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2. Die neue Orientierung am Kanon und die Frage nach seiner Einheit in aktuellen Entwürfen der Biblischen Theologie

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Im ausgehenden 20. Jahrhundert zeigt sich zunächst im deutschsprachigen Raum eine Entwick-lung, innerhalb derer man die Anliegen einer Biblischen Theologie, wie sie von Gabler gefordert wurde, neu aufgreift, ohne dabei falsche Weichenstellungen der Vergangenheit mitzuvollziehen. Im Zuge dessen gewinnen die Frage nach dem Kanon und das Bemühen, neben der Vielfalt auch die Einheit des Neuen Testaments bzw. der ganzen Bibel zu thematisieren, ein neues Gewicht. – Jörg Frey formuliert in seinem Forschungsüberblick Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments wichtige Denkanstöße zu den genannten Themenbereichen:

„Was bedeutet es, den Kanon als Raum wahrzunehmen, in dem unterschiedliche Zeugen – durchaus spannungsreich – gesammelt sind und sich gegenseitig ,relativieren‘, in dem Evangelien und Briefe, Paulus und Petrus, Paulus und Jakobus nebeneinanderstehen? […] Wird durch die Frage nach der Einheit […] der historische Ansatz verwässert? […] Oder drängt sich diese Frage auch in historischer Perspektive auf, wenn man das frühe Christentum trotz aller internen Auseinandersetzungen als eine zusammenhängende Bewegung begreifen und dem Anspruch einer grundlegenden Übereinstimmung in der Evangeliumsverkündigung (z.B. 1 Kor 15,11) gerecht werden will? Wenn aber die Frage nach der Einheit in der Vielfalt gestellt werden muss, wo lässt sich eine solche Einheit finden und wie lässt sie sich demonstrieren?“71

a) Der Neutestamentler Hans Hübner legte von 1990 bis 1995 eine dreibändige Biblische Theologie des Neuen Testaments72 vor. – In seinem Vortrag Warum biblische Theologie?73 geht es ihm u.a. um den Zusammenhang der Themen Kanon und Kirche; so weist er darauf hin, dass die Fixierung des Kanons nicht als „Willkürakt“ zu verstehen sei, vielmehr als „notwendige geschichtliche Konsequenz der Erkenntnis, dass die urchristliche Verkündigung in einer Kirche, die sich als zeitliche und geschichtliche Größe begreift, einer schriftlichen Fixierung bedarf. […] Der Ansatzpunkt […] ist die missionierende, die verkündigende Kirche. Sie als Kirche des lebendigen Wortes Gottes ist das ekklesiologische Urdatum.“74 – Hinsichtlich des Zusammenhangs von Altem und Neuem Testament75 – also der Einheit der Schrift insgesamt – geht er von der Einheit Gottes selbst aus:

„Die Rezeption der Heiligen Schrift Israels als Altes Testament bedeutet […] notwendig das Bekenntnis zu Jahwäh als dem Gott Israels, der mit dem Vater Jesu Christi identisch ist: Der Gott also, der sich unter dem Namen Jahwäh dem Volke Israel als dessen rettender und rich-tender und dann wiederum rettender Gott offenbart hat, hat diese Offenbarungen durch seine nun endgültige Offenbarung in Jesus Christus abgeschlossen.“76

Sein Fazit kann daher lauten: „Gott tut sich […] in der Geschichte als Deus hermeneuticus und als solcher als Deus pro nobis kund. […] Die Biblische Theologie und die Theologie als ganze koinzidieren also in Gott.“77

b) Die Biblische Theologie des Neuen Testaments, die der Exeget Peter Stuhlmacher 1992 und 1999 veröffentlicht hat, betont auf dem Hintergrund der sich zuspitzenden Krise des Schriftprinzips ausdrücklich die Bedeutung des Kanons für die Exegese.78 – Bereits in dem programmatischen Aufsatz Der Kanon und seine Auslegung79 bezeichnet Stuhlmacher besagte Krise als „kirchliches Existenzproblem“, das „an zwei Befunden“ erkennbar sei: „In den evangelischen Großkirchen klaffen Lehre, Leben und biblische Vorgaben extrem weit auseinander, und in der Auslegung der Bibel herrscht Anarchie; in vertraulichen Gesprächen muss man sogar schon auf die Frage gefasst sein, ob die protestantischen Kirchen nicht längst an und mit dem Schriftprinzip gescheitert seien.“79

Stuhlmacher geht grundsätzlich davon aus, dass zwischen dem zweiteiligen Kanon der Kirche „ein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang“ bestehe, „der offenbarungsgeschichtliche Qualität besitzt“; das Neue Testament könne deshalb nur in Verbindung „mit der Hebräischen Bibel und der Septuaginta so verstanden werden, wie es verstanden sein will.“80 – Dieses Anliegen greift er auf in seinem Hermeneutik-Entwurf Vom Verstehen des Neuen Testaments: Er regt an, „eine methodologisch und wirkungsgeschichtlich reflektierte Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten zu praktizieren.“81 Damit es dazu kommen könne, verortet er die Exegese einerseits dezidiert im Raum der Kirche, um andererseits ihre bleibende Allgemeinverständlichkeit anzumahnen:

„Der natürliche Ort für solche Schriftauslegung ist das Leben der Kirche. Die äußere Klarheit der Schrift nötigt aber dazu, bei der Auslegung so zu arbeiten und zu argumentieren, dass Methode und Ergebnisse auch über den kirchlichen Raum hinaus verständlich und diskutabel bleiben; vor einer Verschränkung historischer und dogmatischer Urteile darf die kirchliche Auslegung der Schrift allerdings nicht zurückschrecken.“82

Konkret skizziert83 er, dass nach einer ersten „Interpretation auf der Ursprungsebene der Texte“ eine zweite „auf der Ebene des biblischen Kanons“ zu erfolgen habe; dies habe „eine hermeneutisch bedeutsame Neubewertung der Einzeltexte“ zur Folge:

„Historisch wird damit der Einzeltext über seine Entstehungszeit hinausverfolgt und seiner Einbettung in jene christliche Tradition Rechnung getragen, die ihn zu einem Bestandteil des Kanons aus Altem und Neuem Testament hat werden lassen. […] Indem die Interpretation diese neue Traditionsstufe der Kanonisierung berücksichtigt, wird sie zur Beurteilung der Texte als Bestandteil des Kanons genötigt, muss also auch ein […] Urteil über Umfang, Recht und Grenze des Kanons entwickeln.“84

Dieses theologische Urteil sei in dem Bewusstsein zu treffen, „dass die Bibel vielfältige Stimmen in sich vereint, die sich nicht nur gegenseitig ergänzen, sondern auch widersprechen. Sie müssen unterschieden, gewichtet und kombiniert werden.“85 – Auf diese Weise habe der Ausleger Abwägungen zu treffen, ob es sich jeweils „um Aussagen von gesamtbiblisch minderer oder größerer Bedeutung“ handele, ob dem betreffenden Text „durch andere Schriftaussagen widersprochen, oder ob er von ihnen bestätigt und in besonderes Licht gerückt“ werde. – So könne ein Bezug entstehen zur Mitte der Schrift, von der ja „ernsthaft erst und nur so die Rede sein“ könne, insofern „wirklich das Zeugnis der ganzen Schrift aus Altem und Neuem Testament gehört und bedacht wird;“ diese Mitte bestimmt Stuhlmacher wie folgt:

„Christlich gibt die Schrift Zeugnis von dem einen Gott, der als Schöpfer der Welt Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt und durch seinen Sohn, den Messias Jesus von Nazareth, in verheißungsvoller Endgültigkeit zum Heil aller Sünder aus Juden und Heiden gehandelt hat […]. Nur so gesehen – und eben nicht einfach abstrakt als ,Rechtfertigungslehre‘ o.ä. – ist das Evangelium wirklich Mitte der Schrift aus Altem und Neuem Testament. So lässt es sich dann aber auch gesamtbiblisch als Kriterium anwenden, das aus dem Zentrum der Schrift heraus als theologischer Maßstab vorgegeben ist.“86

Die Beurteilung einzelner Aussagen der Schrift an einem theologischen Maßstab stehe in der Tradition der Alten Kirche: Diese habe dabei die sog. „Wahrheitsregel […] als normativen Inbegriff der zweiteiligen christlichen Bibel“ zur Anwendung gebracht; sie konnte so verfahren, „weil sie die Konsonanz der biblischen Aussagen über ihre Divergenz gestellt und die christliche Wahrheit mit der Offenbarungswirklichkeit des einen Gottes, seines einen Sohnes Christus Jesus und des (einen) Heiligen Geistes gleichgesetzt hat.“87 – Auf einer „dritten Interpretationsstufe“ habe dann die Entscheidung über die aktuelle Auslegung des jeweiligen Textes zu erfolgen; dabei setze „die kirchliche Bekenntnisüberlieferung“ zwar „unentbehrliche Wegmarkierungen“, sei aber gleichwohl selbst „immer neu an der Schrift zu messen.“88

Kanon und Auslegungsgemeinschaft

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