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I. Der Beginn der Dekanonisierung: Die Separation von Exegese und Dogmatik – Entwicklung von der ‚Doppelgesichtigkeit‘ zur Diastase

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Als „Initiator der neuzeitlichen Diskussion um den Kanon“ und „wesentliche[r] Anreger für die ganze historisch-kritische Erforschung und Auslegung des Neuen Testaments“ kommt Johann Salomo Semler (1725–1791) „zentrale Bedeutung in der neuzeitlichen Theologiegeschichte“ zu.36

Wenn Semler Stellung bezog „gegen das Schriftdogma der lutherischen Orthodoxie“, ging es ihm aus seelsorgerlichen Gründen vor allem darum, „dem einzelnen Menschen zum praktischen und sinnvollen Umgang mit der Schrift zu verhelfen“; in diesem Sinn vertrat er die These: „Der biblische Kanon ist nicht gleichzusetzen mit dem Wort Gottes.“37 – Mit Semler setzt sich die Einsicht durch, dass zum biblischen Kanon zwingend das Geschehen seiner historischen Genese gehört:

„Der Kanon ist […] das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses und hat daher keinen gött-lichen oder unmittelbar apostolischen Charakter, sondern nur die Autorität einer kirchlichen Schriftensammlung. […] Insgesamt kann Semler folgern, dass die Übereinstimmung früherer Zeiten über den Kanon keinen Grund dafür gibt, dass wir heute ebenso urteilen und den Kanon beibehalten.“38

Indem Semler zwar an einer kirchlichen Relevanz des Kanons festhält, diesem aber keine Verbindlichkeit für den einzelnen Christen zugesteht, bleibt nach ihm „eine allgemein verbindliche Neubegründung der Geltung des Kanons“ offen.

Als gleichrangig in seiner Bedeutung für die Geschichte der theologischen Schriftauslegung, zunächst im Bereich des Neuen Testaments, ist Johann Philipp Gabler (1753–1826) einzustufen; seine am 30. März 1787 an der Universität Altdorf gehaltene Antrittsvorlesung trägt den Titel Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele;39 sie gilt „als die Geburtsurkunde der ‚Biblischen Theologie‘.“40 Bis zu Gabler verstand man darunter „den Versuch, die biblische Fundierung der protestantischen Dogmatik“ aufzuzeigen „durch eine nach den loci der Dogmatik geordnete Zusammenstellung und Erläuterung von beweiskräftigen Schriftstellen (dicta probantia) aus dem Alten und Neuen Testament.“41

Gabler strebt an, durch exegetische Arbeit die Anschauungen der biblischen Verfasser so zu vergleichen, „dass jedem das Seine unangetastet bleibt und deutlich auf der Hand liegt, in welchem Punkt die einzelnen gut zusammenpassen oder sich wiederum unterscheiden“, denn nur so könne „die Gestalt der reinen, nicht mit anderen vermischten Biblischen Theologie“ erhoben werden; Ziel sei es, festzustellen, „welche Meinungen sich auf die bleibende Form der christlichen Lehre beziehen und so uns selbst angehen; und welche nur für die Menschen eines bestimmten Zeitalters oder einer bestimmten Lehrform gesagt sind.“42 – Damit ist klar: Gabler geht es darum, durch sachgerechte Vorarbeit der Exegese belastbare Grundlagen für christliche Lehre zu schaffen: Erst aus den vergleichend erhobenen Aussagen der Schrift „können ohne Zweifel jene sicheren und unzweifelhaften allgemeinen Vorstellungen eruiert werden, die allein in der Dogmatischen Theologie Verwendung finden.“43

Der Neutestamentler Jörg Frey stellt zusammenfassend fest:

„Damit ist im bekanntesten Grundlagentext ‚biblischer Theologie‘ deren Doppelgesichtigkeit evident: So sehr diese historisch vorgeht und Eigenständigkeit gegenüber der dogmatischen Theologie beansprucht, so sehr erfolgt sie zugleich im Interesse der Unterscheidung zwischen dem eigentlich Gültigen und dem nur Zeitbedingten, d.h. im Horizont einer gegenwartsbezogenen Interpretation der biblischen Botschaft.“44

Aus der ,Doppelgesichtigkeit‘ der sich emanzipierenden exegetischen Disziplinen entwickelte sich im Verlauf zweier Jahrhunderte eine Diastase: Im Bereich der Schriftauslegung setzte man sich zum Ziel, ohne dogmatische Bevormundung rein historisch zu arbeiten; die Entdeckung der Vielgestaltigkeit der Bibel schien mehr und mehr zum höchsten Zweck der wissenschaftlichen Schriftauslegung zu werden. – Die Disziplin der Systematik, deren Aufgabe darin besteht, nach dem Verbindenden in der Heiligen Schrift zu fragen, fühlte sich von den Exegeten allein gelassen und ging schließlich wieder dazu über, mehr oder weniger autarke dogmatische Lehrgebäude zu errichten … – Rochus Leonhardt kommt deshalb zu einem drastischen Resümee:

„Man kann es als eine Ironie der Geschichte betrachten: Im Namen der religiösen Mündigkeit aller Christen hatte Luther die Autorität der Bibel gegen Fehlentwicklungen in der kirchlichen Lehre und Praxis geltend gemacht. Die sich damit stellende Frage, wie eine biblisch fundierte theologische Lehre und Praxis genau auszusehen habe, sollte durch eingehende Untersuchungen der biblischen Texte beantwortet werden. Das Resultat dieser von der Exegese durchgeführten Untersuchungen bestand freilich letztlich darin, dass die Texte der Bibel kein festes Fundament sachgerechter theologischer Lehre und Praxis enthalten […]. Damit aber ging der Dogmatik jene Grundlage verloren, auf die sie seit der Reformation gesetzt hatte.“45

Der Alttestamentler Georg Steins formuliert aus seiner Sicht:

„Die moderne wissenschaftliche Exegese beginnt Ende des 18. Jahrhunderts mit dem dezidierten Verzicht auf die Frage nach der Einheit der Schrift. Die neu entworfene ‚Biblische Theologie‘ emanzipiert sich von dogmatischen Vereinnahmungen, ihr Interesse richtet sich auf die Unterschiedlichkeit der einzelnen Stimmen im Kanon […]. Damit ist ein Forschungsansatz umrissen, der […] den Mainstream der wissenschaftlichen christlichen Exegese prägen sollte. ‚Einheit‘ war zum Gegenbegriff einer ‚wahren biblischen Theologie‘ geworden. In der Folge verlor das Thema Einheit der Schrift für die wissenschaftliche Exegese rapide an Bedeutung und wurde mehrheitlich ganz aufgegeben. Diese Entwicklung hatte weitreichende Folgen. Die Behandlung der Bibel in der Exegese und in der Systematik driftete weit auseinander. […] Für Bibelinteressierte eine Quelle der Ratlosigkeit!“46

Kanon und Auslegungsgemeinschaft

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