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Opfer
ОглавлениеJossif Wissarjonowitsch Stalin war am 5. März 1953 gestorben. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als uns die Klassenlehrerin darüber informierte, was der Menschheit Schreckliches widerfahren sei. Noch vermochte ich das Mysterium dieses Weisesten aller Weisen nicht zu fassen, weshalb auch ich angesichts dieses schrecklichen Verlustes Trauer empfand, bis sich herausstellte, dass der Generalissimus von Weisheit weit entfernt gewesen sein muss, dafür aber einer der größten Massenmörder des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen war.
Der Genosse Direktor, dessen in mich verliebte Tochter mir, dem Siebenjährigen, die Schultasche trug, sehr zur Empörung der Eltern, mir später dann, dem Neunjährigen, hinter einem Busch einen Kuss gegeben haben soll, weshalb uns anderentags die Klassenkameraden anlässlich unserer Verlobung Blumensträuße brachten, machte sich im Januar 1954 in Richtung Westberlin aus dem Staub, weil er die Angriffe gegen die Menschenwürde, an denen er selbst mitgewirkt hatte, nicht mehr ertragen konnte.
Mein Vater, der ehemalige Nazi, der sich von seinem ideologisch belasteten Doktortitel getrennt hatte, vielleicht auch von seinen völkischen Überzeugungen, seinen Vorbehalten gegenüber der semitischen Rasse, woran sowohl die jüdischen Blutsbande seiner Frau, meiner Mutter, als auch die Schrecken des Dritten Reichs ihren Anteil gehabt haben mochten, schwang sich zu menschlichen Höhen einer Zivilcourage auf, wie sie im menschlichen Miteinander nur selten zu beobachten ist, als er 1952 seine sechzehnjährigen Schüler zu sich nach Hause bestellte und eindringlich um Verständnis dafür warb, dass er im Gegenwartskunde- und Geschichtsunterricht oft Meinungen vertreten müsse, die sich mit den seinen nicht deckten. Seine Schüler lohnten ihm das Vertrauen mit einer weit über seinen Tod hinausreichenden dankbaren Zuneigung.
Als er wieder einmal wegen seiner sich mehrenden Asthmaanfälle in ein zwanzig Kilometer entferntes Krankenhaus eingewiesen wurde, unternahm die ganze Klasse einen Fahrradausflug, um ihn dort zu besuchen. Mich, den Neunjährigen, den sie als ihren Jungen vergötterten, nahmen sie mit. Im Wechsel saß ich auf verschiedenen Fahrradstangen und Gepäckträgern.
Ein halbes Jahr später schon blies den Jugendlichen ein anderer Wind ins Gesicht. Menschen, die gerade erst das eine tausendjährige Reich zu Grabe getragen hatten, machten im Angesicht des Todes die mörderische Hysterie des Weisesten aller Führer zu ihrer eigenen. So konnte der sich noch ein letztes Mal aufbäumen, um kurz vor seiner Höllenfahrt als Vater aller Menschen in seiner ersehnten Unsterblichkeit zu erstrahlen.
Vorauseilender Gehorsam als nordisches Ideal hatte Hitlers Schreckensherrschaft überlebt. Die Menschen des Sozialismus sollten zum Aufbau eines vermeintlichen Paradieses gezwungen werden. Alles, was sich außerhalb der materialistischen Weltanschauung bewegte, hatte darin keinen Platz. Christen, Sozialdemokraten, Liberale, Demokraten, mit einem Wort: Andersgläubige, Andersdenkende konnten nicht überzeugend nachweisen, keine Feinde des Humanismus zu sein.
Die Kunde von Stalins Tod veranlasste den Direktor zur Organisation einer Trauerfeier mit vielen Tränen und rührseligen Worten. Nur ein Schüler, der Sohn eines betuchten Bauunternehmers, störte die tiefempfundene Erhabenheit der Trauer durch sein nicht zu übersehendes Grinsen, das so vieles bedeuten konnte, nur keine aufrichtige Trauer. Der Direktor war als Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, vor allem aber als jemand, der seine nazistische Vergangenheit zutiefst bereut hatte, als aufrechter sozialistischer Demokrat und Mensch derart empört, dass er erfolgreich die Entfernung des Unwürdigen von der Oberschule betrieb. Das Grinsen während der Trauerfeier führte zur Vernichtung einer Existenz. Mein Vater soll sich noch vorsichtig für den Schüler eingesetzt haben. Erfolglos.
Als neugebackener Westbürger beteuerte der Direktor später unablässig, wie furchtbar er unter seinem von Angst bestimmtem Handeln und unter der kommunistischen Diktatur gelitten habe. Sein glühender Antikommunismus nach der Flucht in den Westen war ein hilfloser Versuch, sich vor dem eigenen Gewissen zu rehabilitieren.
Im Herbst 1953 hielten wir uns, das heißt er, seine Frau, der sich meine Mutter freundschaftlich verbunden fühlte, und die Tochter, meine Klassenkameradin, meine Mutter, mein Vater und ich in einem kleinen Landhaus im Unstruttal zur Weinlese auf.
Mein Vater, so die Familienlegende, hatte vor der Hundertfünfzigprozentigkeit seines Chefs Angst und suchte gerade deshalb dessen Nähe. So glaubte und hoffte er, politische Attacken gegen sich am besten parieren, beziehungsweise verhindern zu können. Meine Klassenkameradin und ich übernachteten auf dem stark nach Wiese duftenden Heuboden und flüsterten uns Zärtlichkeiten ins Ohr, wie es die Erwachsenen zu tun pflegen. Die nächtlichen Stunden kindlichen Verliebtseins vergingen wie im Fluge. Auch unsere Liebe verflog alsbald, nachdem sich der Direktor mit seiner Familie einige Monate nach der trauten Zweisamkeit in den Westen abgesetzt hatte. Sie erhielten im gleichen Auffanglager wie der von der Schule verwiesene Schüler, den Stalins Tod derart beeindruckt haben musste, dass er den Tod zu seinem Beruf machte und seither in einer westdeutschen Großstadt ein florierendes Beerdigungsinstitut betreibt, politisches Asyl. Meine erste große und wahre Liebe wurde ein Opfer der politischen Verhältnisse und Grenzen mitten durch Deutschland.