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1. Jens Schröter: Der Kanon als Grundlage der Kirche

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In seinem Aufsatz Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments geht der Exeget Jens Schröter von folgendem negativen Befund aus:

„Die historisch-kritische Forschung hat durch die Herausarbeitung der Vielfalt frühchristlicher Theologien die Vorstellung einer theologischen Einheit der im Neuen Testament versammelten Schriften destruiert. An deren Stelle ist die Darstellung von Theologien im frühen Christentum getreten, […].“100

Demgegenüber vertritt er die Auffassung, dass „die Entwicklung hin zum […] Kanon“ zeige, „dass die neutestamentliche Wissenschaft erst dann zu ihrem Ziel gelangt, wenn sie deutlich machen kann, warum gerade die von ihr untersuchten Texte zur Grundlage der christlichen Kirche geworden sind.“101 – Diese Basisfunktion des Kanons kann, so Schröter, auch für die Kirche der Gegenwart kaum überschätzt werden:

„Die Festlegung des Kanons ist […] Ausdruck eines umfassenden Vorgangs, innerhalb dessen sich das entstehende Christentum auf bestimmte Überzeugungen festgelegt hat, die von da ab den Rahmen für seine Deutung von Wirklichkeit und Geschichte bilden. […] Er verpflichtet den christlichen Glauben […] auf seine Anfänge und gibt ihm […] durch seine Profilierung in Konflikten mit ‚Häretikern‘ Konturen.“102

Insgesamt gehe es bei einer adäquaten Berücksichtigung des Phänomens Kanon „um die Erfas-sung der Geschichtlichkeit des Christentums als einer Religion mit einem weiten, aber nicht konturlosen Spielraum für Interpretationen“. Einer Theologie des Neuen Testaments müsse es gelingen, die kanonischen Schriften „im Blick auf das in ihnen gemeinsam zum Ausdruck kommende Verständnis des Handelns Gottes in Jesus Christus miteinander in Beziehung zu setzen und als Dokumente zu interpretieren, die zur Formierung christlicher Identität beigetragen haben.“103

Schröter ist sich durchaus des positiven Ertrags der historisch-kritischen Schriftauslegung bewusst, wenn er festhält, dass das Bewusstsein der historischen Genese des Kanons unhintergehbar sei; dies ist für ihn vor allem mit drei Erkenntnissen verbunden:104

1. Es war am Ende des 18. Jahrhundert ein wichtiger und notwendiger Schritt, die Exegese „aus der Vorherrschaft einer Dogmatik“ zu befreien, der die biblischen Schriften „nur als dicta probantia dienten.“

2. Biblische Theologie könne nicht von einer bruchlosen heilsgeschichtlichen Entwicklung ausgehen – dies gelte z.B. gegen Stuhlmacher–; es handele sich bei der Einfügung der Schriften des Alten Testaments in den christlichen Kanon „um den Prozess einer Deutung autoritativer Schriften, ausgehend von einer neuen Erfahrung, die bestimmt wird durch die Ereignisse um Jesus von Nazareth“; dieser Prozess habe „in der Konsequenz zur Trennung vom Judentum geführt.“

3. Der Kanon sei „als eine Größe in Erscheinung“ getreten, „die den End-, jedoch nicht den Anfangspunkt der Herausbildung des Christentums als eigenständiger Größe“ markiert.

Mit diesen Vorgaben sei jedoch durchaus auch unter historisch-kritischen Bedingungen von einer grundsätzlichen „Relevanz des Kanons“105 auszugehen, und zwar in dreierlei Hinsicht:

a) Die Bildung eines Schriftenkanons erfülle für eine Gemeinschaft zwei grundlegende Funktionen106, indem dieser einerseits für Entlastung, andererseits für die Bildung einer kollektiven Identität sorge:

- In jeder Gemeinschaft stelle sich „notwendigerweise die Frage nach Kriterien für Normatives, für nicht ständig zur Disposition Stehendes, für eine Sicht auf die Vergangenheit, die diese, wenn auch nicht vereinheitlicht, so doch auf ein Spektrum möglicher Deutungen begrenzt und damit handhabbar macht.“106

- Die „Herausbildung der Identität einer Gemeinschaft“ sei gemäß den Forschungen des Religions- und Kulturwissenschaftlers Jan Assmann ein weiterer wichtiger Grund für die Festlegung eines normativen Schriftenbestands.107

b) Ein zweiter wichtiger Aspekt, der bei der Beurteilung des christlichen Kanons zu berücksichtigen sei, lasse sich „nur als gesamtbiblischer begreifen“, und zwar hinsichtlich der zentralen Bedeutung des Alten Testaments sowie des spezifischen Profils der neutestamentlichen kanonischen Schriften:

- Die Konflikte „mit Markion, den gnostischen Bewegungen“ und „dem Montanismus“ führten letztlich dazu, dass die entstehende Identität der Kirche „gegen eine Abwertung der Schriften Israels, gegen eine Aufgabe des Bezugs zur irdischen Person Jesu sowie gegen eine sich absolut setzende Prophetie erstritten werden musste.“

- Zwar sei Käsemann insofern zuzustimmen, als der Kanon durchaus „die Vielfalt der Konfessionen“ ermögliche; daneben gelte aber genauso, dass er „Grenzen“ ziehe, „die zu überschreiten im Sinne der Identität christlichen Glaubens nicht unproblematisch ist.“108

c) Weiterhin bestünde eine wesentliche Aufgabe darin, „die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der historischen Kritik selbst zu bedenken“; so könne im 21. Jahrhundert nicht mehr davon ausgegangen werden, dass historische Arbeit gänzlich isoliert von Grundüberzeugungen zu leisten sei; stattdessen „müsse die selbsttätige, schöpferische Kraft des Geschichtsschreibers hinzutreten, der das Erforschte verbindet und deutet und so aus dem historischen Material relevante Vergangenheit entstehen“ lasse.109

So vertritt Schröter die Meinung, dass bei einer Berücksichtigung „der Funktion des Kanons als richtungsweisender, jedoch nicht zu starr handhabender, ,verbalinspirierter‘ Größe […] die Grabrede auf einen orientierenden Maßstab zugunsten einer voraussetzungslosen Ausrichtung am historisch Gewesenen als voreilig erscheint;“ der Kanon trete „als ein ,Kompromissdokument‘ in den Blick, dessen produktive Kraft erst dann deutlich wird“, wenn Verkürzungen der Vergangenheit aufgegeben werden.110

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