Читать книгу Andersfremd - Hans-Henning Paetzke - Страница 20

Hassliebe

Оглавление

Am 26. März 1963, einem Dienstag, sollte ich auf dem Wehrkreiskommando zur Musterung erscheinen. Nun galt es, unter Beweis zu stellen, dass ich nicht nur gefaselt hatte und tatsächlich den Wehrdienst verweigern würde. Was war mir nicht alles durch den Kopf gegangen, wie die Sache in Angriff zu nehmen sei! Nie wieder sollte ein Krieg von deutschem Boden ausgehen, so hatte ich im Geschichtsunterricht gehört. Der Gedanke gefiel mir, auch wenn ich ihn sicher anders verstand als der Geschichtslehrer, ein junger Lehrer, der gerade die Pädagogische Hochschule absolviert hatte und voller Elan war, die Kinder für den Sozialismus zu gewinnen.

Er war ausgesprochen sympathisch, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass seine Fragen stets nur eine einzige richtige Antwort zuließen. Ein Philosophieren über Geschichte, über die Entstehung von Kriegen war nicht möglich. Dabei glaubte ich schon als Elfjähriger nicht an die Unvermeidbarkeit militärischer Auseinandersetzungen, deren Minimuster ich meinte, in den Konflikten der Klassengemeinschaft zu erkennen. Eher schon war ich davon überzeugt, dass eine schmale Herrschaftselite die Bauern auf dem Schachbrett nicht unbedingt einsetzen müsste. Trugen doch die Möchtegernfeldherren in der Schulklasse den Machtkampf immer unter sich aus. Blutige Nasen entschieden darüber, wer als Klassenstärkster anzuerkennen sei. Die verfeinerten Methoden setzten erst mit der Pubertät ein.

Politisch durfte ich vor der Kommission nicht argumentieren. Meine mangelnde Bereitschaft, gegen den kapitalistischen Feind in Westdeutschland die Waffe in die Hand nehmen zu wollen, wäre einer Selbstanzeige wegen staatsfeindlicher Hetze gleichgekommen. Eine solche Begründung hätte mich zu einem Antikommunisten abgestempelt, was von der Wahrheit nicht weit entfernt, jedoch ziemlich gefährlich gewesen wäre. Stattdessen wälzte ich die Bibel, bemühte die alttestamentarischen Gebote und rechtfertigte meine Haltung mit einer vegetarischen Lebensweise. Auf der Suche nach glaubwürdigen Erklärungen vertraute ich mich wildfremden Menschen an. Gelegenheiten ergaben sich auf meinen Anhalterfahrten quer durch die Republik reichlich. In meinem Mitteilungsbedürfnis lag etwas Zwanghaftes. Denn mein Entschluss stand ohnehin fest. Vielleicht war es nur ein Kampf gegen das Ungewisse, gegen die eigene Angst vor den Konsequenzen. Was würde an dem Tag, da ich vor der Musterungskommission stehen würde, passieren? Würden sie mich verhaften oder aber Verständnis für meine pazifistische Haltung zeigen? Schließlich war in der Verfassung das Recht auf Gewissensfreiheit verankert. Und darauf wollte ich mich berufen.

In Ostberlin suchte ich den Direktor des Sprachenkonvikts auf, einen jungen Pfarrer, der nach dem Mauerbau den im Osten verbliebenen Teil der KIHO, der Kirchlichen Hochschule, leitete, wo Theologen ausgebildet werden sollten. Der Pfarrer, dessen Frau gerade ihr zweites Kind erwartete, brachte mich mit seinen Studenten zusammen, von denen die meisten den Wehrdienst bereits verweigert hatten. Passiert war ihnen nichts. Die Behörden taten einfach so, als sei nichts geschehen. Die Narrenfreiheit, die vielen DDR-Pfarrern gewährt wurde, übertrug man offensichtlich auch auf Theologiestudenten. Die Atmosphäre in diesem Kreis war beeindruckend. Hier wehte ein freier Geist. Und Mut schienen diese jungen Männer auch zu haben. Sie gingen zur Musterung und legten der Kommission einen Brief auf den Tisch, worin sie ankündigten, dass sie im Fall einer Einberufung unter Berufung auf ihre Gewissensfreiheit den Dienst mit der Waffe verweigern würden.

Der Staat verhielt sich abwartend, berief die Querulanten einfach nicht ein. Vielleicht dachten die Verantwortlichen, die würden ohnehin nur Wehrzersetzung betreiben.

Ich aber empfand bereits die Musterung selbst als entwürdigend und inakzeptabel. Denn damit, so meinte ich, indirekt das Recht des Staates anzuerkennen, mich für einen eventuellen Krieg ausbilden zu dürfen. Welchen Sinn sollte es haben, mich mustern zu lassen, wenn ich einer Einberufung ohnehin nicht Folge leisten wollte? Im Neuen Testament ist davon die Rede, dass man dem Staat geben solle, was des Staates sei. Aber was ist das: Staat? Wer ist der Staat? Ich? Und kalt kriecht die Lüge aus seinem Mund: Ich, der Staat, bin das Volk? Zweifellos bin ich ein Teil dieses Organisationsgebildes. Dennoch bin ich vor allem ich selbst. Ein Teil meiner Familie. Und die ein Teil der nächstgrößeren Gemeinschaft, ein Teil des Dorfes, ein Teil der Stadt, des Landes, der Nation, der Sprachgemeinschaft, der Menschheit, des Universums, des ewigen Geheimnisses, das man Leben heißt, Gott. Das Leben, Gott, steht also an oberster Stelle, was bedeutet, dass sich alles andere dem Leben unterzuordnen hat, nicht aber ich mich dem Staat. Nicht ich habe dem Staat zu dienen, sondern der Staat mir. Also kann es auch nicht rechtens sein, dass ich mich als Einzelner im Kriegsfall dem Staat, dem Vaterland, der Heimat aufzuopfern habe. Der Teufelskreis zwischenstaatlicher Gewalt muss durchbrochen werden. Die Gewalt dient nicht dem Interesse der Menschheit, vielmehr ist sie geeignet, dem Interesse Einzelner zu dienen, individueller Machtgier, andere zu beherrschen, in ihre Gewalt zu bekommen.

Mit der DDR hat mich, ohne dass ich mir dessen damals bewusstgeworden wäre, stets eine Art Hassliebe verbunden. Geglaubt habe ich den marxistischen Religionslehrern so gut wie nichts. Trotzdem haben sie mich stark beeinflusst. Die von ihnen propagierte Friedensliebe ist ein Teil meiner selbst geworden, ich habe sie verinnerlicht, wörtlich genommen. Sie freilich versuchten, Friedensliebe und Friedenssehnsucht mit der Idee eines gerechten Krieges zu verbinden. Darin konnte ich ihnen nicht folgen. Meine kindliche Seele mochte gedankliche Geradlinigkeit. Sie konnte und wollte nicht um die Ecke denken. Zu viel Leid hatten die Deutschen, denen ich mich gezwungenermaßen zugehörig fühlte, über andere Menschen gebracht. Menschen, denen ich durch verwandtschaftliche Bindungen nahestand, waren auf die eine oder andere Weise an unvorstellbaren Gräueltaten beteiligt gewesen. Diese Verflechtungen waren nicht, wie ein gordischer Knoten, durch das Schwert zu durchtrennen, nein, ein Neubeginn war nur durch ein absolutes Nein zu allem Vorangegangenen vorstellbar. Eine Fortsetzung, eine Kontinuität durfte es nicht geben, es sei denn, Kontinuität wäre im totalen Anderssein zu begreifen, das sich dem Samen des Hasses widersetzen und aus dem mit Blut gedüngten Boden wie eine Saat aufgehen würde.

Andersfremd

Подняться наверх