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A. Schriftgemäßheit als Aporie der Reformation: Das Schriftprinzip und die Geschichte seiner Krise I. Die Krise des Schriftprinzips: Zerfall der Kirche in verschiedene Interpretationsgemeinschaften

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Der Schweizer Ulrich Luz, renommierter deutschsprachiger Neutestamentler und Verfasser des wohl derzeit bedeutendsten Kommentars zum Matthäus-Evangelium1, veröffentlichte im Jahr 2014 eine ausführliche Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments.2 – Den Ausgangspunkt seiner Darlegungen bildet eine ernüchternde Bilanz der Situation der Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind:

„Die Zuversicht, welche die Reformatoren in die Klarheit und die Durchsetzungskraft der Schrift setzten, erwies sich […] als voreilig. […] Die Geschichte des Protestantismus ist eine Geschichte von Abweichungen, Spaltungen, andauernden Aufbrüchen neue[r] reformatorischer Bewegungen, welche sich dann institutionalisierten und als Denominationen, Kirchen und Sekten endeten. Sie alle rechtfertigten sich durch ihre Bibelinterpretation.“3

Als ausgewiesener Fachmann für historisch-kritische Schriftauslegung zeigt er die Entwicklung zweier Jahrhunderte auf, während derer „sich die eine Bibel in eine Bibliothek unterschiedlicher Texte, Quellentexte oder rekonstruierter Texte auflöste. […]

In den Händen der Bibelgelehrten und immer mehr auch der Laien verwandelte sie sich in eine Vielzahl unterschiedlicher Lesemöglichkeiten […]. Die Zahl kirchlicher Interpretationsgemeinschaften vermehrte sich dabei ständig, wobei ihre Integrationskraft mehr und mehr abnahm. […] Viele evangelische Kirchen, die sich traditionell auf die Bibel berufen und die nun mit der Möglichkeit einer schier unbegrenzten Vielfalt in der Schriftinterpretation konfrontiert sind, befinden sich in einem Prozess rapider Selbstauflösung.“4

Im Fortgang seiner mehr als 500 Seiten starken Verstehenslehre des Neuen Testaments arbeitet er sich unter anderem an der Grundfrage ab: „Wie kann man eine Kirche auf eine Bibel bauen, die scheinbar beliebig interpretierbar ist?“5

Besonders beschäftigt ihn dabei ein schmerzhafter Konflikt:

„Der Wahrheitsanspruch der neutestamentlichen Verkündigung ist universal. Die Möglichkeit einer unbegrenzten Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten – ja nach Vorliebe eines einzelnen Bibellesers oder einer einzelnen Interpretationsgemeinschaft – steht in einem frappanten Widerspruch zu diesem Wahrheitsanspruch und führt ihn ad absurdum.“6

Ulrich Luz7 kommt auf diese Weise zu einer zugespitzten Analyse des Problems. Dabei steht er in einer langen Reihe von Fachleuten, die seit geraumer Zeit die prekäre Situation evangelischer Schriftauslegung erkannt und beschrieben haben.8 – Einen prominenten Ausgangspunkt markiert der Systematiker Wolfhart Pannenberg in seinem 1962 verfassten Aufsatz mit dem Titel Die Krise des Schriftprinzips; er schreibt: „Die Auflösung der Lehre von der Schrift bildet die Grundlagenkrise der modernen evangelischen Theologie.“9

Es stellt sich die Frage: Wie konnte eine solche Situation entstehen? Geht das evangelische Schriftprinzip nicht auf Martin Luther selbst zurück? War seine Position im 16. Jahrhundert nicht prägnant und klar genug, um sie zum bleibenden Fundament evangelischer Theologie machen zu können?

Begeben wir uns auf Spurensuche.

Kanon und Auslegungsgemeinschaft

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