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Knastologenaristokratie
ОглавлениеDer Kapellmeister mag den Fabrikantensohn nicht so recht. Warum, weiß er selbst nicht. Vielleicht mag er Grenzgänger nicht, die mal auf der einen und mal auf der anderen Seite der Grenze ihren idealen Lebensmittelpunkt gefunden zu haben glauben.
Er kennt Leute aus den fünfziger Jahren, die ihr Mobiliar kurz und klein geschlagen haben, um dann darauf ihre Notdurft zu verrichten, bevor sie sich in den Westen abgesetzt haben. Nachdem sie im Goldenen Westen überrascht feststellen mussten, dass sie weitestgehend auf sich selbst gestellt waren, dass Eigeninitiative gefragt war, um sich im Überlebenskampf zu behaupten, kamen sie nach wenigen Monaten reumütig in ihre Heimatstadt zurück, um sich eine Wohnung zuweisen und in der Zeitung als vom Kapitalismus enttäuschte Helden feiern zu lassen.
Der Kapellmeister hat es versucht, er wollte in dem Land bleiben, in dessen Städten der Geist Goethes und Schillers, Bachs und Händels wehte. Aber die Zeiten hatten sich gewandelt, der Geist schien wie Schnee weggeschmolzen zu sein. Die Kunst in der DDR wurde gegängelt, an einer Hundeleine gehalten, die sich mal auf zwanzig Meter abspulen ließ, mal die kalte Hand des Hundehalters im Genick zu spüren bekam. Obwohl die Freiheit in der Musik, im Musiktheater unverhältnismäßig größer zu nennen war als im Sprechtheater oder in der Literatur, wollte er kein Teil eines geknebelten Kulturbetriebs sein. Dass eine steile Karriere auch für ihn ohne Parteibuch nur schwer vorstellbar war, spielte bei seinem Entschluss, die DDR zu verlassen, fast schon eine untergeordnete Rolle. Es war einfach das Unbehagen, das er bei der ihn umgebenden eigenartigen Mischung von Begabung und Nicht-Begabung empfand, wenn die Begabten in ihrer Entwicklung behindert wurden, weil die Minderbegabten, denen die Partei den Rücken stärkte, den Wettbewerb zu ihren Gunsten zu entscheiden vermochten. Das Unbehagen war eines, das sich vordergründig zwar aus der ihm unsympathischen Politik herleitete, allein schon beim Anblick der Funktionsträger die Nackenhaare sträuben ließ, in Wirklichkeit aber ging es tiefer, rief einen Schmerz in ihm wach, den er auch beim Hören eines verstimmten Klaviers empfand. Die ständig falschen Töne waren es, die sein Gehör beleidigten, ihn nach dem Klavierstimmer, dem Menschenstimmer riefen ließen. Doch die waren der Taubstummheit verfallen, in Gefängnissen verschwunden oder rechtzeitig außer Landes gegangen.
Seine Flucht in den Westen war längst schon gescheitert, noch bevor er sie überhaupt angetreten hatte. Der Fluchthelfer hatte zweimal kassiert, einmal von den Verwandten des Kapellmeisters im Westen und ein zweites Mal von der Stasi in Ostberlin. Ein halbes Jahr lang hatte die mit ihm Katz und Maus gespielt. Wohl im Glauben daran, dass das Fleisch mit zunehmender Todesangst schmackhafter sei. Falsche Kuriere bestellten ihn nach Ostberlin, um die Einzelheiten zu besprechen. Als es dann so weit war, musste er zweimal die Autos wechseln, die sich über holprige Landstraßen und Feldwege der Autobahn näherten. Der Rhythmus des Holperns kam ihm vor wie Erlkönigs hastender Reiter mit dem sich in Fieberfantasien schüttelnden Kind in seinem Arm. Er versuchte, die Angst zu verdrängen, stattdessen den dahinjagenden Klängen des Liedes nachzulauschen. Im dritten Wagen dann, einem umgebauten alten Buick, verkroch er sich hinter den Rücksitz, fühlte sich wie der fieberkranke Knabe, der in den Armen des Vaters schließlich gestorben war. Würde es am Ende auch ihm so ergehen? Würden ihn gar die Abgase töten wie einen Juden, dessen Leben die Nazis für überflüssig erklärt hatten? Nein, nein, schoss es ihm in seiner pränatalen Körperstellung durch den Kopf, die zweite Hälfte der besprochenen Summe würden die Schleuser ja nur für den lebenden Flüchtling bekommen.
An der Grenze in Marienborn wurde das Automobil gründlich unter die Lupe genommen. Aber entdeckt wurde sein Versteck vorerst nicht.
Doch da er erwartet worden war, wurde der Fahrer in aller sozialistischen Form und Höflichkeit gebeten, einem Fahrzeug der Staatssicherheit hinterherzufahren. In der nahegelegenen Kaserne dann wurde der Kapellmeister von Kfz-Spezialisten aus seinem Verlies befreit.
Eine Befreiung freilich hatte er sich einige Kilometer weiter erhofft, nicht hier und nicht so, auch wenn ihm die endlich wieder möglich gewordene Bewegung der steifen Glieder wie eine Wohltat vorkam, die ihn fast die Angst vor dem, was nun unweigerlich kommen würde, vergessen ließ. Er konnte kaum vernünftige Gedanken fassen, dirigierte in Gedanken Beethovens Fünfte. Das Schicksal hatte sich Eintritt in sein Leben verschafft.
Während er fröstelnd und zitternd darauf wartete, abgeführt zu werden, wurde er auf einen 300er Mercedes aufmerksam, dessen Nummernschilder sich nach dem Rolltreppenprinzip veränderten. Verwundert registrierte er verschiedenste westliche Kennzeichen, die er sich sogar hatte merken können, besaß er doch als Dirigent ein fotografisches Gedächtnis.
Der Ansporn, Partituren auswendig zu lernen und die Technik, sie quasi zu fotografieren und als jederzeit aktivierbare Negative zu speichern, kam von seinem großen Vorbild, dem rumänischen Wunderdirigenten Sergiu Celibidache, den er noch zwischen 1945 und 1952 an der Spitze der Berliner Philharmoniker erlebt hatte.
In der Schwarzen Pumpe gibt es ein verstimmtes Klavier, auf dem der Kapellmeister in den Abendstunden, wenn die Kulturgruppe zusammenkommt, um einen Tucholsky-Abend einzustudieren, klassische Musik erklingen lässt.
Chopin macht mich sentimental. Ich versinke in der Welt berauschender Klänge, ein hauchdünner Tränenschleier versperrt mir die Sicht. Von unserem Klavierspieler höre ich zum ersten Mal im Leben den Namen Béla Bartók. Auch er sei aus seiner Heimat weggeekelt worden und noch schlimmer, er sei im amerikanischen Exil gestorben, ohne die geliebte Heimat je wiedergesehen zu haben.
Bartóks Mikrokosmos ist ein ungewohntes und frappierendes Hörerlebnis. Wie elektrisiert lausche ich dem melodisch hämmernden Rhythmus, einer Musik, die mir eine geniale Verschmelzung von Klassik und Moderne zu sein scheint, ohne dass ich freilich in der Lage wäre, meinen Eindruck durch musiktheoretische Kenntnisse zu belegen, denn auf dem Gebiet der Musik bin ich ein blutiger Laie, zumal ich es bei meinen Klavierstudien nicht allzu weit gebracht habe. Hänschenklein und Ähnliches sind die Höhepunkte meines Repertoires. Noch schlimmer, die Struktur der Musik verschließt sich meinem Blick, höchstens nehme ich die metaphysische Ebene wahr. Die mathematischen Strukturen des Klanggefüges geben sich mir nicht zu erkennen. In ihrer strengen Klarheit bleiben sie mir unklar, ich stehe ihnen hilflos gegenüber wie jener Junge, den Kurt Tucholsky am Ende seines Familiendramas Wo kommen die Löcher im Käse her? mit gen Himmel ausgestreckten Armen ausrufen lässt: Aber ich möchte doch wissen, wo kommen die Löcher im Käse her?
In der Kulturbaracke zwischen Kommandozentrale und Speisesaal kommen wir an zwei Abenden in der Woche zusammen, wir, die Kulturträger des Lagers, wir, die wir gelegentlich ein Buch gelesen haben, ich sogar viele, wenn auch kunterbunt durcheinander, ohne inneren Bildungszusammenhang, fast wie Pawel aus Gorkis Mutter, der ohne Sinn und Verstand versucht, ein Lexikon auswendig zu lernen. In der Straßenbahn zwischen Dresden und Radebeul hatte ich damals tagtäglich ein bis zwei Dramen gelesen.
Eine wirklich fundierte Bildung besitzen aus dem Kreis nur drei: der Kapellmeister, Kurt und unser gemeinsamer Freund, der Bücherdieb, ein Libro-Kleptomane, der seinen Unterhalt aus dem Verkauf von gestohlenen Büchern bestritt, nachdem sich seine Eltern kurz nach dem Mauerbau, die Mutter im Rollstuhl, auf der Schwedenfähre von Saßnitz aus über den Umweg Schweden nach Westberlin abgesetzt hatten. Seit zwölf Jahren war die Mutter, die an Multipler Sklerose litt, nicht aus der Wohnung gekommen. Nun unternahm sie eine Reise übers Meer, um aus der Ostberliner Schonenschen Straße ein paar Straßen weiter nach Westberlin zu ziehen. Unseren Freund hatten sie zurücklassen müssen, hatten ihn aber später nachholen wollen. Doch dieses Vorhaben war fehlgeschlagen, so dass er sich auf intellektuell-kriminelle Abwege begeben musste, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Da er nichts gelernt, auch die Oberschule nicht beendet hatte und von körperlicher Arbeit nicht viel hielt, war ihm nichts anderes eingefallen, als seine Leidenschaft, unauffällig und unentgeltlich Bücher zu sammeln, in existenzsichernde Bahnen zu lenken. Von nun an stahl er von jedem Titel wenigstens zwei Exemplare, eines für seine ständig wachsende Privatbibliothek und eines, um es zu verhökern.
Wenige Augenblicke genügen ihm, um den Standort der lohnendsten Objekte festzustellen, denen er dann, um nicht aufzufallen, den Rücken zukehrt. Er, schwarz gelocktes Haar, bräunlicher Teint, Grübchen in den Wangen, immer ein Lächeln auf den Lippen, schlank, schlaksige Bewegungen, mit einem Wort, ein netter Junge von nebenan, mit dem über Bücher sich zu unterhalten ein Genuss ist, denn er ist belesen wie selten jemand in seinem Alter, er, der zwei oder drei Jahre älter ist als ich, verwickelt die freundlichen Buchhändlerinnen in ein Gespräch, um schließlich in einem günstigen Moment die ausgespähten Trophäen an sich zu nehmen und freundlich grüßend das Geschäft zu verlassen.
Kurt, der tapsige Bär, der schlesische Schwejk, der traurige Clown, er ist meine Universität, füttert mich mit Büchern und Namen bekannter Autoren, von denen ich aus seinem Mund zum ersten Mal höre. Kurt ist mein Lehrer, mein Freund, mein Vater und mein Beichtvater. Mit ihm philosophiere ich über Gott und die Welt, über Politik, Literatur, die menschliche Existenz, das Sein in Gott, über das eigene klägliche Versagen in der Beherrschung meines triebhaften Wesens. In Kurts Gegenwart komme ich mir recht klein vor. Dennoch brauche ich jemanden, dem ich mich anvertrauen kann, die Last der Verantwortung gegenüber zwei kleinen Kindern ist zu schwer, als dass ich sie allein tragen könnte.
Einen Tag nach John F. Kennedys Ermordung, von der wir aus den Nachrichten des Lagerfunks erfahren, vertraue ich mich im Vorraum der Baracke 3 Kurt an. Das Rätselraten über die Hintergründe des Mordes an Kennedy lässt eine Stimmung aufkommen, in der ich das Bedürfnis verspüre, mein Gewissen zu erleichtern. Wir tappen im Dunkeln. Wer steckt hinter dem Attentat? Sicher werden die Geheimdienste der Welt jetzt ein Lügengebäude errichten, um so die unabhängigen Medien in die Irre zu führen. Ich bin verwirrt. Wild schwirren die Spekulationen durch meinen Kopf. Ich sinne über die Verantwortung für Leben und Tod der anderen nach, über die eigene Verantwortung für gerade entstandenes Leben.
Kurt versichert mir, mich sehr gut zu verstehen. Ich aber glaube, dass Kurt in Wahrheit entsetzt darüber ist, dass sich hinter meiner vorgegebenen Frömmigkeit abgrundtiefer Leichtsinn verbirgt. Kurt behauptet, gleichfalls schon so manches Abenteuer bestanden zu haben. Seine Geschichte mit einer Pfarrerstochter, die er auf dem Schreibtisch des Superintendenten vernascht habe, der inzwischen Bischof geworden sei und sich für die Kassation des Urteils eingesetzt habe, scheint mir unglaubwürdig zu sein. Manchmal denke ich, Kurt habe die Geschichte nur erfunden, um aufzuschneiden oder dem Gespräch eine komische Wende zu geben, um meine quälenden Schuldgefühle zu lindern. Und natürlich entbehrt die Vorstellung vom korpulenten und nicht gerade sportlich zu nennenden Kurt mit der Pfarrerstochter auf dem Schreibtisch liegend nicht der Komik.
Als ich mein Gewissen bereits erleichtert habe und versuche, mich aus den Verstrickungen selbstanklagender Beichte durch Themenwechsel zu lösen, entdecke ich vor dem Fenster die neugierigen Blicke unseres Spezialfreundes, des Oberwachtmeisters Fensterschreck, wie wir ihn nennen, weil er die Gabe besitzt, immer dann am Fenster aufzutauchen, wenn sich in der Baracke Dinge abspielen, die gegen die Lagerordnung verstoßen. Angst haben wir keine vor ihm, obwohl der Aufenthalt in einer anderen Wohnbaracke als der eigenen strengstens verboten ist.
Wir können uns des Verdachts nicht erwehren, dass er um die Freundschaft der ihm anvertrauten Strafgefangenen buhlt oder aber, dass ihm zumindest daran liegt, von der Knastologenaristokratie, zu der die Politischen seines Erachtens gehören, Anerkennung zu ernten. Nachdem er sich in langen Tiraden über meine laxe Haltung gegenüber der Lagerordnung ergeht, gipfeln die Vorhaltungen des Erziehers darin, dass er betont, mich, den Strafgefangenen 724 aus 3, um nichts sonst als um meine Redegabe zu beneiden. Und im Übrigen studiere nicht nur er, der Genosse Erzieher, Pädagogik, sondern auch seine Frau habe sich dem Studium der Pädagogik gewidmet. Besonders einprägsam ist seine ungewöhnliche Betonung des Wortes Pädagogik auf der letzten Silbe. Es will scheinen, als wolle er den Eindruck erwecken, dass er des Griechischen mächtig sei und dies durch die Betonung auf der letzten, der deutschen, Silbe unterstreichen wolle.
Die gute und angenehme Gesellschaft, in der ich mich hier befinde, kann dennoch nicht vergessen machen, dass ich eingesperrt bin, kann nicht die scharfen Hunde im Laufgang zwischen den beiden Zäunen vergessen machen, wovon einer unter Strom stehen soll, kann nicht die Wachtürme vergessen machen, die Tag und Nacht von Posten mit Maschinenpistolen besetzt sind, kann nicht die Wachen mit Maschinenpistolen über der Schulter und Hunden an der Leine vergessen machen, die beim Appell hinter den Strafgefangenen stehen, um die militärische Einhaltung der Ordnung zu sichern, kann nicht die vielen kleinen und größeren Unannehmlichkeiten vergessen machen, denen ich durch die Feindseligkeiten der Kriminellen ausgesetzt bin, mit denen ich Tisch und Etagenbett teile, kann nicht vergessen machen, dass, wenn auch mit geringem Erfolg, versucht wird, uns einer Gehirnwäsche zu unterziehen.
Als sich ein schlecht vorbereiteter und stotternder Redner im Speisesaal erkühnt, die Strafgefangenen in Marxismus-Leninismus zu unterweisen, verlasse ich empört und angewidert den Saal. Als Einziger. Der Redner hört auf zu stottern, starrt entsetzt in den Saal, hat Angst, dass sich weitere Strafgefangene von ihren Plätzen erheben und das Ungeheuerliche wagen, meinem Beispiel folgen könnten. Die Mitgefangenen triumphieren innerlich, dass einer von ihnen sozusagen symbolisch für alle das tut, was auch sie gern tun würden.
Draußen werde ich von einem Erzieher, der in kluger Voraussicht vor dem Saal Posten bezogen hat, nach meinen Beweggründen für das vorzeitige Verlassen der Religionsstunde befragt und ob ich nicht bereit sei zurückzugehen. Bin ich nicht. Mein aufmüpfiges Verhalten, das schon meine Mutter zu Beanstandungen veranlasst hat, verschafft mir im Lager den Ruf von Unerschrockenheit. Auch meine ungewöhnliche Eingabe, in der ich beantrage, mir das Lateinlehrbuch und die Bibel aus meinen Effekten auszuhändigen und dafür Sorge zu tragen, dass ich im Zuge der verfassungsmäßig garantierten Freiheit der Religionsausübung die Möglichkeit erhalte, einem sonntäglichen Gottesdienst beizuwohnen, nötigt den Mitgefangenen Respekt ab, auch wenn sich dem gelegentlich ein Anflug von Lächeln beimengt.
Die Lagerleitung hüllt sich in Schweigen.
Bei einer Gelegenheit, als meine Brigade am Wochenende unter scharfer Bewachung zu einem Ernteeinsatz auf ein Feld in der Umgebung gefahren wird, habe ich einen Brief bei mir, in dem ich meinem väterlichen Freund, einem Pfarrer aus Löcknitz, ausführlich über das Lagerleben Bericht erstatte. In einem Moment, da ich mich unbeobachtet fühle, drücke ich den Brief einem gutmütig wirkenden Traktoristen in die Hand. Dessen ehrlich dreinblickende Augen scheinen mir zuzuraunen, dass das beidseitig eng beschriebene Blatt Papier seinen Adressaten erreichen wird. Sprechen können wir nicht miteinander, das ist verboten.