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3. Kanonische Schriftauslegung (canonical approach) als exegetischer Neuansatz im Entwurf von Brevard S. Childs

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Der US-amerikanische Alttestamentler Brevard S. Childs leitete durch die 1970 erschienene Studie Biblical Theology in Crisis89 sowie durch sein Werk Introduction to the Old Testament as Scripture90 aus dem Jahr 1979 eine partielle Neuausrichtung der historisch-kritischen Schriftauslegung ein, indem er dem biblischen Kanon und seinem Zustandekommen grundsätzliche hermeneutische Bedeutung beimisst. – Das im Anschluss an ihn canonical criticism benannte Verfahren wendet Childs in der 1993 erschienenen Biblical Theology of the Old and New Testament91 auf die ganze Bibel an; das zweibändige Werk liegt mit dem Titel Die Theologie der einen Bibel92 seit 1996 auch in deutscher Sprache vor und bereitet seither einer neu entstehenden Kanonischen Schriftauslegung den Boden; es stellt auch insofern ein Novum dar, als hier erstmals seit der Aufteilung der exegetischen Disziplinen auf die Bereiche Altes und Neues Testament im 18. Jahrhundert eine wissenschaftliche Theologie die gesamte Heilige Schrift zum Gegenstand hat.

In dem Beitrag Biblische Theologie und christlicher Kanon nennt Childs drei Gründe93 für sein neuartiges Vorgehen:

1. Der „Begriff des Kanons“ sei weit mehr als „eine späte kirchliche Festlegung des Umfangs der normativen Schriften“, sondern „ein tief im Schrifttum selbst wurzelndes Bewusstsein.“

2. Den Kern der Kanonisierung bilde „ein grundlegender hermeneutischer Vorgang“ der Überarbeitung und Veränderung der heiligen Schriften; dafür gesorgt hätte „ein theologisches Interesse“, durch welches „die Texte auf ein besonderes religiöses Ziel hin gestaltet“ worden seien.

3. Der „kanonische Prozess“ hätte sich nicht nur als Material-Auslese vollzogen, sondern auch als „kritische Beurteilung des Inhalts“ etwa durch Kürzung, Ausweitung oder besondere Zuordnung.

Insgesamt strebt Childs an, „wahrzunehmen, in welchem Maß der kanonische Prozess die Umgestaltung von Texten zur Heiligen Schrift bewirkt“ hat; dabei sei sein Vorgehen „nicht weniger kritisch als die traditionellen Methoden historischer Kritik“, auch wenn es „die Überbetonung der diachronen Dimension“ dadurch vermeide, dass es die Texte in ihrer Endform zum Ausgangspunkt der Untersuchungen mache94.

Im Vorwort des ersten Bandes seiner Theologie schreibt Childs im Rückblick auf seine Forschungsarbeit: „Es wurde mir alsbald schmerzlich bewusst, dass ein eiserner Vorhang die Bibel von der Dogmatik trennt, […]. Ich bin mir sicher, dass der Fehler bei beiden Disziplinen liegt, jedenfalls verhindern tiefes Misstrauen und Desinteresse ernsthafte Zusammenarbeit. […] Wenn es für die Biblische Theologie irgendeine Zukunft gibt, dann ist es sicherlich die Aufgabe der nächsten Generation, Verbindungen zwischen den Disziplinen Bibelwissenschaft und Dogmatik herzustellen.“95

Während Childs im ersten Band der Theologie der einen Bibel zunächst seinen Ansatz grundlegend beschreibt, um dann das jeweilige „Glaubenszeugnis“96 des Alten und des Neuen Testaments getrennt zu behandeln, fragt er im zweiten Band nach theologischen Hauptthemen der ganzen Bibel, wie z.B. Identität Gottes, Bund und Erwählung, Christus als Herr, Versöhnung mit Gott, Gesetz und Evangelium sowie Königsherrschaft Gottes; abschließend stellt er Grundlinien biblischer Ethik dar.

Den Ausgangspunkt für sein Werk beschreibt er wie folgt:

„Biblische Theologie hat als den ihr eigenen Kontext die kanonischen Schriften der christlichen Kirche, nicht, weil nur diese Literatur ihre Geschichte beeinflusst hat, sondern wegen der besonderen Rezeption dieser Schriftensammlung durch eine Glaubens- und Handlungsgemeinschaft.Die christliche Kirche antwortete auf diese Literatur als das maßgebliche Wort Gottes und es bleibt existentiell verpflichtend, nach ihrer inneren Einheit zu forschen, und zwar wegen ihres Bekenntnisses zu dem einen Evangelium von Jesus Christus, das sie der Welt verkündet. Deshalb war es ein fataler methodischer Fehler, die Natur der Bibel allein in Kategorien der Religionsgeschichte zu beschreiben, eine Bewegung, die sich nur zu einer Bestreitung der Integrität des Kanons und einer Leugnung der Legitimität seines Inhalts als Theologie entwickeln konnte.“97

Grundsätzlich verpflichtet sich Childs dem Anspruch, die Heilige Schrift in der Breite aller Stimmen zu Wort kommen zu lassen, um diese dennoch in ihrem die Kirche normativ verpflichtenden Charakter wahrzunehmen:

„Insgesamt zielt der hier gemachte Vorschlag nicht darauf, dass ein Kanon innerhalb des Kanons entwickelt werden soll, und auch nicht darauf, […] den Kanon mit gesammelter kirchlicher Tradition zu identifizieren. Eher steckt der gesamte Kanon der christlichen Kirche als eine Art regula fidei für die Glaubensgemeinschaft den angemessenen Kontext ab, in dem wir stehen; […].“98

Man darf fragen, ob Childs den selbst gesetzten Anforderungen genügen kann. – Im Vorwort des zweiten Bandes der Theologie der einen Bibel schreibt der Alttestamentler Manfred Oeming:

„Childs‘ Position mit ihrer Betonung der Einheit der Schrift aus Altem und Neuem Testament in einem Kanon“ könne „zunächst wie ein Rückschritt in die vorkritische Schriftauslegung“ wirken. Gleichwohl gelte: „Er überwindet ein individualistisches Verstehen durch die Herausarbeitung der hermeneutischen Bedeutung von Kirche als Glaubensgemeinschaft. – Im Blick auf die Methoden der Schriftauslegung zeigt Childs auf, dass es eine gefährliche Verengung ist, die Texte ausschließlich als alleinstehende Solisten in bestimmter historischer Situation zu interpretieren; er lenkt die Aufmerksamkeit auf die vielfachen Vernetzungen innerhalb der Bibel […], die dazu beitragen, den Texten über den Augenblick hinaus klassische Bedeutung zu verleihen.“99

Kanon und Auslegungsgemeinschaft

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