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II. Die religionsgeschichtliche Zugangsweise als konsequente Dekanonisierung: Von Semler über Wrede bis zur Gegenwart
ОглавлениеIm Zuge der geschilderten Entwicklung wurde und wird das Konzept des biblischen Kanons als verbindliche Schriftensammlung der Interpretationsgemeinschaft Kirche radikal in Frage gestellt. Während sich der Beginn dieser Infragestellung bei Semler noch mit einer gewissen Rücksicht auf die kirchliche Geltung des Kanons vollzog, ging der Neutestamentler William Wrede (1859–1906) 100 Jahre später bereits deutlich weiter; in seinem Text Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie aus dem Jahr 1897 beansprucht er für seine Disziplin, sie habe „wie jede andere wirkliche Wissenschaft ihren Zweck lediglich in sich selbst und verhält sich durchaus spröde gegen jedes Dogma und jede systematische Theologie.“47 Hinsichtlich eines möglichen Bezugs der wissenschaftlichen Exegese zur Auslegungsgemeinschaft der Kirche stellt er lapidar fest:
„Für Resultate wie Behandlungsweise [der Exegese] ergibt das Streben, der Kirche zu dienen, schlechthin keinerlei Maxime; denn beides wird lediglich durch die Natur des historischen Objekts bestimmt.“48
Deshalb versteht sich für ihn von selbst, dass der biblische Kanon für die wissenschaftliche Arbeit keinerlei Bedeutung hat:
„Keine Schrift des Neuen Testaments ist mit dem Prädikat ‚kanonisch‘ geboren. Der Satz: ‚eine Schrift ist kanonisch‘ bedeutet zunächst nur: sie ist nachträglich von den maßgebenden Faktoren der Kirche des 2. bis 4. Jahrhunderts […] für kanonisch erklärt worden. Darüber belehrt die Kanonsgeschichte hinreichend. Wer also den Begriff des Kanons als feststehend betrachtet, unterwirft sich damit der Autorität der Bischöfe und Theologen jener Jahrhunderte. Wer diese Autorität in anderen Dingen nicht anerkennt – und kein evangelischer Theologe erkennt sie an –, handelt folgerichtig, wenn er sie auch hier in Frage stellt.“49
Daraus ergibt sich für ihn, dass die neutestamentliche Wissenschaft biblische Schriften „nicht als kanonische, sondern einfach als urchristliche Schriften“ untersucht, was konkret bedeutet, „alles das aus der Gesamtheit der urchristlichen Schriften zusammen zu betrachten, was geschichtlich zusammen gehört.“50 Wrede schlägt deshalb vor, die Bezeichnung Neutestamentliche Theologie zu verändern: „Der für die Sache passende Name heißt: urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der urchristlichen Religion und Theologie.“51 – Mit dieser Intention verbindet sich seither eine Neuausrichtung der exegetischen Disziplinen, die diesen einen theologischen Charakter nur bedingt zuspricht; Beispiele dafür lassen sich sowohl im Bereich der alttestamentlichen52 wie auch der neutestamentlichen Exegese53 benennen.
Der Neutestamentler Jens Schröter stellt hinsichtlich der Situation im Bereich der neutestamentlichen Theologie fest:
„Wie nachhaltig diese Destruktion des Kanons […] bis in die heutige Zeit hinein wirkt, lässt sich unschwer an denjenigen Konzeptionen ablesen, die es unmittelbar mit der Kanonfrage zu tun haben, nämlich den Darstellungen einer ‚Theologie des Neuen Testaments‘. […] Was – bei aller Verschiedenheit der Durchführung – den genannten Entwürfen [Gnilkas, Streckers und Bergers] gemeinsam ist, ist das nur sehr marginale Eingehen auf die Frage, was eigentlich eine ‚Theologie des Neuen Testaments‘ von einer Deskription der einzelnen theologischen Entwürfe des frühen Christentums […] unterscheidet.“54
Es entstehe auf diese Weise der Eindruck, „eine ‚Theologie des Neuen Testaments‘, die diesen Namen verdienen würde, sei eine aus vorkritischen Zeiten stammende Idee, die in der Zeit der historisch-kritischen Forschung der längst erkannten Mannigfaltigkeit der frühchristlichen Ansätze zum Opfer gefallen ist und einer Religions- oder Theologiegeschichte des frühen Chris-tentums weichen sollte.“55
Hier ist anzufügen: Die zitierte Einschätzung Schröters liegt mittlerweile fast zwei Jahrzehnte zurück; gegenwärtig existieren neue Entwürfe, die sich dezidiert auch der Frage nach der Einheit des Neuen Testaments stellen.56
Im Folgenden geht es um den Weg, der seit der Mitte des letzten Jahrhunderts dorthin geführt hat.