Читать книгу Achter Stock - Endstation - Hans-Jürgen Setzer - Страница 8

Post!

Оглавление

Die alte Eichenstanduhr schlug zehn Mal, und wie jeden Morgen um diese Zeit ging Peter Kastor durch die Hofeinfahrt zu seinem Briefkasten. Jeden einzelnen Basaltpflasterstein hatte er einst selbst liebevoll verlegt. Er nahm gerade vorher sein zweites Frühstück mit einer Tasse heißen, dampfenden Kaffees zu sich. Im Laufe der Jahre, mit zunehmender Schwäche seines Herzens, war er inzwischen auf eine entkoffeinierte Marke ausgewichen. Er hatte das sanfte Geräusch des gelben Kleintransporters schon die Straße entlangkommen hören, von Haus zu Haus. Ab und zu ein rollendes Geräusch der Seitentür, ein Klacken der Fahrertür, nach einem mit dem Näherkommen immer lauter werdenden Motorgeräusch, einem mehrfachen Klick und Klack des Briefkastendeckels war klar: Die Post ist da. Heute war auch etwas für ihn dabei.

Peter schaute aus dem Fenster und winkte dem Postboten zu. „Guten Morgen“, rief er.

„Schönen guten Morgen, Herr Kastor. Ich habe die Post schon in Ihren Kasten geworfen.“

„Danke, ich hole sie gleich. Schönen Tag noch.“

„Für Sie auch, Herr Kastor“, antwortete der Briefträger, stieg wieder in sein gelbes Postauto und fuhr weiter.

Peter Kastor ging gemächlich die Treppe hinunter, sofern man diese Bewegung noch gehen nennen konnte. Leider fiel es ihm immer schwerer, in dem doch über die Jahre lieb gewordenen Haus, die Stufen hinauf oder hinunter zu kommen und der Einbau eines Liftes lohnte ja nun nicht mehr. Tja, er wurde eben alt. Daran erinnerten auch die beiden langen Narben auf den Oberschenkeln als Zeichen der künstlichen Hüftgelenke, die ihm vor 20 Jahren eingesetzt wurden.

„Auuuh, es scheint wieder Regen zu geben“, sagte er leise. „Wäre ich doch damals nur nach Mallorca umgezogen, als es noch ging.“

Er drehte den Schlüssel im ebenfalls in die Tage gekommenen, etwas angerosteten Schloss des Briefkastens und nahm die Post heraus.

„Werbung, Werbung, Werbung und Rechnungen“, sagte er.

Als einzigen richtigen Brief erblickte er einen amtlich aussehenden blauen, größeren Umschlag mit dem Wappen des Landes in der oberen linken Ecke.

„Was ist denn das?“, fragte sich Peter Kastor.

Der Schriftzug des Frankierautomaten zeigte: „Seniorenheimverwaltung des Landes Rheinland-Pfalz“.

Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter und dennoch stieg gleichzeitig eine Hitze in den Kopf. So wie früher, wenn er glaubte, vielleicht zu schnell gefahren zu sein.

„Gibt es Punkte, nur ein Verwarnungsgeld oder ist der Führerschein weg?“ Er spürte sein Herz bis zum Hals schlagen und las: „Ihr Seniorenmobilitätstest mit 72 Punkten und die ärztliche Untersuchung zeigten erhebliche Selbstversorgungsdefizite. Nach dem Seniorenversorgungsgesetz fordern wir Sie daher hiermit auf, sich am 14. Mai bis 10:00 Uhr im Verwaltungstrakt des Seniorenheimes Moselblick, in Koblenz-Güls, mit ausgefüllten Anmeldeformularen zu melden. Bitte hinterlassen Sie Ihre Wohnung gereinigt und in ordentlichem Zustand …“

Fast hätte er die Hacken zusammengeknallt und „Jawoll!“ gerufen. Das klang wie damals, als er mit 18 zur Bundeswehr musste. Bei dieser Musterung war er besser weggekommen. Da hatte er Tauglichkeitsgrad 1 und war für alles geeignet. In wenigen Tagen wäre es also soweit. Er musste erneut einrücken.

Kurz schweiften seine Gedanken in der Zeit zurück. Seine Eltern waren Bauern im Rheinland und froh, als Peter mit 16 Jahren in einer kleinen Autofirma am Ort unterkam, denn sein zwei Jahre älterer Bruder wollte den Hof übernehmen und für zwei reichte es bei den damaligen Preisen für Milch und landwirtschaftliche Produkte nun wirklich nicht, obwohl der Hof an die 50 Kühe hatte und große Felder bestellt wurden.

Bei seiner Musterung gab er damals an, gerne länger dienen zu wollen und Kraftfahrzeugmechaniker waren auch bei der Armee gesucht. Er war gesund und ungebunden und so sprach seinerzeit nichts dagegen. Ein Nachbar brachte ihn zum Bahnhof, denn für ein Auto reichte es bei den Kastors nicht und das Bahnticket war ja schon von der Armee bezahlt. Mutter stand beim Abschied weinend im Hof, doch er freute sich innerlich, endlich von zu Hause wegzukommen. Nicht, dass er unzufrieden war mit seiner Kindheit und Jugend, aber er sehnte sich nach etwas Neuem. Bereits nach der ersten Hausbiegung fühlte er etwas wie Freiheit und den Beginn eines neuen Lebens. Bei den Gedanken an diese Zeit kam ein Schmunzeln in sein Gesicht.

Peter spürte die ersten Regentropfen auf der Kopfhaut und ging zurück ins Haus. Der eben geöffnete Brief roch irgendwie muffig und es fühlte sich dieses Mal so ganz anders an. Es war kein Neuanfang, es war ein Abschied, vom Bauchgefühl her. Er hätte gerne alle, auf Flohmärkten gesammelten, lieb gewonnenen Gegenstände mitgenommen. Doch das war nicht erlaubt. Er stand vor seiner Sammlung von alten Postkarten, die ein ganzes Regal füllte, seinen mühsam zusammengetragenen alten Möbeln und sagte Lebewohl.

Er musste seine Wohnung an eine junge Familie abgeben. Die würden mit Sicherheit keines dieser Möbelstücke zu schätzen wissen, sondern in einem Müllcontainer entsorgen oder beim Sperrmüll rausstellen. Doch die neuen Besitzer finanzierten durch den Kauf seinen dritten Lebensabschnitt.

Damals wurde klar, dass bei der ständig steigenden Zahl an alten Menschen einige Abläufe staatlich geregelt werden müssten. Der familiäre Zusammenhalt und der Generationenvertrag funktionierten schon lange nicht mehr und es gab auch nur noch begrenzte Möglichkeiten für ständige Häuserneubauten. Alte Menschen wurden misstrauisch und fast schon feindselig betrachtet. Sie leisteten nichts mehr und kosteten nur Geld – jedenfalls aus Sicht der jungen Generation.

Die alte Generation hatte die Schuldenberge aufgebaut und in Saus und Braus gelebt. Das sollten jetzt alles die Jungen ausbaden – Sauerei! Außerdem war Selbstverantwortung und Laufenlassen noch nie eine Stärke der deutschen Gesellschaft. Hier sollte immer möglichst alles bis in die Details geregelt sein und das auch noch schön sozial verträglich. Bloß nichts der Selbstverantwortung überlassen, denn ein Großteil der Bevölkerung ist aus Sicht der Politik offensichtlich zu dämlich, das Leben und die Zukunft selbst zu regeln. Deshalb wurde das Seniorenversorgungsgesetz fast einstimmig von allen Parteien verabschiedet.

Peter war mit seinem Leben zufrieden. Er war mit der Armee viel herumgekommen, war in einigen Auslandseinsätzen der Armee und lernte dabei die Welt kennen. Das war zwar nicht immer ungefährlich, wie ihm sein vernarbter Streifschuss von einem Taliban-Angriff in Afghanistan noch bei Wetterwechseln versicherte. Es war aber nie langweilig, na ja, fast nie und die Kameradschaft war einfach etwas Tolles. Er machte seinen Kraftfahrzeugmeister bei der Bundeswehr und machte sich später dann nach dem Ausscheiden selbständig. Er kaufte eine kleine Autowerkstatt auf, die keine bestimmte Marke bediente, sondern alles reparierte, was auf den Hof kam. Bei dem jährlich anfallenden Besuch der Dorfkirmes in der Heimat lernte er dann mit 27 seine Frau Susanne kennen.

Peter stand im Wohnzimmer und schmunzelte, während er in Gedanken sein Leben Revue passieren ließ. Heute noch fühlte er sein Herz höher schlagen, wenn er nur an sie dachte oder den Namen aussprach: „Susanne.“

Sie standen sich damals gegenüber und merkten gleich: „Das ist es!“ Vorher fühlten sich beide oft wie Menschen auf einem falschen Planeten. Es fragte sich nur, wer die Außerirdischen sind – die anderen oder sie selbst. Und nach langer Zeit trafen sich hier dann einmal zwei Bewohner des gleichen Planeten, die sich sofort verstanden. Sie schauten sich in die Augen und es fühlte sich an, als würden sie sich schon ein Leben lang kennen.

Kurz darauf wurde Susanne schwanger und es wurde geheiratet. Schon damals zogen sie in die Doppelhaushälfte mit gepflegtem Vorgarten. Dann kam Daniel zur Welt und fünf Jahre später Annika. Sie verbrachten beide eine glückliche Kindheit in dem Haus und die Kinder hatten viel Platz zum Spielen. Peter nahm das alte Kinderfoto vom Wohnzimmerschrank und schaute es an.

Nun waren sie auch schon lange fort. Daniel war jetzt 42, arbeitete als Architekt für einen großen Konzern in Asien und Annika war 37 und als Herzchirurgin an einer Universitätsklinik sehr gefragt. Freizeit gab es kaum und Peter hatte seine Kinder sicher schon zwei Jahre nicht mehr gesehen. Doch Arbeit geht vor, erst recht in diesen schlechten Zeiten. Jedenfalls tröstete sich Peter damit, an den langen, einsamen Winterabenden, wenn er am Fenster in die Ferne blickte und an sie dachte. „Was mochten sie wohl gerade tun?“ Peter fand einfach keine Ruhe. Er fühlte sich heute wie ein Panther im Käfig. Ein grauer Panther.

Er ging noch einmal in den Hof und schaute sich ein weiteres Mal um. Das Haus war damals kurz vor dem Einzug von einer Firma schlüsselfertig hergerichtet worden und der Garten war Peters ganzer Stolz, denn hier konnte er mit viel Arbeit das Reihenhäuschen kreativ von seinen Nachbarhäusern abheben. Er liebte Gartenarbeit, bis es dann irgendwann im Alter mit den Knochen immer schwieriger wurde. Da musste er schweren Herzens zuschauen, wie täglich mehr das Unkraut in dem ständigen Kampf siegte. Selbst in der Hofeinfahrt stieß ein Kraut nach dem anderen durch die Ritzen, so als wollte es sagen: „Unkraut vergeht nicht!“ Und auch den Baumarkt besuchte er nicht mehr so häufig. Er schaffte es sowieso nicht mehr, die Arbeiten selber zu verrichten. Er merkte, es wurde Zeit und nun war er ja auch gekommen, der Einberufungsbescheid.

Peter schlurfte zurück ins Haus. Im Flur betrachtete er sich in dem Ganzkörperspiegel, den noch Susanne aufhängen ließ. Sie musste sich immer, wie jede typische Frau, stundenlang von allen Seiten in einem Spiegel ansehen, um zigfach die Klamotten zu wechseln, den Po zu betrachten und so weiter. Hier stand sie oft und besah sich und er musste von der Seite schmunzeln, wenn er sie dabei beobachtete. Er liebte sie so sehr und als sie von ihm ging, sah er lange keinen Grund mehr weiterzuleben. Sie war fünf Jahre jünger als er und hätte doch noch so viel Zeit gehabt. Aber sie bekam Darmkrebs. Bei einer Routineuntersuchung fiel es auf. Es war fast paradox. Susanne, die peinlichst genau alle Vorsorgeuntersuchungen wahrnahm, wie ein Buchhalter, starb an Krebs. Und dabei hatte sie sich immer Sorgen um ihn gemacht, der egal, welche Signale der Körper auch gab, alles ignorierte und nie zum Arzt ging.

Die Krankheit war schon weit fortgeschritten und trotz Chemotherapie und Operation blieben ihnen noch sechs Monate. Einen Großteil der Zeit verbrachte sie davon mit Schläuchen, Übelkeit, Durchfall und Schmerzen im Krankenhaus. Er saß die meiste Zeit neben ihr am Bett. Was sollte er ohne sie zu Hause. Sie war sein Zuhause. Während dieser Zeit war er stark – stark für sie.

Sein Zusammenbruch kam dann nach ihrem Tod. Alles verlor erst einmal seinen Sinn. Sie redeten kaum über die Krankheit und den Tod und heute wünschte er sich oft, sie hätten mehr offen geredet und nicht über Belanglosigkeiten. Er redete oft zu ihr, in Gedanken, vor ihrem Bild, oder auch, wenn er abends wach im Bett lag und alleine nicht einschlafen konnte.

Im Spiegel sah er einen Herrn, 175 Zentimeter groß, etwa 70 Kilo schwer. Er wusste es genauer, es waren nur noch 68, nachdem er immer weniger Lust hatte, sich etwas zu kochen. Da war es schon gut, dass er kaum noch die Kraft hatte, sich zu bewegen. Von der Erscheinung und vom Alter her könnte man ihn, na sagen wir auf 62, höchstens 64 Jahre schätzen. Wenn, ja wenn die Glatze nicht wäre. Bis vor kurzem trug er noch ein Toupet, doch er bekam das einfach nicht mehr alleine auf die Reihe, es ordentlich zu pflegen und zu platzieren. „Tja Peter“, sagte er zu sich, „du 72-Punkte-Mann, dann nimm mal langsam Abschied, es geht bald los.“ Die Türglocke läutete. Peter war im Spiegelbild noch einen Moment gefangen. Es läutete wieder. „Moment, ich komme.“

Achter Stock - Endstation

Подняться наверх