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Einleitung

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Lehre und Leben der Kirche an dem auszurichten, was die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments vorgibt, war Hauptanliegen der Reformation des 16. Jahrhunderts, – galt letztlich aber zu allen Zeiten als Fundamental-Verpflichtung des christlichen Glaubens, bezieht er sich doch seinem Wesen nach auf Gottes Selbstoffenbarung in der Geschichte, die in den kanonischen Schriften der Bibel bezeugt wird. Durch das Zweite Vatikanische Konzil wurde diese Verpflichtung auch im Raum der römisch-katholischen Kirche auf fulminante Weise erneuert. So hat heute – 500 Jahre nach der westlichen Kirchenspaltung – das Anliegen, schriftgemäß Theologie zu treiben und darauf aufbauend das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen, ökumenischen Charakter und leistet einen wichtigen Beitrag dazu, die getrennten Kirchen wieder auf einen gemeinsamen Weg zu führen.

Der Absicht, sich in der Kirche vor allem und zuerst auf die Schriften des biblischen Kanons zu beziehen, steht eine Entwicklung gegenüber, die deren Umsetzung seit mehr als zwei Jahrhunderten geradezu transformiert hat: Mit der Zeitenwende der Aufklärung wird auch im Bereich von Theologie und Kirche historisches Bewusstsein unverzichtbar. Die Erforschung des geschichtlichen Gewordenseins der Schriften der Bibel führt zu einer vorher nicht gekannten Spezifizierung des theologischen Arbeitens; mit den Disziplinen alt- und neutestamentlicher Exegese, also Schriftauslegung, entstehen neue Teilgebiete der Wissenschaft, die binnen weniger Jahrzehnte der gesamten Theologie ein verändertes Koordinatensystem aufprägen: Nicht mehr die Heilige Schrift als vermeintlich einheitlicher Block ist seither Orientierungsgröße für Leben und Lehre der Kirche, sondern die Vielzahl der Stimmen biblischer Bücher in ihrer Verschiedenheit, manchmal gar Widersprüchlichkeit.

Rückblickend möchte man sagen: Seit über 200 Jahren arbeitet sich die Theologie – zunächst die evangelische, seit dem 20. Jahrhundert auch die katholische – ab an der neu entdeckten Pluralität ihres biblischen Fundaments: Die Forschungsvorhaben in den exegetischen Fächern werden zusehends detaillierter, betrachten jede denkbare Einzelheit unter dem Vergrößerungsglas der historisch-kritischen Schriftauslegung; die exegetische Literatur, die mittlerweile im Bereich beider Konfessionen die Bibliotheken füllt, ist auch von Spezialisten kaum mehr zu überblicken. Die seither in den Fokus gerückte Vielfalt der biblischen Stimmen hat das Bemühen, schriftgemäße Theologie zu formulieren, deutlich verkompliziert; nicht wenige Fachleute halten es inzwischen für unmöglich, weiterhin die »Schriftgemäßheit« von Verkündigung und Lehre der Kirche einzufordern.

Gleichwohl lässt sich seit geraumer Zeit auch ein gegenläufiger Trend feststellen: er nimmt seinen Ausgangspunkt bei der nüchternen Erkenntnis, dass bereits die Entstehung der christlichen Bibel einem Auswahlverfahren vergleichbar ist: Die Festlegung der Schriften, die das Alte bzw. Neue Testament bilden sollten, der Prozess der sogenannten Kanonisierung, gleicht – jedenfalls in seinem Resultat – der Fixierung einer begrenzten Vielstimmigkeit theologischer Aussagen.

Dabei stellt sich die Frage: Ergibt sich aus dieser Vielstimmigkeit ein passables Klangbild – oder dominieren die Missklänge? Ist es möglich, im Blick auf die beiden Teile der christlichen Bibel und hinsichtlich des gesamten Buches von einem einheitlichen Werk zu sprechen, das – auch in seiner Vielgestaltigkeit – eine handhabbare Grundlage kirchlicher Lehre und kirchlichen Lebens liefern kann? Oder führt die Pluralität biblischer Standpunkte im Ergebnis zu einem Maß an Vielfalt, das sich nicht mehr unter dem Dach einer Kirche zusammenhalten lässt?

Die vorliegende Untersuchung mit dem Titel Kanon und Auslegungsgemeinschaft fragt nach der Möglichkeit, auch unter den gegenwärtigen Bedingungen – das heißt, nach über zweihundert Jahren historisch-kritischer Exegese – schriftgemäße Theologie zu formulieren. – Diese Frage soll in ökumenischer Perspektive gestellt werden: Die in den letzten Jahrzehnten zwischen den Konfessionen geführten Gespräche haben gezeigt, dass beide Kirchen vor der Herausforderung stehen, unter den Maßgaben der in vollem Maße wahrgenommenen Vielfalt des biblischen Zeugnisses Grundlinien christlicher Identität zu benennen.

Der erste Teil (A) formuliert eine Problemanzeige: Das sogenannte reformatorische Schriftprinzip – das heißt, die programmatische Forderung, evangelische Theologie exklusiv an der Bibel zu orientieren – befindet sich seit geraumer Zeit in einer veritablen Krise. Wie kann dieser Krise begegnet werden? Ist es möglich, sie zu überwinden?

Ein zweiter Durchgang (B) beleuchtet die genannte Problematik unter anderen Gesichtspunkten: Wohin führt eine Sichtweise, die von einer unüberbrückbaren Vielstimmigkeit der Bibel ausgeht? Wie kann die wieder entdeckte Bedeutung des biblischen Kanons neue Möglichkeiten der Formulierung schriftgemäßer Theologie aufzeigen?

Teil drei (C) widmet sich der Situation der Schriftauslegung im Bereich der katholischen Theologie: Dort erfolgte im 20. Jahrhundert eine rasante Entwicklung, die in wenigen Jahrzehnten den Weg der historisch-kritischen Exegese nachvollzogen und unter den Maßgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils zu teilweise anderen Ergebnissen geführt hat.

Die Abschnitte vier (D) und fünf (E) stellen konkrete Möglichkeiten einer erneuerten kanonischen Sichtweise auf die Bibel anhand der Positionen eines evangelischen (Ferdinand Hahn) und eines katholischen Exegeten (Thomas Söding) vor.

Der sechste Teil (F) zieht eine vorläufige Bilanz und fragt nach der Möglichkeit, auf der Basis des pluriformen biblischen Kanons im Raum der Kirche normative Theologie zu formulieren.

Teil (G) beschreibt Erkenntnisse und Perspektiven aus dem ökumenischen Dialog der letzten Jahrzehnte: Anhand der Studiendokumente »Verbindliches Zeugnis« (1998), »Communio Sanctorum« (2000) und »Die Apostolizität der Kirche« (2009) wird gefragt, wie das Miteinander der Konfessionen Wege aufzeigen kann, zu einer konsensfähigen Bibelinterpretation zu gelangen, die dem vielfältigen Befund entspricht, den mehr als zwei Jahrhunderte historisch-kritischer Schriftauslegung ergeben haben.

Der letzte Abschnitt (H) stellt schließlich dar, was es bedeutet, die christliche Kirche konsequent als Auslegungsgemeinschaft der Heiligen Schrift zu verstehen und unternimmt den Versuch, ein am Kanon orientiertes Bibelverständnis zu entfalten, das die klassische konfessionelle Alternative von Autopistie (Selbstevidenz der Schrift) und lehramtlicher Auslegung überwinden kann.

Kanon und Auslegungsgemeinschaft

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