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Gemeinsamkeit

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Hager, blond oder vielleicht doch nicht wirklich blond: Marlene. IM Paris. Ausgerechnet dieses der Chemie zu verdankende Blond war mir aufgefallen. Ich war neunzehn und kannte mich in den Raffinessen, derer das weibliche Geschlecht fähig ist, noch nicht aus. Marlene sprach deutsch mit leichtem französischem Akzent. Dabei konnte sie gar kein Französisch. Noch acht Jahre zuvor war Deutsch für sie eine Fremdsprache gewesen. Französisch war so etwas wie ihre Muttersprache, die sie aber in den letzten Jahren vergessen hatte. 1940 in Paris geboren, im Exil der Eltern, die 1933 als Zwanzigjährige Deutschland den Rücken gekehrt hatten, war sie aufgewachsen wie eine Französin. Selbst zu Hause wurde französisch gesprochen. Deutsch, die Sprache der verhassten Nazis, war verpönt. Auch ihr Charme machte einer Französin alle Ehre. Nichts an ihr schien einer Deutschen, genauer gesagt einer Ostdeutschen, zu ähneln. Mit vierzehn kehrte sie in die Heimatstadt der Eltern zurück, um Französisch zu vergessen und lediglich den Akzent beizubehalten, Deutsch allerdings nie ganz fehlerfrei zu erlernen. Mit sympathisch hilflosem Lächeln versagte ihr die Zunge den Gehorsam, wenn es niemand vermutete. Gute Voraussetzungen für eine Bühnenkarriere, könnte einer meinen.

Marlene und ich sind hier, in einer Provinzstadt, als Schauspielanfänger engagiert. Aber Marlene schafft es, ihre schauspielerische Begabung auch anderweitig unter Beweis zu stellen, nicht nur an diesem kleinen Theater der Deutschen Demokratischen Republik.

Tag für Tag stehen wir auf der Bühne, allerdings ohne die dafür nötige Spielgenehmigung zu besitzen. Die gilt es zu erwerben, denn sonst könnten wir von heute auf morgen trotz bestehenden Vertrags gefeuert werden. Vom ersten Tag an sind wir durch dieses Damoklesschwert, das über uns schwebt, eng miteinander verbunden.

Mich Marlene, von der ich mich, wie von so vielen anderen weiblichen Wesen auch, unwiderstehlich angezogen fühle, als Mann zu nähern, wage ich nicht. Sie hat einen Freund, der zwar selten auftaucht, da er sich mit seinem Volkswagen wochenlang im Westen aufhält, wo er beruflich als Bergbauingenieur zu tun hat. Aber die Beziehung scheint trotzdem stabil zu sein. Ich wundere mich, dass ein so junger Mann (er ist siebenundzwanzig) frei reisen darf, was den meisten seiner Mitbürger, so natürlich auch Marlene und mir, verwehrt ist. Sich wundern ist nicht weit weg von Bewundern.

Marlene gibt keineswegs zu erkennen, dass sie an mehr als Freundschaft mit mir interessiert wäre. Was uns an Gemeinsamkeit bleibt, das sind wunderbare Spaziergänge über die Friedhöfe der Umgebung. Hier philosophieren wir über Gott und den Tod, über Sinn und Unsinn des Lebens. Wirklich Privates fließt kaum in unsere Unterhaltungen ein, es sei denn, dass die beruflichen Träume privat zu nennen wären. Ich fühle mich glücklich, in Marlene eine wahre Freundin gefunden zu haben, mit der mich eine rein menschliche Zuneigung verbindet. Sonst nichts. Nichts von dem, was die Begegnung mit dem anderen Geschlecht so schnell in eine Bahn lenkt, von der sich zu befreien manchmal einfach nicht gelingen will.

Außer ihrem Freund tauchen noch zwei weitere Männer auf, zu denen sie Kontakte unterhält, ohne dass ich mir Klarheit darüber zu verschaffen wüsste, welcher Natur diese Beziehungen sind. Der eine ist ein sechzigjähriger evangelischer Pfarrer, der seit vierzig Jahren mit einer zehn Jahre älteren Frau verheiratet ist. Hat Marlene mit ihm ein Verhältnis? Die Frau des Pfarrers befindet sich gerade mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus. Sollten der Pfarrer und Marlene etwa miteinander schlafen? Das kann ich mir kaum vorstellen, obwohl ich ein Jahr zuvor schon mit einer ähnlich eigenartigen Geschichte Bekanntschaft gemacht habe. Marlene ist jedenfalls stets sehr nett zu ihm, und schließlich ist sie es, die unbedingt will, dass ich den Pfarrer kennenlerne. Einen Grund zur Eifersucht gibt es nicht.

Der andere Mann, den sie ständig aufsucht, ist ein ehemaliger NVA-Offizier, der aus dem aktiven Dienst ausgestiegen ist und sich nun als Schauspieler versucht. Versuch und Irrtum. In den zurückliegenden drei Jahren meiner Schauspielerei habe ich verschiedenste Künstler erlebt, von denen mir nur einer vielleicht noch schwächer vorgekommen ist als ausgerechnet Marlenes zweiter Verehrer. Laut Marlene kennt er Leute, die ihr helfen könnten, eine staatliche Spielerlaubnis zu erlangen.

Marlene meint es gut mit mir, dessen bin ich mir sicher. Denn warum sonst sollte sie versuchen, den ehemaligen Offizier für mich einzunehmen? Einmal nimmt sie mich sogar zu ihm mit. Obwohl wir eigentlich fast Nachbarn sind, wäre es mir nie eingefallen, ihn aufzusuchen. Das verbot allein schon der Altersunterschied. Und etwas Unerklärliches, Fremdes.

Wir treten durch das große Tor in der Puschkinstraße: Auf dem Hof liegt, nur mit einer Badehose bekleidet, braungebrannt, der Kollege. Es will scheinen, als hätte der für mich nur ein mitleidsvoll ironisches Lächeln übrig. Die Unterhaltung gestaltet sich schleppend. Zwischen uns steht eine unsichtbare Mauer. Sollte er in mir einen Rivalen wittern? Oder weshalb sonst kann ich die unsichtbare Mauer trotz Marlenes liebevollen Bemühens nicht überwinden? Vielleicht ist ja auch dem Offizier bereits zu Ohren gekommen, dass ich im Falle einer Musterung vorhabe, den Wehrdienst zu verweigern?

Gewiss ist meine Offenheit bodenlos naiv, aber in wichtigen Dingen spiele ich immer mit offenen Karten. Sollte mir, Jahrgang 1943, der Hass auf alles Militaristische mit dem Dröhnen der Flugzeuge über und den explodierenden Bomben vor und hinter mir eingebrannt worden sein?

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