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Frömmigkeit

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Noch vor Prozessbeginn hatte ich per Anhalter eine Rundreise quer durch die DDR unternommen, mit vielen Menschen gesprochen, ihnen von meinen ethischen Vorstellungen erzählt. Viele schüttelten verwundert und ungläubig den Kopf, andere hörten mir, dem gerade erst den Kinderschuhen Entwachsenen, interessiert zu und erklärten, wenn sie in meinem Alter wären, würden sie das Gleiche tun und nicht noch einmal in den Krieg ziehen.

Warum muss ich immer etwas tun, was Anderen imponiert oder missfällt? Entspringt dieses Verhalten nicht gar einem an Krankheit grenzenden Geltungsbedürfnis?

Warum setzen sich Menschen feindlichem Kugelhagel aus? Um den Feind zu töten, zu sagen, hier bin ich, erschießt mich, ich bin ein Held? Doch vielleicht bin ich unverwundbar und gelange vom Schlachtfeld als strahlender Held zurück in die Heimat?

Eigenartig, dass ich auf diesen Fahrten nie Männer traf, die sich dazu bekannt hätten, durch ihre Schüsse Feinde erfolgreich ins Jenseits befördert zu haben. Wie aber hatte es zu den Millionen von Kriegstoten kommen können, wenn doch niemand getroffen haben wollte? Diese mir perfekt vorkommende Verdrängung der Schuld an den Kriegsschrecken, der persönlichen Verantwortung am massenhaften Morden bestärkte mich in der Überzeugung, mich unter gar keinen Umständen im Handwerk des Tötens ausbilden zu lassen.

Oder war ich einfach nur ein Drückeberger, ein Angsthase, der auf keinem Feld der Ehre sterben wollte? Oder waren es die als Kleinkind erfahrenen Gräuel des Krieges, die sich in mein Unterbewusstes geschossen und für spätere Kriegsspiele untauglich gemacht hatten?

Ein hoher Offizier, der mich in seinem Wolga von Berlin nach Dresden mitnahm, hörte aufmerksam zu und sagte zum Abschied, mein Denken sei sehr wahr und schön, in die Tat umsetzen allerdings dürfte ich diese Gedanken nicht, denn sie widersprächen den Gesetzen der DDR. Sollte ich mich nicht in letzter Minute eines Besseren besinnen, müsste ich eben die Konsequenzen zu spüren bekommen. Früher oder später würde ich schon noch vernünftig werden und dem Staat geben, was des Staates sei. Ich entgegnete darauf, er werde sich wundern, aber Denken und Tun seien für mich eins.

In Dresden suchte ich die Adventisten auf. Von ihnen versprach ich mir psychische Unterstützung. Sie waren nett, aber erstaunlich zurückhaltend.

Vielleicht dachten sie ja, ich sei ein Spitzel, ein Provokateur. Daran musste man in solchen Zeiten denken. Besonders im kirchlichen Raum. Die Spitzel schlüpften in verschiedene Gewänder. Zu erkennen waren sie nur selten. Wie der Pudel, den Faust heraufbeschwört, so konnten auch sie jede beliebige Gestalt annehmen. Trotz des hinter einem freundlichen Gesicht gut verborgenen Misstrauens hörte mir der Geistliche zu und verwies mich an einen Prediger in Bautzen, der befasse sich mit dem Problem der Wehrdienstverweigerung. Ihn solle ich aufsuchen. Er könne mir mit Rat und Tat zur Seite stehen. Auch wenn ich ins Predigerseminar aufgenommen werden wolle, sei der Prediger der richtige Ansprechpartner.

Dem Prediger in Bautzen gefiel mein Vegetariersein. Allerdings machte er mich darauf aufmerksam, dass ich die Verweigerung nur halbherzig betriebe, eigentlich dürfte ich auch keinen Fisch, keine Eier und keinen Käse essen und auch keine Milch trinken.

Der Prediger, dessen Frau und fünf kleine Kinder einen Rahmen bildeten, wie er einst in der protestantischen Kirche mit dem Pfarrhaus als Lebens- und Kulturzentrum der Gemeinde heimisch gemacht worden war, führte, so hätte man vor hundert Jahren gesagt, ein gottgefälliges Leben. Er war ein ruhiger und angenehmer Mensch, ein aufmerksamer Zuhörer.

Als Autoschlosser war er sehr beliebt gewesen. Sein Problem hatte darin bestanden, dass er als Adventist nicht bereit war, am Sabbat zu arbeiten. So führte ihn, der alles andere als der Typ eines Intellektuellen, eines Theologen oder Wissenschaftlers war, sein Weg fast zwangsläufig ins Predigerseminar.

Einzig das Pfarrhaus fehlte. Stattdessen gab es eine beengte Wohnung, in der nicht nur ich als Besucher willkommen war. Abends nahm mich der bärenstark wirkende Prediger auf seinem Motorrad mit nach Löbau, wo er in einem Saal seiner Gemeinde eine Bibelstunde hielt.

Während ich in den Beiwagen kletterte, stülpte er sich eine russische Fliegermütze über und setzte eine Motorradbrille auf. Auch im Winter bei spiegelglatter Straße fuhr der Prediger in diesem Gespann über die Dörfer, um seine Schäfchen zu betreuen.

Der Besuch bei den Adventisten verleitete mich zum Heucheln. Alle waren so schrecklich nett. Obwohl ich die naiv anmutende Bibelbetrachtung nicht verinnerlichen konnte, täuschte ich tiefe Frömmigkeit vor. Dabei überzeugten mich die vermittelten Glaubensinhalte keineswegs. Vielmehr hatte mich die Atmosphäre des Zusammengehörigkeitsgefühls, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte, in ihren Bann gezogen.

Der Prediger lud mich ein, ihn bald wieder zu besuchen. Dann werde man sehen, ob ich geeignet sei, in seine Fußstapfen zu treten.

Noch wusste ich nicht, weshalb ich mich mit dieser christlichen Sekte nicht anfreunden konnte. Wahrscheinlich war es die geistige Enge, die mich nicht nur bei den Adventisten befremdete, sondern bei den anderen christlichen Glaubensgemeinschaften ebenso wie an der Weltkirche des Marxismus.

Im Laufe der folgenden Jahre, in denen ich mich auf dem nie enden wollenden Weg zur Wahrheit befand, entdeckte ich das Alte Testament als eine abendländische Glaubensquelle, die ich in ihren Grundzügen anzunehmen bereit war. Von der christlichen Kirche fühlte ich mich betrogen, hatte sie mir doch vorgemacht, dass Altes und Neues Testament eine Einheit bildeten und, so meinte ich, verschwiegen, dass das Neue Testament ein Werk begabter Epigonen sei.

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