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Heimat
ОглавлениеAndreas, mit dem zusammen ich an der Martin-Luther-Universität in Halle in den obligatorischen Marxismusseminaren so manchen Ulk getrieben habe, ist in den siebziger Jahren als Dozent an einer Leipziger Hochschule tätig. Ein sensibel und zerbrechlich wirkender junger Mann, den vor allem sein ironisches Lächeln und seine ironischen Geschichten auszeichnen, die so gar nicht zu seinem späteren Schicksal passen wollen. Aber vielleicht war die für ihn typisch scheinende Ironie auch nur ein Überbleibsel aus der Schizophrenie seiner Kindheit, als sein Vater einen Vertrauensposten bei den Sowjets innehatte, den eines Direktors bei einer SAG, einer Sowjetischen Aktiengesellschaft, und seine Mutter vom Katholizismus nicht lassen wollte.
Andreas, die Inkarnation der Treue, heiratete gegen den Willen seiner Eltern, denen die Nazis immer ein Gräuel gewesen sind, ein Mädchen, dessen Vater, ein SS-General, nach dem Krieg zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war. Andreas, praktizierender Katholik, hat sich in der Zeit real-sozialistischer Schikanen und unter dem Eindruck des Ausreisebazillus entschlossen, Leipzig die Treue zu wahren. Er will seine Heimat unter gar keinen Umständen verlassen; Staaten und Regime kommen und gehen, aber die Städte und Landschaften bleiben; die Menschen sollten es ebenso tun.
Er ist ein hochsensibler Romantiker; als sich seine Frau in einen anderen Mann verliebt und sich scheiden lässt, tritt er die einzige Flucht seines Lebens an. Nicht Leipzig kehrt er den Rücken, nein, dem Leben, er flüchtet sich in die geistige Umnachtung, in den Wahnsinn, worin er nun schon fast so lange wie einst Hölderlin, seit etwa zwanzig Jahren, verharrt.
Denke ich an Leipzig in der Nacht, bin ich nicht um den Schlaf gebracht, nein, aber ich denke an all meine Freunde dort, an meine Kindheit, an das verlorene Paradies, das beinahe ein Inferno geworden wäre.
Mir fällt eine Geschichte ein, die mir Andreas’ Schwester erzählt hat, aus der Zeit, als sie im Messebau tätig gewesen ist und für die Frau eines in Mexiko seiner Krebskrankheit erlegenen Führers der DDR und ehemaligen Bergmanns ein Büro eingerichtet hat. Durch einen Zufall war sie in die Leipziger Schaltzentrale der Macht gelangt, wohin ihr ein ehemaliger Kommilitone aus Prahlerei und Geltungsbedürfnis Zugang verschafft hatte. Dort zauberte der Prahlhans über die Betätigung verschiedener Knöpfe unterschiedlichste Plätze, Lokalitäten und Gebäude der Stadt auf den Bildschirm, so dass intime Einsichten in das Treiben der Leipziger Mitmenschen zu gewinnen waren.
Die Plätze, Straßen und Häuser existieren nicht mehr, zumindest nicht mehr so, wie sie in meiner Erinnerung leben. Hochhäuser haben die Gärten meiner Kindheit verdrängt, haben dem Boden, auf dem wir in einem verwunschenen Garten ein Lagerfeuer entfacht haben, um darin Kartoffeln garen zu lassen, die Unschuld geraubt. Auch die Landsberger Straße, wo ich meine Mutter nach ihren Hamstertouren an der Haltestelle Viertelsweg von der Straßenbahn abholte, erkenne ich kaum wieder. In der Erinnerung sehe ich eine junge, bildhübsche und wunderbare Frau aus der Straßenbahn steigen, zwei volle Eimer mit Kartoffeln und Gemüse in den Händen, auf dem Rücken einen schweren Rucksack. Ich spüre die Düfte aus der Waschküche in meine Nase steigen. Im Waschkessel rühren die Frauen – Verwandte, unsere auf dem Klavier Clownerien produzierende Kinderfrau und meine Mutter – abwechselnd die im eigenen Saft brodelnden Zuckerrüben um, aus denen, mit Kürbis gestreckt, wohlschmeckender Sirup entsteht. Von den ausgelaugten Rübenschnitzeln darf ich essen. Ich blicke hinüber zur Terrasse des Nachbarhauses, wo der Sohn des einstigen Chefarchitekten der Stadt, die Fotos von Tauchschern und der Einschulung geschossen hat. Das eine Bild zeigt mich in einer weißen Schürze, auf dem Kopf eine Kochmütze, Tränen in den Augen, weil ich doch so gern ein Trapper gewesen wäre. Ein anderes Bild legt Zeugnis von meiner Einschulung ab: weiße gehäkelte Kniestrümpfe aus Baumwolle und im Arm eine Zuckertüte. Auf zwei weiteren Bildern bin ich in roten Samthosen mit roten Samthosenträgern zu sehen, weißem Hemd, den beschriebenen weißen Kniestrümpfen und an den Füßen Igelit-Sandalen, deren oft reißende Riemen sich mit Hilfe eines über der Gasflamme zum Glühen gebrachten Messers wieder befestigen, anschweißen ließen, auf dem zweiten Bild in gleicher Ausstattung, diesmal aber in einer weißen kurzen Hose aus einem Baumwoll-Leinen-Gemisch, dem Stoff, der die riesengroßen Pakete umhüllte, die jährlich zweimal aus dem texanischen Brookshire von den um 1900 aus Galizien ausgewanderten und nie gesehenen Verwandten eintrafen.
Mein Fotograf darf 1963 als einer der ersten nach dem Mauerbau als Tennis-As zu einem Wettkampf in den Westen, nach Kiel, reisen und lässt, indem er das Vertrauen des ersten Arbeiter- und Bauernstaats in der deutschen Geschichte schamlos ausnutzt, die Rückfahrkarte nach Leipzig verfallen und nimmt sogar in Kauf, dass seine überempfindliche Mutter, die den Schritt des Sohnes zwar rational billigt, auf ihre letzten Tage in die Nervenheilanstalt umziehen muss, nach Dösen in die Klapsmühle, wo sie, die aus einer großbürgerlichen Familie stammt und teils in England zur Schule gegangen ist, mit ihrer Bettnachbarin französisch und englisch parliert.
In Gedanken suche ich den Südfriedhof am Fuße des Völkerschlachtdenkmals auf, das längst eingeebnete Grab meiner Großmutter Meta Pietraszewski, die mir viel von ihren Eltern hätte erzählen können und von ihren Großeltern, meinen Ururgroßeltern, die sich nach der von Hardenberg 1812 auf den Weg gebrachten Judenemanzipation nicht hatten entschließen können, sich taufen zu lassen. Und noch mehr hätte sie mir vermutlich von ihrem Mann, dem galizischen Großvater, erzählen können.
Unsere Toten leben in uns weiter. Meta Pietraszewski hat sich vor drei Jahren aus ihrer längst eingeebneten letzten Ruhestätte auf eine zweitletzte Reise nach Budapest begeben, um in ihrer Urenkelin Rachel Meta fortzuleben. Pest-Gohlis, eine Zusammensetzung aus Budapest und Leipzig, so heißt die Stadt meiner Geburt. Ihr bin ich in meinem Sein, das von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft eine Brücke schlägt, auf der meine Fantasie hin und her wandelt, engstens verbunden, sie ist meine Heimat.
Was ist Heimat? Ist Heimat nicht auch all das an Erlebtem, was dich belastet, was du gern verdrängen würdest? Sind nicht auch all die Orte deiner Kindheit, deiner Jugend Heimat, nicht all die Menschen, an die du dich gern erinnerst, weniger gern oder eigentlich höchst ungern? Ist Heimat nicht auch das, was du abgelehnt, worunter du gelitten hast? Und die Sprache? Sie setzt sich über alle erlittene Schmach hinweg. Lässt sich nicht abschütteln, ist deine Seelenhaut. Und wenn die Risse bekommt, setzen Atemstörungen ein, die zu Krankheit und Tod führen. Oder zu Seelenlosigkeit.