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Gummigeruch
ОглавлениеMit meiner für die DDR ungewöhnlichen Künstlermähne und den Jesuslatschen, in denen ich sommers wie winters barfuß ging, hatte ich keine Chance gehabt, die Sympathie des ehemaligen Offiziers der NVA zu erringen. Marlene schon eher. Dafür aber stand das Kennenlernen mit dem Pfarrer unter einem glücklicheren Stern. Auf Rädern fuhren Marlene und ich in das etwa acht Kilometer entfernte Löcknitz. Der Pfarrer, eine imposante Erscheinung, grauhaarig, stattlich wie ein nordischer Kleiderschrank, umarmte Marlene und auch mich, wobei er die Zigarre kurz aus dem Mund nahm. Bequem in den Sessel zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen, in eine dichte Rauchwolke gehüllt, unterhielt er sich mit mir, dem Neunzehnjährigen, als wären wir gleichaltrig.
Sein Sohn und seine Schwiegertochter waren kurz vor dem Mauerbau in den Westen gegangen, wo beide journalistisch tätig waren, er als Musikkritiker und sie als Sprecherin beim Deutschlandfunk. Täglich hörte der Pfarrer die Stimme der geliebten Schwiegertochter und des Öfteren auch die seines einzigen Sohnes im Radio. Besuchen durfte er sie nicht. Allerdings war ihm vom Rat des Kreises mehrfach nahegelegt worden, einen Ausreiseantrag zu stellen. Die Behörden wären den unbequemen Pastor, der kein Blatt vor den Mund nahm, gern losgeworden. Auch von der Kanzel herunter wetterte er gegen das materialistische Weltbild der ostdeutschen Kommunisten.
Er besaß Narrenfreiheit, durfte aussprechen, wofür andere wegen staatsfeindlicher Hetze längst ins Gefängnis gewandert wären. Ihn zu verhaften, das wagte man nicht. Man scheute sich, gegen jemanden vorzugehen, der zu den Verfolgten des Naziregimes gehörte, ja, sogar eine entsprechende Rente bezog.
Als Diakon einer kirchlichen ‚Anstalt für Schwachsinnige‘ hatte er sich aktiv der Euthanasie widersetzt, hatte eine Weile erfolgreich gegen den Abtransport seiner Schützlinge nach Hadamar gekämpft. Ein katholischer Bischof hatte 1941 von der Kanzel gegen die praktizierte Euthanasie protestiert. Erfolgreich. Drei Wochen später wurde dieses Programm zur Vernichtung unwerten Lebens eingestellt, zumal der Predigttext sich auch unter den Soldaten verbreitete, die offensichtlich Angst hatten, als Verwundete gleichfalls in die Kategorie des Unwerten zu geraten. Zu einem Protest gegen die Judenvernichtung allerdings ließ sich Bischof Graf von Galen nicht bewegen.
Den Fall des rebellischen Diakons löste die Gestapo schließlich, indem sie ihn wegen Abhörens von Feindsendern kurzerhand vor Gericht stellte und ins KZ Buchenwald verfrachtete. Nach der Befreiung belohnte ihn seine Kirche für die bewiesene Zivilcourage mit einer Pfarre, obwohl er kein Theologiestudium absolviert hatte. Mit der Jungen Gemeinde hatte er viele junge Leute um sich versammelt. Jung und Alt vergötterten ihn gleichermaßen. Mit seiner rheinländischen Art verströmte er Lebensfreude und -kraft, etwas, das im protestantischen Osten fremd und anziehend zugleich wirkte. Nie schien er genug Menschen um sich haben zu können. Auch außerhalb seiner Gemeinde knüpfte er Kontakte. Vor allem die Welt des Theaters hatte es ihm angetan.
Bevor er Anfang der zwanziger Jahre in den kirchlichen Dienst getreten war, hatte er sich als Schauspieler versucht. Allerdings, wie er bereitwillig zugab, mit mäßigem Erfolg. Marlene, die er auf der Bühne in einer kleinen Rolle gesehen hatte, hatte er im Hotel Uckermark im Restaurant angesprochen und ihr sein Leid geklagt, dass seine zehn Jahre ältere Frau im Krankenhaus lag. Waren sich Seelenhirt und Schäfchen begegnet oder ein alternder Mann und eine junge Blondine?
Vom Gummigeruch in meiner Nase werde ich mich wohl nie befreien können. Er ist unlöslich verbunden mit Marlenes Körper. Warum sie sich mir ohne jede Vorankündigung hingegeben hatte, verstand ich nicht. Wollte sie einfach wissen, ob ich tatsächlich so ein toller Liebhaber war wie der mir vorauseilende Ruf? Jedenfalls kam es keineswegs, wie es hatte kommen müssen, sondern vielmehr überraschend und unerklärlich. Nach einem anregenden Gespräch über meine beabsichtigte Wehrdienstverweigerung lehnte sie sich auf dem Bett in ihrem Untermieterzimmer zurück und gab mir zu verstehen, dass die Unterhaltung jetzt beendet sei und sie mich für die vielen schönen Gespräche belohnen wolle. Sich mit den Händen auf dem Bett abstützend, den Oberkörper nach hinten neigend, die gespreizten Beine von der Bettkante herabhängen lassend, warf sie den Kopf in den Nacken und ließ mich gewähren. Es ging alles mehr als schnell vonstatten. Ebenso unvermittelt, wie es begonnen hatte, war es auch zu Ende gegangen. Sehr geschickt hatte ich mich nicht angestellt. Sie fragte mich nur noch, ob ich sie heiraten würde, sollte sie ein Kind von mir bekommen.
Gesehen haben wir uns danach nur noch selten. Geblieben ist die Erinnerung an eine intensive Unterhaltung, an eine eigenartige Liebesaffäre und an den muffigen Gummigeruch, der sich von ihrem Büstenhalter auf den ganzen Körper übertragen hatte.