts aus gu­ter Fa­mi­lie, der, nach­dem er sein vä­ter­li­ches Erb­teil ver­zehrt und sich eine hüb­sche An­zahl zum Teil sehr be­denk­li­cher Schul­den auf­ge­la­den hat­te, nach ir­gend ei­ner Ge­le­gen­heit such­te, um sich aufs Neue Geld zu be­schaf­fen.

Jetzt hat­te er sie ge­fun­den.

Er war im Üb­ri­gen ein hüb­scher an­sehn­li­cher Bursch, aber ein Wüst­ling, von je­ner Sor­te Le­be­män­ner aus der Pro­vinz, die mir so ver­hasst sind. Ich glaub­te in­des­sen, dass er ein für un­se­re Zwe­cke ganz pas­sen­der Ehe­mann sein wür­de, des­sen man sich nö­ti­gen­falls spä­ter mit Hil­fe ei­ner ent­spre­chen­den Pen­si­on wie­der ent­le­di­gen könn­te.

Er kam jetzt täg­lich ins Haus, um sich lie­bens­wür­dig zu ma­chen und dem hüb­schen geis­tes­schwa­chen Mäd­chen, das ihm üb­ri­gens wirk­lich zu ge­fal­len schi­en, die Kour auf sei­ne Wei­se zu schnei­den. Er brach­te ihr Blu­men, küss­te ihr die Hand, setz­te sich zu ih­ren Füs­sen und sah sie mit zärt­li­chen Au­gen an; aber sie nahm von sei­nen Auf­merk­sam­kei­ten so gut wie gar kei­ne No­tiz und mach­te in kei­ner Wei­se einen Un­ter­schied zwi­schen ihm und den üb­ri­gen Per­so­nen ih­rer Um­ge­bung.

Die Hoch­zeit fand statt.

Sie wer­den be­grei­fen, bis zu wel­chem Gra­de mei­ne Neu­gier­de an­ge­sta­chelt war.

Ich be­such­te Ber­t­ha am an­de­ren Mor­gen, um auf ih­rem Ge­sich­te zu le­sen, ob sie in ir­gend ei­ner Wei­se er­schüt­tert zu sein schie­ne. Aber ich fand sie ganz so wie alle Tage, le­dig­lich mit der Uhr und dem Es­sen be­schäf­tigt. Er schi­en da­ge­gen sehr ver­liebt und such­te die Hei­ter­keit und Zärt­lich­keit sei­ner Frau durch al­ler­lei Scher­ze und Tän­de­lei­en zu er­we­cken, so wie man es etwa mit klei­nen Kat­zen macht.

Er hat­te eben nichts bes­se­res zu fin­den ge­wusst.

Von jetzt an mach­te ich bei den jun­gen Ehe­gat­ten häu­fig mei­ne Vi­si­ten und über­zeug­te mich bald, dass die jun­ge Frau ih­ren Mann sehr gut als sol­chen er­kann­te und ihm die­sel­ben be­gehr­li­chen Bli­cke zu­warf wie vor­her den süs­sen Schüs­seln.

Sie folg­te al­len sei­nen Be­we­gun­gen, un­ter­schied sei­nen Schritt auf der Trep­pe oder in den be­nach­bar­ten Zim­mern, klatsch­te in die Hän­de, wenn er ein­trat, und ihr gan­zes Ge­sicht über­goss ein Schim­mer von Glück und Be­gehr­lich­keit.

Sie lieb­te ihn von gan­zem Her­zen und mit ih­rer gan­zen ar­men kind­li­chen See­le, mit die­sem ar­men Ge­mü­te, das die Er­kennt­lich­keit und An­häng­lich­keit ei­nes treu­en Tie­res emp­fand.

Es war in der Tat ein wun­der­ba­res und rüh­rend harm­lo­ses Bild: Die­se ein­fa­che Zu­nei­gung, noch ganz so sinn­lich und doch da­bei scham­haft, wie die Na­tur sie al­len We­sen ein­ge­pflanzt hat­te, ehe der Mensch an­fing, ih­ren Be­griff durch alle mög­li­chen Ge­fühls­du­se­lei­en zu ver­wir­ren und aus­ar­ten zu las­sen.

Er aber wur­de die­ses schö­nen Ge­schöp­fes, das so hin­ge­bend, aber lei­der stumm war, sehr bald müde. Er blieb nur ei­ni­ge Stun­den des Ta­ges bei ihr und fand es völ­lig ge­nü­gend, wenn er ihr sei­ne Näch­te wid­me­te.

Sie be­gann hier­un­ter zu lei­den.

Sie war­te­te auf ihn von früh bis spät, die Au­gen auf die Uhr ge­hef­tet, und ohne noch ans Es­sen zu den­ken; er aber ass fast im­mer aus­wärts, in Cler­mont, in Cha­tel-Guy­on, in Ro­jat, kurz ir­gend­wo, und ver­mied es, nach Hau­se zu kom­men.

Sie wur­de im­mer ma­ge­rer.

Je­der an­de­re Ge­dan­ke, je­des Ver­lan­gen, jede Er­war­tung, jede auch noch so un­be­stimm­te Hoff­nung ver­schwand aus ih­rem Her­zen, und die Stun­den, in de­nen sie ihn nicht sah, wur­den für sie Stun­den des bit­ters­ten Schmer­zes. Bald fing er auch an, die Näch­te aus­wärts zu­zu­brin­gen. Er trieb sich mit Wei­bern im Ka­si­no von Royat her­um und kehr­te erst bei Ta­ges­grau­en heim.

Sie wei­ger­te sich zu Bett zu ge­hen, ehe er wie­der­kam. Un­be­weg­lich sass sie in ih­rem Stuh­le, stets die Au­gen auf die klei­nen Zei­ger der Uhr ge­hef­tet und de­ren lang­sa­men Gang auf dem Zif­fer­blatt von Stun­de zu Stun­de ver­fol­gend.

Wenn sie dann von Wei­tem den Schritt sei­nes Pfer­des hör­te, so sprang sie auf und wies bei sei­nem Ein­tritt mit der Mie­ne ei­ner Er­schei­nung auf den Zei­ger, als woll­te sie sa­gen: ›Sieh nur, wie spät es ist.‹ Und er fing an, einen Wi­der­wil­len ge­gen die­se lie­bes­be­dürf­ti­ge und ei­fer­süch­ti­ge Idio­tin zu emp­fin­den; er ge­riet in eine tie­ri­sche Wut, und ei­nes Nachts schlug er sie.

Man ließ mich ho­len. Sie quäl­te sich un­ter wil­dem Heu­len in ei­ner furcht­ba­ren Kri­sis des Schmer­zes, des Zor­nes, der Lei­den­schaft und al­ler mög­li­chen Ge­füh­le. Wer konn­te wis­sen, was in die­sem ver­küm­mer­ten Ge­hirn al­les vor sich ging?

Ich be­ru­hig­te sie mit Mor­phi­um-Pil­len und ver­bot dann ein für alle Mal ein Wie­der­se­hen mit die­sem Men­schen; denn ich sah ein, dass die Ehe ihr un­fehl­bar den Tod brin­gen müs­se.


Dann wur­de sie ganz när­risch! Ja, mein Lie­ber, die­se Idio­tin ist när­risch ge­wor­den. Sie denkt un­aus­ge­setzt an ihn und war­tet auf ihn Tag und Nacht, schla­fend und wa­chend, heu­te wie ges­tern und mor­gen wie alle Tage. Als ich sah, dass sie im­mer mehr ab­ma­ger­te und ihr un­ru­hi­ger Blick nicht mehr vom Zif­fer­blatt der Uhr wich, ließ ich al­les fort­neh­men, was an Uhren im Hau­se hing. So raub­te ich ihr die Mög­lich­keit, die Stun­den zu zäh­len und in der dunklen Erin­ne­rung an die Zeit, wo er sonst heim­zu­keh­ren pfleg­te, sich ab­zu­grä­men. Ich hof­fe, auf die Dau­er in ihr die Erin­ne­rung zu er­tö­ten und je­nes Licht des Geis­tes wie­der aus­zu­lö­schen, das ich einst mit so vie­ler Mühe er­weckt hat­te.

Und dann mach­te ich ei­ni­ge Zeit spä­ter einen Ver­such: Ich zeig­te ihr mei­ne Ta­schen­uhr. Sie nahm sie und sah sie lan­ge an. Dann schrie sie plötz­lich auf eine furcht­ba­re Art, als wenn der An­blick die­ses klei­nen Ge­gen­stan­des mit ei­nem Male das be­reits ein­schlum­mern­de Ge­dächt­nis wie­der auf­ge­weckt hät­te.

Sie ist jetzt ma­ger, so ma­ger, dass man von Mit­leid be­wegt wird; ihre Au­gen sind hohl und fun­kelnd. Und sie geht ohne Un­ter­lass hin und her, wie ein wil­des Tier im Kä­fig.

Ich habe die Fens­ter ver­git­tern, mit ho­hen La­den ver­se­hen und die Stüh­le am Bo­den be­fes­ti­gen las­sen, um zu ver­hin­dern, dass sie auf die Stras­se schaut, ob er wie­der­kom­me.

Ach die ar­men El­tern! Was für ein Le­ben müs­sen sie füh­ren!

Wir hat­ten in­zwi­schen den Hü­gel er­reicht und der Dok­tor wand­te sich mit den Wor­ten um:

»Se­hen Sie, hier ha­ben Sie Riom vor sich.«

Die Stadt hat­te das fins­te­re Aus­se­hen al­ler al­ten Städ­te. Nach hin­ten zu brei­te­te sich un­ab­seh­bar eine grü­ne, wal­di­ge, mit zahl­rei­chen Dör­fern und Städ­ten über­sä­e­te Ebe­ne aus; der blaue Dunst, in dem sie ge­ba­det war, bil­de­te einen wun­der­ba­ren Hin­ter­grund.

Der Dok­tor be­gann mir die ver­schie­de­nen Orte der Rei­he nach zu nen­nen und mir die Ge­schich­te je­des ein­zel­nen zu er­zäh­len.

Aber ich hör­te nicht recht zu; ich dach­te nur an die Wahn­sin­ni­ge, die mir im­mer vor Au­gen stand. Sie schi­en mir wie ein trau­ri­ger Geist über der gan­zen wei­ten Ge­gend zu schwe­ben.

Und plötz­lich un­ter­brach ich den Er­zäh­ler mit der un­ver­mit­tel­ten Fra­ge:

»Und was ist aus ihm, dem Ehe­mann, ge­wor­den?«

»Er lebt in Royat von der Pen­si­on, die ihm aus­ge­zahlt wird. Er ist glück­lich und amü­siert sich«, ant­wor­te­te et­was über­rascht mein Freund nach ei­ni­gem Zö­gern.

Als wir bei­de, trau­rig und schweig­sam, lang­sa­men Schrit­tes heim­kehr­ten, fuhr plötz­lich ein eng­li­sches Dog-Kart, von rück­wärts kom­mend, in sau­sen­dem Tem­po an uns vor­über.

»Das ist er!« sag­te der Dok­tor, mei­nen Arm er­grei­fend.

Ich sah nur einen grau­en Filz­hut, schief auf ei­nem Ohre sit­zend, über zwei brei­ten Schul­tern, in ei­ner Staub­wol­ke ver­schwin­den.

*

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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