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III. Die Wiederentdeckung der Bedeutung des Kanons I: Kanon im Kanon, Mitte der Schrift – Biblische Theologie – Kanonische Schriftauslegung 1. Ernst Käsemann und der Auftakt einer neuen Kanon-Debatte

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Ein Umdenken im Blick auf die Bedeutung des biblischen Kanons setzte bereits mit Ernst Käsemann (1906–1998) ein, dessen berühmter Vortrag Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?57 das Thema neu in den Mittelpunkt der Forschung stellte; im Rahmen seiner 1951 in Göttingen vorgetragenen Ausführungen formulierte er eine provokante These: „Der nt.liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d.h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielfalt der Konfessionen.“58 – Dadurch, dass im Neuen Testament „nicht selten auch unvereinbare theologische Gegensätze zu konstatieren“ seien,59 ergebe sich im Blick auf die unterschiedlichen Konfessionen zwangsläufig das Urteil: „Ihr Rechtsanspruch ist grundsätzlich unbestreitbar und im einzelnen beweisbar, die Einheit der Kirche umgekehrt von solchem Ausgangspunkt her grundsätzlich unbeweisbar und jeder konfessionelle Absolutheitsanspruch bestreitbar.“60 – Daraus zieht Käsemann eine weitreichende Konsequenz:

„Die Zeit, in der man die Schrift als ganze dem Katholizismus entgegenhalten konnte, dürfte unwiederbringlich vorbei sein. Mit dem sogenannten Formalprinzip kann Protestantismus heute nicht mehr arbeiten, ohne sich historischer Analyse unglaubwürdig zu machen. Der nt.liche Kanon steht nicht zwischen Judentum und Frühkatholizismus, sondern gewährt in sich wie dem Judentum so auch dem Frühkatholizismus Raum und Basis.“60

Auch wenn Käsemann selbst einräumt, dass der Kanon, „insofern […] er Evangelium ist und wird“61, sehr wohl auch die Einheit der Kirche begründe, löste er im Protestantismus eine Entwicklung aus, im Rahmen derer man alles daran setzte, exegetisch einen Kanon im Kanon bzw. eine Mitte der Schrift zu benennen. Sein eigener Beitrag dazu bestand in einer doppelten Abgrenzung; einerseits wollte er „die ganze Schrift behalten, um nicht dem Individualismus der Einzelnen, der Gruppen und Konfessionen zu verfallen“; andererseits ließ er keinen Zweifel daran, dass „die Rechtfertigung des Gottlosen jene Mitte aller christlichen Verkündigung und darum ebenfalls der Schrift“ sei, „auf welche unter keinen Umständen verzichtet werden“ dürfe.62 Dass dies möglich sei, stand für ihn fest: „Man muss mit einem Satz sagen können, was Christum treibet,63 oder man wird überhaupt nichts Entscheidendes zu sagen haben. […] Auch exegetisch und historisch lässt sich die Aussage vertreten, dass die Schrift mit hinreichender Klarheit auf diese ihre eigene Mitte im Evangelium hinweist, aus welcher sie interpretiert werden will.“64

Der Käsemann-Schüler Wolfgang Schrage nimmt die Linie seines Lehrers auf, wenn er folgende Feststellung trifft:

„Der vielstimmige Chor der neutestamentlichen Zeugen soll nicht gewaltsam auf unisono gestimmt […] werden, wohl aber soll der cantus firmus unüberhörbar bleiben.“65

Gleichzeitig versucht er, Vorwürfe (gegen Käsemanns Position) zurückzuweisen, deren Berechtigung sich mehr und mehr herausstellen sollte: Schrage meint, mit der Bestimmung des Motivs der Rechtfertigung des Gottlosen als Mitte der Schrift sei „weder ein Reduktions- oder Selektionsprinzip gemeint noch erst recht ein exegetisches Verfahren empfohlen, bei der die ganze Schrift durch die paulinische Brille gelesen wird.“66 – Dass es bei einem Anschluss an Käsemann auch zu solcher Reduktion kommen kann, zeigt die 1976 erschienene Studie des Neutestamentlers Siegfried Schulz, die den Titel trägt: Die Mitte der Schrift. Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als Herausforderung an den Protestantismus.– Schulz prüft unter dem genannten Thema gewichtige Positionen seiner Zeit und kommt zu folgender Einschätzung:

„Historisch wie sachkritisch beurteilt, bleibt […] nach diesem Überblick über die jüngsten Versuche, die Mitte der Schrift zu bestimmen, nur das paulinische Evangelium übrig. Das bestätigt E. Käsemann, der darum konsequent und völlig sachgemäß den Kanon im Kanon mit dem paulinischen Evangelium in eins fallen lässt.“67

Aus dieser These leitet Schulz pointierte Forderungen ab:

„Das paulinische Evangelium allein ist sachkritisch die Mitte der Schrift, der Kanon im Kanon und das reformatorische sola scriptura. […] Der neutestamentliche Kanon enthält nicht nur das paulinische Evangelium, sondern gleichzeitig seine Verstehensgeschichte, die in Wirklichkeit eine Geschichte der Missverständnisse, Fehlentwicklungen und Irrwege ist. […] Demgegenüber hat evangelische Theologie die Paulusbriefe aus zeitlichen und sachlichen Gründen an die Spitze des neutestamentlichen Kanons zu stellen [!], auf die dann die Evangelien, die Apostelgeschichte und die übrigen frühkatholischen Briefe folgen würden. Eine solche neue Anordnung der neutestamentlichen Schriften entspräche einem ursprünglichen Protestantismus und einer echten Katholizität.“68

Während eine so formulierte Position eine radikale Zuspitzung des protestantischen Ringens um die Mitte der Schrift darstellt, zeigt sich auf römisch-katholischer Seite eine doppelte Entwicklung: Einerseits eine grundsätzliche Öffnung für das evangelische Bemühen um ein präzise bestimmtes Evangelium, – andererseits das Festhalten daran, dass die Umgrenzung einer Mitte der Schrift als Gegenstück unausweichlich einen kanonischen Rand entstehen lässt; diesbezüglich schreibt der (katholische) Neutestamentler Heinz Schürmann (1913–1999):

„Wie der Kreis nicht nur seine zentrale Mitte hat, sondern notwendig auch einen begrenzenden Umfang, so haben die apostolischen Überlieferungen (vor allem die Jesustradition und die paulinischen Briefe) eine zentrierende, ,angreifende‘ Funktion, die nachapostolischen Schriften (vor allem die evangelischen Redaktionen und die nachpaulinischen Briefe) eine ,umgreifende‘, darin aber ebenfalls maß-gebliche [sic!] Bedeutung. […] Ein ,innerer Kanon‘ im ‚äußeren Kanon‘ kann nur im Neben-, Mit-, Für- und manchmal auch Gegeneinander […] bestimmt werden. […] Die neutestamentliche Selbstkritik sucht immer ‚das Evangelium‘, das bestimmt wird von der ‚Mitte der Schrift‘, das aber immer im Hinblick auf den ‚Umfang der Schrift‘. Während die ‚Mitte der Schrift‘ mehr reformatorisch ‚angreifend‘ ist, ist der ‚Umfang der Schrift‘ mehr katholisch ‚umgreifend‘. Erst die ecclesia catholica et evangelica (semper reformanda) als creatura et magistra verbi ist die wahre Kirche Christi.“69

Zusammenfassend und auf den entscheidenden Punkt gebracht, kann Schürmann formulieren: „So bestimmt sich die ‚Mitte‘ der Schrift auch von diesem Umfang her, vom ‚Ganzen‘ der Schrift. Die ‚Mitte‘ ist inhaltlich nicht ‚das Ganze‘, aber ohne das Ganze ist die Mitte eben nicht die Mitte.“70

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