Читать книгу Achter Stock - Endstation - Hans-Jürgen Setzer - Страница 6
Die Führung
ОглавлениеDie Eingangshalle des Seniorenstifts wirkte von der Ausstattung her gar nicht wie ein Krankenhaus oder ein Altenheim, mehr wie die Lobby in einem Hotel. Einige Kolleginnen und Kollegen standen schon mit ihren Diktiergeräten und Notizblöcken bereit. Alle schauten gespannt hin und her. Offensichtlich war noch nicht klar, wo die Attraktion des Tages zu finden sein würde.
Auf einigen Tischen standen kleine Häppchen, Kekse, Kaffee, Tee, alles schön arrangiert und Pressemappen mit Hochglanzprospekten der Einrichtung und ihrer Leitsätze.
Pünktlich um 9:30 Uhr kam eine Dame im Hosenanzug zielstrebig auf die größte Menschentraube in der Empfangshalle zu. Schätzungsweise war sie etwa 165 Zentimeter groß, dürfte vielleicht 50 Kilogramm schwer oder leicht sein und schien mit sportlich durchtrainierter Figur Durchsetzungswillen, Gesundheit und Leistungsfähigkeit demonstrieren zu wollen. Ihre sexy Brille und das lange, gelockte blonde Haar, das zurückgebunden streng wirkte, sorgten ebenfalls dafür.
„Guten Morgen meine Damen und Herren, mein Name ist Anna Liebenstein, kaufmännische Direktorin der Seniorenstiftgruppe Gartenparadies und aktuell auch Leiterin des Seniorenstiftes Moselblick.
Ich freue mich, Sie heute hier so zahlreich begrüßen zu können und danke Ihnen für das Interesse an diesem sehr wichtigen Thema. Wir behandeln heute auch Ihre Zukunft und interessante Lösungsansätze, die ich Ihnen gerne vorstellen möchte. Im Laufe unseres Rundganges wird ausreichend Gelegenheit sein, Fragen zu stellen und diese natürlich, wenn möglich, auch zu beantworten. Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, dass wir uns in einem Seniorenstift mit dort lebenden Bewohnern befinden. Bitte respektieren Sie weitestgehend die Privatsphäre und den Datenschutz. Bleiben Sie bei der Gruppe und halten Sie sich an Anweisungen unseres Personals. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass an dieser Führung nur geladene Gäste der Presse mit Einladungsschreiben teilnehmen dürfen. Ich danke Ihnen. Bitte folgen Sie mir.“
Leon war zufällig an der Spitze der etwa 20 Personen umfassenden Gruppe. Sie gingen einen langen Korridor entlang. Überall an den hellen Wänden hingen freundliche Bilder mit bunten Farben und fast ins Kitschige gehenden Motiven. Blumen, spielende Kinder, schmusende Katzen, tollende Hunde, Landschaften am Meer und in den Bergen.
„Heile-Welt-Bilder“, dachte Leon.
„So, meine Damen und Herren, unsere erste Station. Bilden Sie bitte einen Halbkreis, damit jeder etwas sehen kann. Hier sehen Sie den sogenannten AWA 3000, den Altenwaschautomaten mit computer- und sensorgesteuerter Waschstraße.“
Fotoapparate blitzten und Diktiergeräte wurden mit langgestrecktem Arm entgegengehalten.
„Was Sie früher nur Ihrem liebsten Spielzeug, Ihrem Porsche oder Ferrari gönnten, dürfen heute auch unsere Senioren hier genießen. Schon bei Autos war ja klar, dass Waschstraßen viel schonender mit dem Lack umgehen, als eine Handwäsche. Und haben Sie einmal einen ganzen Tag lang im Minutentakt alte Menschen gewaschen? Das macht keine Altenpflegerin oder eine Krankenschwester länger als ein paar Jahre, dann ist der Rücken kaputt und die Senioren beschweren sich auch über die Waschaktion. Im AWA 3000 wird das Waschen zum reinsten Vergnügen. Sehen Sie hier unseren Holger.“
Ein junger, schlanker Mann mit verkehrt herum aufgesetzter Baseballkappe stand kurz auf und nickte.
„Mühelos kann er am Computerbildschirm jeden einzelnen Schritt verfolgen und könnte notfalls auch eingreifen. Über Lautsprecher und Mikrofon sind beide miteinander verbunden. Bewohnerorientiert kann die Lieblingsmusik eingespielt und die Intensität der Waschbürsten reguliert oder sogar das Lieblingsshampoo eingestellt werden. Das ist alles in einer Datenbank aus langjährigen Erfahrungen mit den Bewohnern gespeichert. „AWA und – Alles-wird-angenehmer, früher hieß es Anneliese wäscht Anton.“
Alle lachten.
„Doch, das mag auch nicht jeder. Beim AWA wird auch die Intimsphäre besser gewahrt. Die Waschaktion wird zwar aus juristischen Gründen auf Film mitgeschnitten, doch damit erklären sich alle Bewohner schriftlich im Aufnahmevertrag einverstanden. Es gibt also keine versteckte Datensammlung und es ist ja auch zu ihrer Sicherheit. Und medizinisch ist der AWA individuell einsetzbar. Fehlt ein Bein, erkennt das der Sensor. Gibt es Läuse- oder Pilzbefall wird automatisch das richtige Medikament im Waschschaum appliziert. Hierfür haben die Bewohner natürlich vorher ihr Einverständnis schriftlich gegeben. Bei uns läuft nichts hinten herum. Ist das nicht Fortschritt? Sie sehen, Sie können sich auf Ihren eigenen Seniorenstiftaufenthalt freuen.“
Leon spürte zwar eine gewisse Faszination von dem Gerät und der sprühenden Energie von Anna Liebenstein ausgehen, aber er entwickelte das Bedürfnis, einen Satz mit einem Aber am Anfang einzustreuen. Und wenn es einfach nur als Gegenpol für die fast schon euphorische Stimmung in der Journalistengruppe formuliert werden musste. Und er wollte gerne die Spontaneität von Anna Liebenstein testen. Das wirkte doch alles sehr auswendig gelernt und künstlich.
„Aber fehlt den älteren Menschen damit denn nicht die Zuwendung? Sind sie wirklich zufrieden mit so etwas?“, hörte er sich selbst sagen.
Ein strenger Blick von Frau Liebenstein fiel zu ihm.
„Dürfte ich Ihren Namen wissen, junger Mann? Einfach, damit ich Sie alle bei der Gelegenheit mal kennenlernen kann.“
„Gerne, Leon Walters, Frau Liebenstein, Koblenzer Tageskurier.“
„Schön, Sie kennenzulernen, Herr Walters. Ihr Chef, Herr Paffrath, sprach in höchsten Tönen von Ihnen. Eben noch habe ich mit ihm telefoniert“, entgegnete Frau Liebenstein.
Leon wechselte ein wenig die Farbe. Damit hatte er nicht gerechnet. „Gerissenes Biest“, dachte er.
„Auf diese Frage habe ich gewartet. Sie wird immer wieder gestellt. Gleich werden Sie die Antwort sehen. Wir haben natürlich das ebenfalls computergesteuerte Haustier, nach Wahl des Bewohners, Katze, Hund, Vogel und garantiert keim- und flohfrei.“
Wieder ging ein Lachen durch die Besuchergruppe.
„Haben die auch eine Körpertemperierung, Frau Liebenstein“, schob Leon Walters schnell die Frage ein.
„Aber selbstverständlich, Herr Walters, außer den Hausfröschen und den Fischen haben alle 37 Grad, sodass es sich auch wirklich kuschelig anfühlt. Möchten Sie mal fühlen?“
„Wow, gut gekontert“, dachte Leon. „Danke, später vielleicht. Das scheint ja wirklich bis in die Details durchdacht zu sein“, antwortete er mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Jetzt passen Sie einmal ganz genau auf. Es kommt noch besser. Hier sehen Sie Frau Müller, 78 Jahre alt. Einen kleinen Applaus für Frau Müller, die sich für diese Demonstration zur Verfügung gestellt hat.“
Die Menge applaudierte.
„Sie leidet seit 20 Jahren an Diabetes und muss deshalb im Blutzucker überwacht werden. Ihre Schmusekatze übernimmt das. Achtung, wir haben jetzt eine Minute vor zehn Uhr. Schauen Sie einmal ganz genau hin.“
Frau Müller streichelte ihre Katze und es schien beiden zu gefallen. Plötzlich fauchte die Katze und haute mit ausgefahrenen Krallen in den Arm.
„So, das war die Blutentnahme, und hier am Display können Sie ablesen: Blutzucker Müller 90 um 10 Uhr. Ist das nicht toll?“
Frau Liebenstein überschlug sich dabei fast in ihrer eigenen Begeisterung. Die Menge raunte und murmelte.
„Und nicht zu vergessen unseren ASS“, fuhr sie fort und fügte hinzu: „Früher war das die Revolution einer Kopfschmerztablette. Heute ist das die modernste, sensibelste Schmusemaschine auf dem Markt. Ebenfalls von der innovativen MMF, der Medizinischen Maschinenfabrik in Dresden wurde der Alten-Schmuse-Sessel, kurz ASS oder für den weltweiten Einsatz in Englisch OPC, old people´s chair, entwickelt. Sie werden ihn gleich sicher irgendwo in Aktion sehen, denn irgendwo schmust irgendwer immer.“
Neuerliches Lachen.
„Und ich sage Ihnen, der kann sogar noch mehr als schmusen, denn jeder hat ja so seine Bedürfnisse, nicht wahr, meine Damen und Herren? Das könnte dann sogar den Enkel interessieren, was der Sessel so alles draufhat. Aber das lassen wir heute.“
„Schade, jetzt wo es doch spannend wird“, warf Leon ein.
Ein letztes Lachen ging durch die Menge.
Anna Liebenstein warf ihm ein Augenzwinkern zu. „Ein anderes Mal vielleicht, Herr Walters. So, damit wären wir am Ende unserer heutigen Presseführung. Weitere Fragen stellen Sie bitte schriftlich mit Ihrem vorläufigen Artikelentwurf, den ich, wie immer bis morgen früh, um sieben Uhr, in meinem Email-Postfach erwarte, denn ich habe heute leider noch sehr viel zu tun. Wir erwarten zehn neue Heimbewohner, die ja alle gerne individuell begrüßt werden möchten. Auf Wiedersehen, meine Damen und Herren – spätestens mit 70.“ Anna Liebenstein verschwand mit einem Lächeln auf den Lippen im Aufzug. Ein paar Kameras und Blitzlichter klickten und weg war sie.