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Zensur wird verstaatlicht

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Als Kaiser Karl V. am Reichstag zu Worms im März 1521 die Reichsacht über Martin Luther verhängen und seine Schriften verbieten ließ, war das noch eine der Kirchenpolitik gegen den Aufrührer nachfolgende »staatliche« Maßnahme. Im Laufe des 16. Jahrhunderts übernahmen dann allerdings die weltlichen Herrscher nach und nach das Zensurruder aus den Händen der Päpste. Das entsprach auch dem Bedeutungsverlust der Kirche und dem Machtgewinn der kaiserlichen Zentralmacht sowie dem der Landesfürsten, die das Zeitalter des Absolutismus prägten. Kulturgeschichtlich interpretiert, kann dieser Epochenwandel auch als Aufstieg der ratio (Vernunft) gegenüber der confessio (Glaube) verstanden werden. Schritt für Schritt trat die »Moral an die Stelle der Religion« und »die Staatsräson entwand sich dem Zugriff kirchlicher Interessen. Die Kirche blieb«, so die Soziologin Ulla Otto, »nach wie vor Schutzobjekt des Staates, allerdings nicht länger als Inbegriff der Wahrheit, sondern als Sittenwächter des Pöbels.«23

Der absolutistische Anspruch auf Alleinherrschaft, wohl verstanden als von Gottes Gnaden gegeben, widerspiegelt sich auch im Zensurgeschehen. Kaiserliche Edikte und Polizeiordnungen traten zunehmend an die Stelle von kirchlichem Bann und päpstlicher Exkommunikation, wiewohl letztere freilich bestehen blieben. Parallel zur steigenden Toleranz in Glaubensfragen wuchs die politische Intoleranz.24

Zudem übernahmen auch die Reichstage, ständische Versammlungen fürstlicher Territorialherren, gesetzgeberische Funktionen im Zensurgeschehen. So beschloss der Reichstag im Jahre 1570, dass zukünftig nur mehr in Residenz- und Universitätsstädten gedruckt werden durfte.25 Damit wollte man der Winkeldruckerei einen Riegel vorschieben und die Kontrolle über alle öffentlich zugänglichen Schriftstücke perfektionieren.

Mit der Reichspolizeyordnung von 1577 war dann eine Art Grundgesetz gemacht, das verwaltungs-, privat- und strafrechtliche Bestimmungen kodifizierte. Es sollte in wesentlichen Teilen bis zur Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806 Bestand haben.26 Aus der Polizeiordnung 1577 entstand am bedeutendsten Buchhandelsplatz Frankfurt am Main im Lauf der Jahre eine Messepolizei, die die einzelnen Ausstellungsstände inspizierte und die Kataloge überprüfte.27 Ende des 16. Jahrhunderts war daraus eine ständige Bücherkommission geworden, die zwar dem Reichshofrat in Wien direkt unterstellt und mithin eine weltliche Einrichtung war, jedoch in der Mehrzahl ihrer Mitglieder strenge Katholiken aufwies. Das Zusammenspiel von Kaiser und Papst in Zensur- und Überwachungsfragen manifestierte sich hier in perfekter Weise, allerdings getrübt durch oftmalige Einsprüche insbesondere des Rats von Frankfurt, der auch die Interessen der Buchdrucker und Buchhändler auf seinem Messeplatz im Auge behalten musste.28

Eine andere Art der Zensur entwickelte sich aus dem Postwesen heraus. Mit der Ernennung von Leonhard I. von Taxis zum Generalpostmeister des Reiches im Jahre 1595 war ein Amt geschaffen, das bald direkt über die amtlichen kaiserlichen Postzeitungen als auch indirekt über den Vertrieb sämtliche überregionalen Periodika kontrollieren konnte. Wo immer anstößiges oder widerständiges Druckwerk entdeckt wurde, konnten sogleich Speditionsverbote erlassen werden. Die hochadelige Familie der Thurn und Taxis erwies sich dabei über Generationen bis 1806 als willfährige Gehilfin des Kaisers und diente für gutes Geld auch danach noch dem Deutschen Zollverein.

Zwischen kirchlicher und weltlicher Zensur ließ es sich im 17. Jahrhundert vergleichsweise ungestört publizieren. Zudem garantierte die territoriale Zersplitterung im Reich, insbesondere die vielen Fürstentümer auf deutschem Boden, eine Unübersichtlichkeit der lokal oft unterschiedlichen Auslegungen von Regeln und Gesetzen, was Druckern und Autoren Ausweichmöglichkeiten in liberalere Gebiete bot. Aus England schwappte zudem ein kritischer Diskurs zur Presse- und Meinungsfreiheit auf den Kontinent bzw. hiesige fortschrittliche Geister über. Die erste explizite Antizensur-Schrift erschien dort unter der Feder des Schriftstellers John Milton, der in der kurzen Phase der englischen Republik, des zwischen 1649 und 1660 bestehenden »Commonwealth of England«, eine einflussreiche Rolle im Umfeld von Oliver Cromwell einnahm. Sein Traktat »Areopagitica« war ein Aufruf zur Presse- und Meinungsfreiheit. »Wer einen Menschen tötet«, schrieb Milton im Jahr 1644, »tötet eine vernünftige Kreatur, (…) aber derjenige, der ein gutes Buch zerstört, tötet die Vernunft selbst.«29 Milton überlebte alle Anfeindungen … und im Jahr 1694, 20 Jahre nach seinem Tod, wurden in England erstmals staatliche Zensurregeln abgeschafft.30

Unter dem ersten Preußenkönig, Friedrich I. (1657−1713), wegen seiner verkrümmten Haltung auch der »schiefe Friedrich« genannt, zog die politische Zensur Anfang des 18. Jahrhunderts nach einer Periode des relativen Laissez-faire wieder an. Im Jahr 1703 erließ er während des Spanischen Erbfolgekriegs ein Publikationsverbot politischer Schriften, insbesondere ließ er alle Publikationen zensieren, die über die Vorgänge im dynastischen Gerangel um die Nachfolge des letzten spanischen Habsburgers berichteten. Friedrich selbst wollte ganz offensichtlich auch seine eigene Rolle in der Auseinandersetzung europäischer Herrscherhäuser um Macht und Einfluss, die ihm letztlich die Erhöhung vom Herzog zum König von Preußen brachte, nicht kritisch kommentiert sehen.

Die »Societät« als Vorläuferin der Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde von Friedrich I. zur obersten Zensurbehörde bestimmt. Sie musste alle Schriften verbieten, »worin von der Regierung oder hohen Obrigkeit insgeheim verächtlich und verfänglich geredet, oder in Absicht auf dieselbe gefährliche Principia insinuiret (unterstellt, d. A.) oder zur Unruhe und Zerrüttung in geist- und weltlichen Stande abziehlende Sätze eingestreut sind«.31 Zu Hofe wollte man nur Lob und keinen Tadel hören. Die Praxis folgte der Theorie allerdings nur sehr bedingt. Wie in allen Zeiten fanden sich Schlupflöcher und unwillige oder schlicht faule Staatsbeamte, die es mit den verordneten Publikationsverboten nicht so ernst nahmen. Aus Wien und dem eben erst zur neuen russischen Hauptstadt erhobenen Sankt Petersburg liefen Beschwerden am preußischen Hof ein, die die laxe Zensurpolitik der Hohenzollern kritisierten. Friedrich Wilhelm I. (1688−1740) antwortete mit der Installierung »tüchtiger Zensoren«, sein Nachfolger und Sohn, Friedrich der Große (1712−1786), ließ die Zensurzügel wieder mehr schleifen. Eine seiner Einlassungen, wonach »Gazetten, so sie delectieren sollen, nicht geniret werden dürfen«, also Zeitungen ungehindert erscheinen können, solange sie die Leser erfreuen, ist ihm oft als liberale Grundhaltung ausgelegt worden. Das Zitat stammt aus einem Brief des Preußenkönigs an den französischen Philosophen Voltaire,32 der sich zeitlebens gegen Veröffentlichungsverbote aussprach.

Während das 17. und das beginnende 18. Jahrhundert in Preußen zensurgeschichtlich von einem aufgeklärten Absolutismus profitierte, herrschten andernorts – in Wien und Moskau bzw. Sankt Petersburg – strenge Verbotsregime gegenüber unerwünschten Publikationen. Der Fall des deutschen Poeten, Mystikers und Sozialutopisten Quirinius Kuhlmann gibt dafür ein beredtes Zeugnis. Geboren in Breslau, zog er jahrzehntelang durch Europa, verfasste visionäre Pamphlete und Gedichtbände, die oft apokalyptische Bilder einer aus den Fugen geratenen Welt beschrieben, die es dringend zu verbessern gelte. Als egomanischer Revolutionär suchte er Kontakt zu Fürstenhäusern, um sie von der Dringlichkeit seiner Weltvorstellung zu überzeugen. Bald sah er sich selbst an Gottes statt und forderte seine Leser auf: »Fresst, siebzig Völker, fresst nun eure Könige (…) Ost, West, Nord, Süd ist mein zwölfeines Reich! Auf, Kaiser, Könige! Gebt her Kron, Hut und Zepter!«33 Ein solches »Friedensreich« wollten die angesprochenen Häupter nicht. Doch anstatt den Schwärmer seine Wege ziehen zu lassen, sah ihn das Zarenreich als Bedrohung. Auf einer seiner Missionstouren durch Russland denunzierte ihn ein lutherischer Pastor und forderte vom Zaren, »dass solche Bücher und Schriften jetzt und in Zukunft in Ihrem Reiche nicht zu sehen werden«34 und im Übrigen der Verfasser bestraft werden müsse. Am 4. Oktober 1689 wurde Kohlmann als Ketzer in Moskau verbrannt.

Im kaiserlichen Wien herrschten – zensurpolitisch gesprochen – die Jesuiten. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts betrieb der radikale Männerorden gegenreformatorische Agitation und Propaganda in Europa und koloniale Mission in den Amerikas sowie später in Indien und China. Ab 1623 verwalteten die Jesuiten die Wiener Universität und hatten damit zusammen mit Gymnasien und anderen Schulen die Bildung der Hauptstadt des Reiches in ihren Händen. Die Folgen waren verheerend. Bis zum Toleranzpatent Joseph II. im Jahr 1781 verfolgten die Gefährten Jesu jeden, der sich mit protestantischem Schrifttum blicken ließ, mehr noch – jeder Mensch war verpflichtet, lutherische Schriften zu melden, wo immer er welche gesehen hatte. Die Perfidie dieser Art der Zensur, die auch den privaten Wohnbereich erfasste, bestand zudem darin, dass der Denunziant, der ein lutherisches Werk aufgespürt hatte, ein Drittel des für diese Tat vorgesehenen Strafgeldes selbst einbehalten durfte. Einfache Priester, die Hausdurchsuchungen vornahmen, schwirrten durch die Wohnungen Verdächtiger, das »Vernadern« – Wienerisch für Verrat – war an der Tagesordnung, das Spitzelwesen florierte. Den Verfassern »ketzerischer Schriften« drohte Verbannung und Kerker.35

Das Zensuredikt von Kaiser Karl VI. (1685−1740), römisch-deutscher Kaiser und Herrscher über die Habsburgerlande, aus dem Jahr 1715 verschärfte die Gangart gegen kirchenkritische Texte, die an vielen Stellen im Reich relativ lasch gehandhabt werden. Zusätzlich schritten Zensoren in Wien verstärkt gegen missliebige politische Literatur ein. Dies war trotz (oder wegen?) der starken Rolle, die der Kaiser dem katholischen Klerus zuschrieb, unverkennbar ein Schritt in Richtung einer »Politisierung der Zensur.«36 Das erstmals im Jahr 1731 erschienene Universal-Lexicon von Johann Heinrich Zedler fasste im Jahr 1733 vortrefflich zusammen, was im Hochbarock unter Zensur und Zensoren verstanden wurde: »Censor librorum (Der Buchzensor, d. A.), ein Aufseher, der ein Buch oder Schrifft, so gedruckt werden soll, zuvor durchlieset und approbiret, damit nicht der Religion und dem Staat nachteiliges darinne gelassen werde.«37 Karls Tochter, Maria Theresia, blieb der gegenreformatorischen Grundhaltung ihres Vaters treu, entzog jedoch den Jesuiten, die nahezu ein Monopol auf das gesamte Bildungssystem in der Hauptstadt hatten, diese Macht und übergab die Zensur-Agenden im Jahr 1749 einer staatlichen Institution. Das widerspiegelte auch geänderte Inhalte in den Druckwerken; Texte beschäftigten sich zur Mitte des 18. Jahrhunderts längst nicht mehr hauptsächlich mit theologischen, sondern ebenso mit politischen, ökonomischen und Erziehungsfragen.38

Ähnliches geschah zur selben Zeit auch im preußischen Berlin. Dort erließ Friedrich II. im Jahr 1749 ein »Edikt wegen der wiederhergestellten Censur«, mit dem eine Kommission eingesetzt wurde, der alle Manuskripte vor Drucklegung zur Genehmigung vorgelegt werden mussten. Wenn ein Buchhändler nicht-revidierte Bücher verkaufte, hatte er nur eine Geldstrafe von 100 Talern zu gewärtigen. Im damaligen Sprachgebrauch war ein »zensiertes« Buch zum Druck freigegeben. Vier Zensoren, die für die Bereiche Theologie, Philosophie, Geschichte und Jura zuständig waren, hatten wenig an den vorgelegten Manuskripten auszusetzen. Der Literaturwissenschaftler Heinrich Hubert Houben zählte zwischen 1716 und 1763 nur 26 Veröffentlichungsverbote. Als der Verlagsbuchhändler Friedrich Nicolai im Jahr 1759 an den Zensor herantrat und ihn bat, die von ihm gemeinsam mit Gotthold Ephraim Lessing und Josef Abbt herausgegebenen »Literaturbriefe« zu zensieren, antwortete der Zensor überrascht, dass ihm so ein Wunsch »schon lange nicht vorgekommen« sei.39

Wer Zensurmaßnahmen insbesondere im 18. Jahrhundert umgehen wollte, hatte in deutschen Landen vergleichsweise leichtes Spiel. Die territoriale Zersplitterung im deutschsprachigen Raum erleichterte die Umgehung von Verboten. Völlig anders als Frankreich, hatte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (HRR) keinerlei zentralstaatlichen Charakter. Der Einfluss des Kaisers z. B. auf gesellschaftliche und kulturelle Belange war deutlich schwächer als jener vom Königshof in Versailles. Hunderten von weltlichen oder geistlichen Fürstentümern standen Landesherrn vor, die sehr unterschiedliche Gesetze exekutierten, dazu kamen freie Reichsstädte und Reichsabteien, sodass es nicht besonders schwierig war, ein Druckwerk, dessen Druck und Vertrieb in der Grafschaft X verboten war, im Herzogtum Y oder der Reichsstadt Z zu publizieren. Daran änderte auch das Edikt von Kaiser Karl VI. aus dem Jahr 1715 nur wenig. Die Reichsstadt Hamburg und das Fürstentum Sachsen galten als besonders liberal in der Auslegung von Zensurmaßnahmen, Preußen und Braunschweig kontrollierten ihre Druckereien und Buchhandlungen schon etwas schärfer, während Bayern und die Habsburgischen Länder als besonders streng galten.40

Friedrich Christoph Perthes, neben Johann Friedrich Cotta und Friedrich Arnold Brockhaus die bedeutendste Verlegerpersönlichkeit seiner Zeit, stellte dem 18. Jahrhundert nachträglich ein gutes Zeugnis für die Möglichkeit der Drucklegung aus. Im Jahr 1814 schrieb er ein wenig zu überschwänglich: »Deutschland hatte immer die vollständigste Preßfreiheit, der Sache und der Tat nach, denn was in Preußen nicht gedruckt werden durfte, das durfte es in Württemberg, was in Hamburg nicht, zehn Schritte davon in Altona. Kein Buch blieb ungedruckt, keines unverbreitet.«41 In der Zeit des Spätbarock ließ sich Deutschsprachiges tatsächlich vergleichsweise ungestört publizieren.

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