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Augensprache und Abschied

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Am 26. September 1963 ging es auf Transport. Im Hof bestieg ich zusammen mit mehreren anderen Strafgefangenen eine grüne Minna. Rechts und links des Mittelgangs winzige Einzelzellen mit einer noch winzigeren löchrigen Rosette zwecks Luftzufuhr. Kerzengerade saß ich mit angezogenen Knien, die an die Tür stießen, in einem rollenden Verlies. Draußen herrschte die sengende Hitze eines wunderschönen Altweibersommers. Die Fahrt zum Haftarbeitslager Rüdersdorf bei Berlin dauerte eine Ewigkeit. Ich glaubte, ersticken zu müssen. Kurz vor einer sich ankündigenden Ohnmacht wurde ich im Kalkwerk Rüdersdorf aus meiner Folterzelle befreit. Ich atmete auf. Wir Strafgefangenen bekamen etwas zu essen und zu trinken. Aber alsbald erfuhren wir, dass wir noch nicht am Ziel angekommen waren. Unsere mit Maschinenpistolen bewaffneten Bewacher befahlen uns zurück ins Auto. Gegen Abend trafen wir im Zuchthaus Cottbus ein. Das Tempo hier war ein anderes als in Eberswalde, meiner ersten Haftstation. Auf dem Flur hieß es Aufstellung nehmen, die Hosen herunterlassen, sich bücken, damit dir ein Hauptwachtmeister, nachdem du bereitwillig die Gesäßbacken auseinandergezogen hast, von hinten in den Magen gucken kann, denn dort könntest du ja verbotene Feilen, Messer, Scheren, Pistolen oder sonstiges Gerät, Dollarnoten, Westmark, Whisky, Zigaretten, westliche Zeitungserzeugnisse, gar einen Rundfunk- oder Fernsehempfänger versteckt haben, alles geeignete Hilfen, einen Ausbruch aus der Haft zu wagen. Im Gefängnis kursierten immer wieder die abenteuerlichsten Gerüchte von gelungenen Fluchtversuchen direkt über die Berliner Mauer in den Westen. Wachsamkeit war angebracht. Das sozialistische Vaterland musste gleichermaßen vor inneren wie äußeren Feinden geschützt werden.

Noch trug ich Zivilkleidung. In der Zelle klärte mich der eine der beiden Mitgefangenen darüber auf, dass diese Tatsache ein deutlicher Hinweis darauf sei, dass Cottbus nicht mein Endziel sei. Sieben Tage und sieben Nächte brachte ich in dieser Zelle zu. Im Vergleich zu Eberswalde fühlte ich mich wie auf einem Betriebsausflug. Mit beiden Leidensgenossen verstand ich mich ausgesprochen gut. Und das, obwohl der eine, ein Italiener, nach dem Krieg als Achtzehnjähriger in Deutschland hängengeblieben, Deutsch nur radebrechen konnte und nach eigenem Beteuern Italienisch vergessen hatte. Auch seine gemeinschaftlich mit einem Kumpan begangene Tat hinderte mich nicht daran, Mitleid mit ihm zu empfinden. Nach einer Zechtour hatten die beiden Hilfsarbeiter auf dem Heimweg ein junges Mädchen, das ihnen auf der Landstraße entgegengekommen war, im Straßengraben vergewaltigt. Ich glaubte, das Unverstehbare und Unverzeihliche zu verstehen.

Sprachlosigkeit macht dich zum Tier. Stell dir einen gesunden jungen Mann vor, der es wegen seiner Außenseiterrolle noch nie geschafft hat, eine Frau zu erobern, der die entsprechenden Mechanismen nie erlernt hat, den sein nicht ausgelebter Trieb zur Bestie hat werden lassen! Ohne Sprache keine Moral, keine geregelten Verhaltensnormen? Oft erwecken die Lebensabläufe eines Tiers in der Wildnis einen geordneteren Eindruck als das Verhalten der Menschen. Raubtiere töten nur selten ihresgleichen, es sei denn die Nachkommen des Nebenbuhlers, morden ansonsten nur, um den lebensnotwendigen Bedarf an Futter zu decken. Von Vergewaltigungen ihrer Artgenossinnen ist nichts zu hören. Einzig seine an die Sprache gekoppelte Denkfähigkeit, so glaube ich, hindert den Menschen daran, sich über die naturgegebenen Triebe hinwegzusetzen und Dinge zu tun, die von der Natur eigentlich nicht vorgesehen sind.

Vermutlich war der Italiener angesichts der sprachlichen Entwurzelung in seiner Schuldfähigkeit eingeschränkt. Armut und Kriege, Machtgier und Unterdrückung werfen menschliches Leben aus der Bahn, entmenschlichen es.

Hübsch sei das vergewaltigte Mädchen gewesen, beteuerte er. Groß gewehrt habe es sich nicht. Stumm habe es das Unerwartete über sich ergehen lassen. Was sonst hätte es tun sollen? Sich wehren, schreien und sich am Ende gar ermorden lassen, damit es nicht reden könnte? Da war es vielleicht sogar klug, sich auf das manchmal tödlich ausgehende Spiel einzulassen. Hätten die beiden Vergewaltiger sich nicht auf die Befriedigung der eigenen Geilheit konzentriert, hätten sie Augen für die des Mädchens gehabt, dann hätten sie sehen können, wie neben der Todesangst für den Bruchteil einer Sekunde so etwas wie Lust darin aufleuchtete.

Ich versuchte, mir die Augen des Mädchens vorzustellen, die der beiden Männer. Aber am Ende war ich ja auch nur naiv, und der Italiener mit seiner Unschuldsmiene band mir einen Bären auf, hatte gar schon mehrere Mädchen vergewaltigt, nur eben das Glück gehabt, bisher nie erwischt worden zu sein. Beim Damespiel suchte ich seine Augen. Dunkelbraun, fast schwarz, kam ihr Strahlen aus einer unergründlichen Tiefe, in der ich wie in einem schwarzen Loch hätte spurlos verschwinden können. Sie machten mir Angst. Der Italiener sprach mit den Augen, vor allem damit verständigte er sich. Diese Sprache beherrschte ich nicht. Akustische Sprache schafft Abstand, Augensprache will das Gegenüber aufsaugen, und wenn es sich nicht sogleich hingibt, wenn es nicht willig ist, dann eben mit Gewalt. Was, so ging es mir durch den Kopf, würde sein, wenn ich in der Bodenlosigkeit seiner Augen versänke?

Der andere Zellenkumpan beruhigte mich. Er sei schon seit Wochen mit dem Vergewaltiger zusammen in einer Zelle. Der sei gutmütig und harmlos.

Schon möglich. Dennoch glaubte ich, gutmütig und harmlos, das traf vor allem für den anderen zu: Dunkelbraunes Haar, treue, blaue Augen, sommersprossiges Gesicht, Nase und Kinn bildeten als Ausdruck physiognomisch sich artikulierender Gutmütigkeit einen rechten Winkel, die Arme hingen ein wenig kraftlos herab, die hagere Erscheinung wirkte schlaksig, die Füße schienen drei Nummern zu groß geraten zu sein.

Seine Bodenständigkeit hatte ihm mehrere Jahre Gefängnis beschert. Sein Vater war bei Stalingrad gefallen, die Mutter hatte den einzigen Sohn allein großgezogen, sich für ihn aufgeopfert. Dieses Opfer lastete auf ihm wie ein lebenslang nicht abzutragender Schuldenberg. Gern wäre er in den Westen gegangen. Gelegenheiten zum Gehen hatten sich ihm mehr als genug geboten. Aber seine Mutter im Osten allein zurücklassen, das hätte er ihr nie angetan. Als einer, der dem Ruf des Vaterlands gefolgt war, hatte er sich freiwillig zur Nationalen Volksarmee gemeldet. Freiwillig ganz im Gegensatz zu den vielen Tausenden, die sich dem Druck der ausschwärmenden Werber aus Angst vor nachteiligen Folgen gebeugt hatten. Die Armee, die nach dem Berliner Mauerbau einen kaum zu stillenden Bedarf an Freiwilligen hatte, um die sozialistische Friedensgrenze gegen den überall lauernden imperialistischen Feind aus dem In- und Ausland zu sichern, wusste dessen als sozialistisch einzustufende Haltung zu würdigen und schickte ihn zu einem Grenzbataillon in der Nähe von Friedrich Schillers Bauerbach. Dort schob er an einem besonders heiklen Grenzabschnitt Dienst. Heikel deshalb, weil er nach Aufforderung seiner Vorgesetzten den Posten in unregelmäßigen Abständen räumen und unbewacht lassen musste, damit sich zwischen Ost und West eine Schleuse öffnen konnte, um unbemerkt Kundschafter für den Frieden in den Westen zu schicken.

Heikel war die Gegend aber auch deshalb zu nennen, weil zwei guten Freunden von ihm eines Tages die Idee kam, dass sie diese Schleuse für kleine Ausflüge in eine andere Welt auch selbst aktivieren und nutzen könnten. Wenn sie gemeinsam Wache schoben, begab sich von nun an regelmäßig einer in voller Montur auf die andere Seite der Grenze. Eigentlich war es nur ein kleiner Spaziergang. Unweit ihres damals noch unverminten Kontrollabschnitts lag im Westen eine Dorfkneipe, deren Lärmen bis zu ihnen in den Osten herüberdrang. Dort tauchten sie gelegentlich auf, um sich zu einem kühlen Bier einladen zu lassen. Nachdem die Bauern an der Theke ihre erste Überraschung überwunden und begriffen hatten, dass nicht etwa der dritte Weltkrieg ausgebrochen war, sondern lediglich etwas geschah, was durchaus als normal hätte gelten können, dass nämlich einer aus der Nähe kam, um seinen Durst zu stillen, wurde jeweils einer der drei Freunde beim nächsten Kneipengang fast schon wie ein alter Bekannter begrüßt und zu ein bis zwei Gläsern Bier und Schnaps eingeladen.

Die nicht alltäglichen Ausflüge hätten sie durchaus noch eine Weile fortsetzen können, ohne dass die jugendliche Gedankenlosigkeit Folgen gehabt hätte, wäre nicht einem der drei Freunde eines Tages eine neue und gleichfalls naheliegende Idee gekommen, nämlich dem sozialistischen Vaterland endgültig den Rücken zu kehren, um fortan täglich, ohne Uniform und Maschinenpistole, gemütlich sein Bier etwas tiefer im Landesinneren genießen zu können. Er leistete gute Überzeugungsarbeit, führte als schlagendes Argument an, dass sie sich als Grenzer auf lange Sicht nicht darum drücken könnten, zu Mördern zu werden. Hatte ihnen doch ihr Politoffizier unverhohlen erklärt, ein toter Republikflüchtling sei besser als einer, der verwundet oder gar unversehrt in den Westen gelangen würde. Jemand, der versuche, die Grenze illegal zu überschreiten, habe sich aus der sozialistischen Menschengemeinschaft selbst ausgeschlossen und verdiene, wie ein Hase abgeknallt zu werden.

Der schlaksige Zellengenosse konnte sich nicht entschließen, seine Mutter zu verraten. Die beiden Freunde schlichen sich über die ihnen bekannten Pfade in den anderen Teil Deutschlands. Rührend nahmen sie Abschied, schrieben an ihre Eltern einen Brief, in dem sie diese von ihrem Weggang unterrichteten, und dass der zurückgebliebene Freund Bescheid wisse, falls ihnen etwas zustoßen sollte.

Es stieß ihnen nichts zu. Dafür aber wurde die Post aus dem Postsack gefischt und der treue Freund als Mitwisser zu dreieinhalb Jahren verurteilt. Das niedrige Strafmaß verdankte er einzig dem Umstand, dass er selbst nicht hatte mitgehen wollen.

Die Verhaftung erlebte er wie eine Art Befreiung. Endlich schuldete er keinen Befehlen mehr Gehorsam, endlich musste er keine Angst mehr haben, dass er vielleicht einen Menschen erschießen würde. Im Gefängnis fühlte er sich frei. Hier würde er nicht mehr Gefahr laufen, ein Täter zu werden, die Opferrolle bewahrte ihn davor.

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