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Vertreibung aus dem Paradies

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Dass ich dem Samen meines Vaters entsprießen durfte, ist nach freundlicher Auskunft eines meiner Brüder einzig dem egoistischen Wunsch unserer rassisch verdächtigen Mutter zuzuschreiben, sich für die Zeit ihres höheren Alters eine weitere, eine dritte, Option für spätere Besuchsreisen zu sichern. Ich, der heranwachsende Fötus, verdanke mein Dasein demnach nicht nur der weihnachtlichen Heilsbotschaft, der Sehnsucht nach Frieden, Liebe und dem schier unstillbaren Verlangen nach einem flüchtigen Gefühl körperlichen und seelischen Glücks, sondern auch dem mir zugedachten Auftrag, als Mittel gegen drohende Vereinsamung zu wirken. Meine Mutter war von der fixen Idee beherrscht, ihr Ehemann könnte aus dem Krieg nicht zurückkehren, in den er hatte ziehen müssen, weil er, der anfangs selbst ein kleiner Führer in der Reichsfilmkammer gewesen war, den anderen hohen Bonzen in ihrem selbst an nationalsozialistischen Maßstäben gemessen nicht immer ehrenhaften Tun Einhalt zu gebieten versucht hatte.

Sieben Jahre alt war ich, als es meine Eltern, vermutlich um deutschen Patriotismus gegen russische Fremdherrschaft zu demonstrieren, für gut und richtig befanden, ihre drei Söhne, Jahrgang 1938, 1940 und 1943, in der Weißen Kirche zu Leipzig taufen zu lassen. Außer der Taufe, die fast nicht vollzogen worden wäre, weil uns Kinder die Wasserspritzer zum Lachen reizten, den Repräsentanten Gottes auf Erden aber angesichts solch unangebrachter Albernheit unwillig werden ließen, verbinden sich mit der Weißen Kirche auch andere Erinnerungen. Nicht zuletzt an Weihnachten 1949 oder 1950, als wir drei Jungen wegen des lauen Winterabends in Kniestrümpfen den Weg zur Krippe des Jesuskindes antraten. Und an Einbrüche meines mittleren Bruders, der heute in Vorpommern als praktizierender Arzt und Christ seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat. Im Keller der Weißen Kirche übte sich mein Bruder als Einbrecher. Von dort ließ er gemeinsam mit einem später bei seiner katholischen Jugend beliebten Priester, den das schreckliche Ende einer rasenden Fahrt in seiner Trabi-Pappkartätsche, um einem Siebenundneunzigjährigen die Letzte Ölung zu spenden, schon längst vor seinen Herrn hat treten lassen, Kirchengerät mitgehen, während ich, ein Sechsjähriger, draußen Schmiere stehen musste.

Das plötzliche Ende von meines Vaters Reichskarriere hatte diesen vor einer schmutzigen Weste und unsere Familie vor der Scham bewahrt. Nach der Einnahme Sachsens durch die Amerikaner im April 1945 logierten einige amerikanische Offiziere in unserer Villa in der Hannoverschen Straße, einem aus drei Villen bestehenden Teilstück, dem Paradies einer Kindheit. Als die Amerikaner dann, wie von den Alliierten zuvor vertraglich geregelt, aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen abgezogen waren, um diese Provinzen den Russen zu überlassen und in Berlin einzumarschieren, quartierten sich bei uns sowjetische Offiziere ein, ein Journalist und ein Arzt aus Moskau, die sich sehr menschlich verhielten, ganz im Gegensatz zu den Gräuelgeschichten, die damals zu hören waren. Gelegentlich versorgten sie unsere Familie mit Butter, Mehl, Fleisch und Brot, meine beiden Brüder mit Fasanenfleisch und mich, den Fünfjährigen, der gerade erst sprechen gelernt hatte, mit Milch und meiner ersten Papirossa, einer schrecklich stinkenden Zigarette, die sich am besten aus einem Papierfetzen der Prawda oder Iswestija drehen ließ, die linke Hand während der Autofahrt am Steuer, die rechte in der Uniformjackentasche, um die Tabakkrümel in die Zeitung zu befördern.

Meine Großmutter mütterlicherseits, eine Nichtschwimmerin, hatte die Ungewissheit über das Schicksal der Familie ihrer Tochter nicht mehr ertragen und sich in der Kleinen Luppe hinter der Klingerschen Villa ertränkt. Mich hatten Eindrücke, an die ich mich zwar nicht, zumindest nicht bewusst, erinnern kann, trotz erster Sprecherfolge für einige Jahre verstummen lassen.

Großmutters Schmuck und andere Wertsachen aus der verwaisten Wohnung befinden sich vielleicht auch heute noch in Leipzig im Besitz der Nachkommen guter Nachbarn, die der vom Familienerbe ausgehenden Versuchung nicht hatten widerstehen können. Einzig den guten alten Volksempfänger hatten die Nachbarn auf Drängen meiner Mutter zurückgegeben. Bis Ende der fünfziger Jahre leistete er mit seinen krachenden und krächzenden Sendungen aus London und dem amerikanischen Sektor von Berlin gute Dienste, bis Mitsche, mein mittlerer Bruder, das Radio an sich nahm; dank einem unbeherrschbaren Forschertrieb, der es in seine nicht wieder auffindbaren Einzelteile zerlegte, verschwand es für immer.

Das Leipzig meiner Kindheit, das Leipzig meiner Erinnerung, das sind Ruinen in der Landsberger Straße, im Viertelsweg, in denen sich angeblich Mörder verschanzt hatten, vielleicht auch nur wahnsinnig gewordene Heimkehrer, die unter den Trümmern nach Angehörigen suchten. Leipzig, das sind aus der Kriegsgefangenschaft Zurückgekehrte, die sich aus Verzweiflung darüber, dass sie ihre Wohnung und ihre Familie nicht mehr ausfindig machen konnten, von einer Brücke vor einen anrollenden Zug stürzten. Leipzig, das sind Bettler, bettelnde Nachbarskinder, vor allem eine bettelnde Frau, die ihre Lebensmittelkarten verloren (damals der sichere Hungertod), daheim sich und ihren bettlägerigen alten Mann zu versorgen hatte, weshalb sie gegen zwei karge Essensrationen uns drei Kinder und den Haushalt versorgte, sich manchmal wie ein Musikclown die Augen verband, um uns auf dem Klavier Chopin und Liszt zu Gehör zu bringen. Leipzig, das heißt Anschreibenlassen in Frau Lademanns Krämerladen in der Landsberger/Ecke Jägerstraße, um auch am kommenden Tag über die nötigsten Grundlebensmittel zu verfügen. Leipzig, das ist Böhlen, wo mein Vater als einst in Königsberg akademisch geprüfter Schwimmlehrer Kindern beibringt, sich über Wasser zu halten, ein Bombentrichter, in dem er Kürbis anbaut, den meine Mutter zu wohlschmeckendem Kompott verarbeitet, Leipzig, das heißt 1. September 1950, mein erster Schultag, Leipzig, das ist eine Schlittenpartie mit Mitsche im Wackerstadion, die an einem Betonpfosten mit einem Nasenbeinbruch endet und damit, dass mich mein Bruder auf dem Schlitten durch die schneelosen Straßen nach Hause zieht.

Leipzig bedeutet aber auch, dass ich besagten Bruder, der in seinem Tatendrang sehr zum Ärger und Leidwesen unserer Eltern in der Nachbarschaft gelegentlich materiellen Schaden größeren Ausmaßes anrichtet, dass ich also Mitsche oder Süß, so nenne ich ihn, totenblass vor Angst über die Terrasse rasen sehe, meinen Vater mit dem Rohrstock in der Hand ihm hinterher. Leipzig, das ist mein etwa gleichaltriger Freund Ralf, mein Dolmetscher in den Jahren der Stummheit, als mein verbales Vermögen darin besteht, „i-i“ zu sagen, und Ralf der Außenwelt erklärt, was I-I haben oder sagen will, denn nur sein gutes Herz ist imstande, I-I’s-Sprache in die der Erwachsenen zu übersetzen.

Dann, im Januar 1951, ziehen wir von Leipzig weg. Unser Vater unterrichtet an einem Gymnasium in einer anderen Stadt, in Querfurt. Seither habe ich an circa zwanzig verschiedenen Orten Deutschlands versucht, heimisch zu werden.

In meinen Träumen atme ich gierig den Geruch von Rübensirup ein, spiele mit den Kindern aus der Nachbarschaft Verstecken. Den Wegzug aus der Hannoverschen Straße erlebe ich in meinen allnächtlich wiederkehrenden Träumen wie eine Vertreibung aus dem Paradies. Die Hannoversche Straße ist stets die Endstation meiner Sehnsucht. Der Verlust der kindlichen Wurzeln schmerzt. Nirgendwo sonst habe ich mich so zu Hause gefühlt wie gerade dort. Erst in Budapest, wo ich zwischen 1968 und 1973 gelebt habe und wohin ich 1994 zurückgekehrt bin, ist es mir gelungen, wieder Wurzeln zu schlagen, mich heimisch zu fühlen. Überall sonst fühlte ich mich wie Ahasver.

Für kurze Zeit kehrt so etwas wie Leipzig noch einmal in mein Leben zurück, als Ralfs Mutter 1952 nach Hamburg verschwindet und deshalb den Sohn, meinen Freund, für vier Monate unserer Familie anvertraut, um in der westlichen Fremde erst einmal selbst Fuß zu fassen. Da mein Vater es nicht für nötig und ratsam hält, seine Umgebung am neuen Wohnort über die Herkunft des Jungen aufzuklären, gilt er in den Klatschgeschichten der Leute als der Kegel des alten Paukers, der damals noch nicht einmal seinen vierundvierzigsten Geburtstag gefeiert hat.

Dann aber verschwindet Ralf für immer. Erst in einer Jahrzehnte später aufgefundenen Akte, geführt von verantwortungsvollen Chronisten eines Landes, das mein Land nicht sein wollte, kommen meine nie beantworteten Briefe wieder zum Vorschein.

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