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2. Gerd Theißen: Kanon, Inkarnation und innere Pluralität a) Der Kanon als Konsequenz der Inkarnation

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In seinem Beitrag Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift? vertritt der Neutestamentler Gerd Theißen die These:111

„Weil sich das Wort Gottes nach urchristlicher Überzeugung in der Geschichte ‚inkarniert‘ hatte, konnte es in Büchern sekundär ‚inskripturiert‘ werden. So wie die profane Geschichte Ort der Offenbarung geworden war, so werden im Neuen Testament profane Literaturformen Zeugen der Transzendenz.“

Damit gelingt es ihm, die Anschauung Wredes112 von der den neutestamentlichen Schriften erst nachträglich zugesprochenen kanonischen Würde zu integrieren; die Positionen ursprünglicher und sekundärer Kanonizität schließen sich demnach keineswegs aus:

„Wir waren von einer Antithese […] ausgegangen: Entweder wurden die neutestamentlichen Schriften erst sekundär aus Gebrauchsschriften und Kleinliteratur zu kanonischen Schriften, oder sie besaßen von Anfang an Kanonizität. Beide Thesen sind richtig. Das Neue Testament hat profane Gattungen, nämlich Bios und Brief, sekundär kanonisiert und zum Medium seiner transzendenzbegründenden Botschaft gemacht. Das geschah aufgrund der Überzeugung, dass in der Geschichte des Jesus von Nazareth das Alte Testament seine textexterne Erfüllung gefunden hat und die neu entstehenden neutestamentlichen Schriften in dieser Geschichte ihre textexterne Mitte haben.“113

Theißen macht zunächst geltend, dass ein Kanon „eine Sammlung von Schriften“ sei, „die einer religiösen Gemeinschaft als normative Basis“ diene; dazu müssten vier Kriterien erfüllt sein: Transzendenzbezug, kultischer Gebrauch, die Endgültigkeit des Textbestandes sowie die Zugehörigkeit zu einer – „der Idee nach“ – abgeschlossenen Schriftensammlung.114

Die Grundthese der historischen Kritik, dass den Schriften des Neuen Testaments keine ursprüngliche Kanonizität eigne, sei vordergründig richtig: „Die Formen des Alten Testaments sind literaturgeschichtlich nicht ihr Modell. Die neutestamentlichen Schriften entstanden nicht, um eine erweiterte Ausgabe des Alten Testaments zu schaffen.“115Theißen legt nun aber überzeugend dar, dass sowohl die Paulusbriefe als auch die vier Evangelien prätextbezogene116 und eigentextbezogene117 Kanonsignale enthalten, die zumindest im Blick auf die Kriterien Transzendenzbezug und kultischer Gebrauch das Urteil nahelegen, dass diese Schriften zwar „nicht von Anfang an kanonisch“, aber „doch von Anfang an kanonfähig“ waren; deshalb sei es „keine Willkür, wenn sie zu einem zentralen Bestandteil des Kanons wurden.“118Bios (= Evangelium) und Brief stellten die beiden Grundgattungen des Neuen Testaments dar; gleichwohl seien „nicht die Texte und ihre literarischen Formen […] an sich heilig“ gewesen, „sondern das durch sie bezeugte Geschehen. […] Die Bezugnahme auf Jesus war das feststehende Element. Seine Botschaft war vorgegeben. Die Briefe aber zeigten die flexible Anwendung dieser Botschaft in neuen Situationen.“119 – Ein entscheidendes Indiz hierfür sieht Theißen im 2. Petrusbrief, der als „Klammer“ diene, „die beide Grundformen verbindet.“120

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