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Schmierenkomödie
ОглавлениеWeihnachten steht vor der Tür. Die Tage werden kälter, Kohle in der DDR ist knapp, im Kohlerevier Schwarze Pumpe werden Sonderschichten gefahren, um dem Mangel abzuhelfen. Am Sonntag soll auch meine Brigade zu einer Sonderschicht herangezogen werden. Zusammen mit zwei Mithäftlingen rücke ich nicht aus, weigere mich, am Tag des Herrn zu arbeiten.
Die Bewacher wirken nervös, wir, die drei Häftlinge, werden zum Lagertor beordert, wo wir von einem Leutnant, der, wie später zu hören ist, als ruhig und besonnen gilt, aufgefordert werden, uns der Arbeitskolonne anzuschließen. Für den Fall, dass wir unsere Weigerung nicht umgehend aufgeben sollten, droht er uns Arrest und andere haftverschärfende Maßnahmen an. Die Mitgefangenen, ein Zeuge Jehovas und ein junger sympathischer Kellner aus Potsdam, der wegen RF, das heißt versuchter Republikflucht, einsitzt und, ebenso wie ich, wenig Lust verspürt, eine Sonderschicht zu fahren, weichen dem Druck. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, aber ich bleibe bei meinem Nein. Warum? Sicher nicht, weil ich so schrecklich mutig wäre. Im Gegenteil: Die Angst schnürt mir die Kehle zu. Die Energie meines Handelns erinnert an das Gesetz von der Trägheit der Masse. Einmal in Schwung geraten, lässt die sich einfach nicht bremsen.
Der besonnene Erzieher und Leutnant ist fassungslos vor Wut. Schaum tritt ihm vor den Mund. Seinen herbeieilenden Genossen schreit er zu, sie sollten die Hunde loslassen und auf mich hetzen. Der bewaffnete Leutnant packt mich, den wehrlosen Häftling, am Schlafittchen und drückt mich gegen das Lagertor, wie um den pädagogischen Ausführungen Nachdruck zu verleihen. Ich kann nicht mehr denken. Ein Rausch des Widerstands hat sich meiner bemächtigt. Klein beigeben, das kommt mir nicht in den Sinn. Es ist, als wäre eine solche Möglichkeit des Denkens und rationalen Handelns aus meinem Gedächtnis gelöscht worden. Dabei steht mir der Angstschweiß auf der Stirn. Ich muss an irgendeinem Defekt leiden: Wenn ich der Meinung bin, im Recht zu sein, kann ich keine Kehrtwende vollziehen, klammere mich an die einmal eingenommene Position. Ein böswilliger Außenstehender könnte versucht sein, von einer behandlungsbedürftigen Zwangsneurose zu sprechen und nach dem Psychiater zu rufen.
Den unangenehmen, heißen Atem des schwer keuchenden Leutnants spürend, seine Hand an meiner Gurgel, das Tor im Rücken nutze ich die Situation, nicht zuletzt aus Angst vor den Hunden, schamlos aus: knalle mit dem Kopf gegen das Tor, erwecke den Eindruck, als sei es durch Fremdeinwirkung dazu gekommen, und sinke zu Boden. Die Mitgefangenen werden später im Lager verbreiten, dass ich brutal zusammengeschlagen worden sei.
Ich spürte die einmalige Chance, mich wirkungsvoll in Szene zu setzen und mich aus der drohenden Gefahr davonzustehlen. Am Boden liegend überlege ich, was zu tun sei. Mir fällt nichts Besseres ein, als mich in Weinkrämpfen zu schütteln. Da hilft noch so gutes Zureden des inzwischen von einer in die nächste Panik geratenen Leutnants nichts, der gegenüber den herbeigeeilten Lagergewaltigen vergebens beteuert, dem am Boden liegenden Strafgefangenen 724 aus 3 nichts angetan zu haben. Auf einer Trage befördern sie mich in die Krankenbaracke, wo meine Weinkrämpfe einfach nicht aufhören wollen. Es ist mir, als würde sich all die Spannung, der ich in den letzten Jahren ausgesetzt gewesen bin, nun in einem Meer von Tränen lösen wollen. Nichts um mich her nehme ich wahr, die Augen sind geschlossen, nur der Mund, aus dem gellendes Schreien quillt, ist weit geöffnet. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Schmierenkomödie verwischen sich. Schon weiß ich selbst nicht mehr, ob ich all den Schmerz, der sich lautstark artikuliert, nicht tatsächlich spüre, ob ich nicht tatsächlich zu Boden geschlagen worden bin. Auch denke ich immer wieder, jetzt in meiner sichtbar und hörbar gemachten Schmerzintensität auf gar keinen Fall nachlassen zu dürfen, sonst könnten mir die Vopos am Ende noch Widerstand gegen die Staatsgewalt anhängen.