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II. Die Kirche und der ,Stadtplan der Bibel‘: Vom Marktplatzbrunnen zur verborgenen Quelle?

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Der Systematiker Rochus Leonhardt beleuchtet in seinem Aufsatz Unklarheit über die Klarheit der Schrift10 die Krise des evangelischen Schriftprinzips; zur Illustration des Ausgangspunktes der Entwicklung dient ihm ein eindrücklicher, von Luther selbst gebrauchter Vergleich, das Bild des Brunnens auf dem Marktplatz11:

„Der Marktplatz mit einem öffentlichen Brunnen im Zentrum einer Stadt steht für die res scripturae, das Zentralanliegen der Bibel. Zugleich gibt es in dieser Stadt – abseits vom Zentrum – zahlreiche schwer überschaubare Straßen und Gassen – sie stehen für die Vielfalt der biblischen Aussagen. Wer sich in einer der Gassen verirrt hat, für den ist das Zentrum der Stadt in der Tat nicht sichtbar, er wähnt sich in einem Labyrinth. D.h. für ihn erscheint die Bibel als eine Sammlung von widersprüchlichen Aussagen und undeutlichen Formulierungen. Wer aber die Gesamtlage der Stadt kennt und daher auch von den entlegensten Straßen und Gassen zum Marktplatz zurückfinden kann, für den ist die Stadt eben kein Labyrinth mehr. Und d.h.: Wer die res scripturae erfasst, wem sich das Zentralanliegen der Bibel erschlossen hat, der besitzt – um im Bild zu bleiben – den ,Stadtplan der Bibel‘, und für den erhalten deshalb auch die – in sich betrachtet – undeutlichen Formulierungen einen klaren Sinn.“12

Ausgehend von diesem Bild, lässt sich Luthers Position so beschreiben: Mit dem Evangelium von Jesus Christus, auf das er im Rahmen seines Schriftstudiums gestoßen war, mit der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Christus wusste der Reformator um den Standort des Brunnens im Zentrum der Stadt; er besaß einen – für seine Situation – in hohem Maße einleuchtenden ,Stadtplan der Bibel‘, der ihm bleibende Orientierung verschaffte; mit Hilfe dieses Plans war er in der Lage, die einzelnen Bücher der Heiligen Schrift und ihre Verfasser in Beziehung zu setzen zum Zentrum der Schrift, dem Evangelium von Jesus Christus. Auf dieser Grundlage formulierte Luther sein Verständnis der claritas scripturae, der Klarheit der Schrift; in der Assertio omnium articulorum von 1520 definiert er diese Klarheit wie folgt:

„Man muss nämlich […] mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was [aber] nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift in allen Dingen […] den ersten Rang einräumen. Das heißt, dass

– sie selber durch sich selbst ganz gewiss ist (ut sit ipsa per sese certissima),

– ganz leicht zugänglich (facillima),

– ganz leicht verständlich (apertissima),

– ihr eigener Ausleger (sui ipsius interpres),

– alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend (omium omnia probans, iudicans et illuminans)

wie auch in Psalm 118 geschrieben steht (= Ps 119,30) […]. Hier verleiht der Geist ganz klar die Erleuchtung und lehrt, dass Erkenntnis allein durch die Worte Gottes verliehen wird gleichwie durch eine Tür oder eine Öffnung oder ein erstes Prinzip […]“.13

Wenn Luther in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam in der Schrift De servo arbitrio von der äußeren Klarheit der Schrift eine durch den Heiligen Geist gewirkte innere Klarheit im Herzen des einzelnen Gläubigen unterscheidet, dann ändert dies nichts daran, dass die claritas externa für ihn in der grundsätzlichen „Evidenz des Zentralanliegens“ der Schrift bestand, – dem aller Welt gepredigten Evangelium, „dass Christus, der Sohn Gottes, Mensch geworden ist, dass Gott dreieinig ist, dass Christus für uns gestorben ist und ewig herrscht (Christum filium Dei factum hominem, Esse Deum trinum (et) unum, Christum pro nobis passum (et) regnatum aeternaliter; StA 3, 185,1–3) […].“14

Leonhardt fasst Luthers Überzeugung zusammen:

„Weil sich die Glaubensgewissheit schaffende Evangeliumsverkündigung stets an die Schrift gebunden weiß, muss der ihrem eigenen Geist gemäß ausgelegten Schrift auch jene Klarheit zugesprochen werden, durch die sie zur Grundlage christlicher assertiones werden kann.“15

Dass der für Luther so offensichtlich einsehbare ,Stadtplan der Bibel‘ keine sich zwangsläufig ergebende theologische Einsicht war, zeigen leider nicht erst die Entwicklungen späterer Jahrhunderte: Bereits in der Generation nach Luther entstand das Bedürfnis, diese Einsicht festzuhalten und umfassend abzusichern. Man wollte vermeiden, dass der Brunnen in der Mitte der Stadt zu einer verborgenen Quelle werden könnte …

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