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Adlershof lag im Windschatten der Ereignisse
ОглавлениеEiner noch erträglichen Belastungsgrenze für große Teile der DDR-Bevölkerung hatte sich eine rigorose Wirtschaftspolitik stufenweise genähert. Anfang April waren bestimmten Berufsgruppen, man sprach von sozialen Schichten, die Lebensmittelkarten entzogen worden, Ende Mai wurden die Arbeitsnormen per Dekret spürbar erhöht. Auch wenn sich das FZ um eine halbwegs aktuelle Berichterstattung bemühte, kann ich mich nicht erinnern, dass in dem allwöchentlich gesendeten Kommentar zum Zeitgeschehen über die Nöte der davon Betroffenen gesprochen wurde. Auch in der Sendereihe Wußten Sie schon?, die sich, wie es damals hieß, operativ mit volkswirtschaftlichen Problemen befasste, reagierte man nicht auf die Unzufriedenheit so vieler Mitbürger.
In Adlershof sprachen wir unter uns darüber, mehr geschah nicht. Und dann lief in vielen Betrieben und Institutionen eine Werbekampagne für eine Art von Arbeitsdienst mit vormilitärischem Charakter. Auch ich musste vor einem Gremium erscheinen. Ob ich es nicht auch als meine gesellschaftliche Pflicht ansehen würde, bei diesem Dienst für Deutschland dabei zu sein? Ich war über die Zumutung, wieder eine Uniform anziehen zu sollen, derart schockiert, dass ich mit der Feststellung, mein letzter Dienst für Deutschland habe mir am 2. Mai 1945 einen Lungensplitter eingebracht, den Raum verließ.
Dass diese grobe Ablehnung keine Sanktionen auslöste, lag vermutlich an der rasch wachsenden Unruhe, die das Land ergriffen hatte und sehr schnell eskalierte. Der Mitte Juni verkündete neue Kurs konnte die Empörung nicht mehr abfangen. Es kam am 16. Juni zum Streik der Bauarbeiter in der Stalinallee. Am nächsten Tag schlugen die Aktionen an vielen Orten in einen offenen Aufstand um.
Die Auseinandersetzungen vom 17. Juni haben das Gelände des FZ nicht berührt. Dennoch wurde ein Kampfstab gebildet, eine Parteiversammlung abgehalten, und jedermann zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen. Eine Reihe zuverlässiger Genossen verpflichtete man, rund um die Uhr den Schutz des Betriebsgeländes zu gewährleisten. Wir anderen mussten das Objekt sofort verlassen. Da der S-Bahn-Verkehr eingestellt worden war, musste auch ich zu Fuß von Adlershof bis in den Stadtbezirk Prenzlauer Berg laufen.
Als ich den Alexanderplatz überquerte, sah ich die Spuren heftiger Auseinandersetzungen. Das Geschehen am Vormittag war, wie ich viel später erfuhr, von unserem dienstältesten Tonmeister Ernst Matysek fotografiert worden. Damals noch ein junger Mann, hatte er etwas von einer Straßenschlacht gehört, sich spontan seinen Fotoapparat genommen und war in Richtung Polizeipräsidium Keibelstraße gelaufen. Um einen besseren Blick zu haben, stieg er in einem Wohnhaus treppauf und fand auch jemanden, der ihm erlaubte, auf seinen Balkon zu gehen. Als er nach einigen Schnappschüssen wieder hinaus wollte, wurde er verhaftet und für acht Tage hinter Gittern verwahrt. Vom FZ daraufhin fristlos entlassen, hat er dann der Polizei gegenüber hartnäckig darauf bestanden, die Inhaftierung und den Grund schriftlich bestätigt zu bekommen, denn als fristlos Gekündigter brauche er für jeden neuen Arbeitsplatz, in welchem Teil Berlins auch immer, den Nachweis, weshalb man ihn festgenommen hatte. Seine Sturheit löste Telefonate aus, schließlich wurde die Kündigung vom FZ zurückgenommen.
Um meine Erinnerung zu prüfen, habe ich in der nach den Sendeprotokollen der frühen Fernsehjahre zusammengestellten Sendekartei nachgesehen, ob künstlerisch gestaltete Beiträge mit Bezug auf den 17. Juni zur Sendung gekommen sind. Es war nicht der Fall. Die regelmäßig ausgestrahlten Rätselsendungen wurden exakt fortgesetzt, Instrumentalsolisten vorgestellt, Volksliederduette übertragen und zwei Krylow-Fabeln gelesen. Vom 27. Juni an gab es dann gestaltete Sendungen in Vorbereitung der IV. Westfestspiele der Jugend und Studenten in Bukarest.
Jede gestaltete Sendung brauchte und braucht ein gewisses Maß an Zeit und Aufwand. Bei nicht vorhersehbaren Ereignissen konnte eine künstlerische Reaktion nur zeitversetzt erfolgen. Die Publizistik, also auch der in Ansätzen vorhandene Fernsehjournalismus, wäre in der Lage gewesen, unmittelbar zu reagieren. In dem konkreten Fall des 17. Juni begnügte man sich damit, die offizielle Version vom feindgesteuerten Putschversuch zu verbreiten, über polizeilich-juristische Ahndungen, mehr noch über den Neuen Kurs zu berichten. Es galt schon damals die Losung: Keine Fehlerdiskussion!
Am 19. Juni ereignete sich im FZ ein Zwischenfall, bei dem eine Lücke in der Wachsamkeit durch eiserne Konsequenz ausgeglichen wurde: In dem Verbindungsgang zwischen den Studios und dem Redaktionsgebäude, wegen seiner Glaswände intern Aquarium genannt, befand sich damals die elliptisch geformte Schlüsselausgabe, als Wanne bezeichnet. Dort, direkt neben ihr, entdeckte am Abend des 19. Juni 1953 Chefredakteur Peter Klemm einen großen Lederkoffer. Er fragte den Betriebsschützer, was das für ein Koffer sei. Der zuckte die Achseln. Darauf Peter Klemm: „Menschenskind, euch können sie doch glatt 'ne Sprengladung unter'n Hintern schieben!"
Nach der Sendung war der Koffer weg. Peter Klemm wollte wissen, wer ihn geholt hat. Es stellte sich heraus, dass die Feuerwehr den Koffer vorsichtig ins Gelände transportiert, ihn durch Schaumlöscher eingeweicht und mit langen Zangen zerstückelt hatte.
Am nächsten Tag rannte Hans-Hendrik Wehding verzweifelt im Haus umher und suchte seinen Koffer. Er hatte sich von der Staatskapelle Dresden einen Orchestersatz Noten für die Oper Der Freischütz ausgeliehen, den schweren Koffer vom Auto aber nur bis zur Wanne schleppen können. Dem Betriebsschutzmann dort hatte er zwar gesagt, was es mit dem wertvollen Stück auf sich hat - der aber hatte vergessen, seine Ablösung zu informieren. (4)
Wegen der nun verschärften Sicherheitsvorschriften wurde jede Sendetätigkeit aus dem Behelfsstudio neben den Kamera-Zugpulten sofort eingestellt. Die dadurch entstandene Lücke dauerte zum Glück nicht lange. Mit dem Monat Juli 1953 konnte endlich das mit 57 m² etwas größere reguläre Studio I in Betrieb genommen werden. Es war zwar auch nur mit einer Kamera ausgerüstet, die aber frei fahren und schwenken konnte und einen zeitlich längeren Einsatz, optische Totalen und damit Inszenierungen in sich geschlossener Fernsehspiele erlaubte.
Abendfüllende Werke aufzuführen, verbot sich zunächst aus Kapazitätsgründen, denn alle Livesendungen mussten in dem einen Studio produziert werden, nur Ansagen, Aktuelle Kamera und Wetterbericht kamen vorläufig noch aus dem zwei Treppen hoch gelegenen Provisorium, Ansage-Studio genannt.
Das Dilemma der ersten Programmetappen bestand zusätzlich darin, dass die elektronische Technik an die Adlershofer Studios gebunden war, während die knapp bemessene Filmtechnik durch außer Haus stattfindende Film-Bearbeitung schwerfällig und kostenintensiv arbeitete. Dia-Serien waren keine dem bewegten Bild adäquate Lösung. Und was der Rundfunk und die Tageszeitungen an Aktualität boten, war vom Fernsehen für Jahre nicht zu überbieten. Noch existierte kein Korrespondentennetz, auch an einen internationalen Austausch aktuellen Filmmaterials war vorläufig nicht zu denken. Die Fernsehberichterstattung verblieb noch lange in der Rolle eines zeitverzögerten Kommentators. So wurde die Aktuelle Kamera nicht mehr täglich gesendet. Dafür stand für Jahre jeden Freitag die neueste DEFA-Wochenschau DER AUGENZEUGE im TV-Programm.
Die erzwungene Zurückhaltung im aktuellen Bereich erlaubte eine verstärkte Entwicklung fernsehkünstlerischer Sendeformen wie das originäre Fernsehspiel und Adaptionen der epischen wie der dramatischen Literatur.
Hermann Rodigast und ich durchforsteten die Literatur der Gegenwart wie der jüngeren Vergangenheit nach kurzen, im Kern dramatischen Geschichten. Was wir geeignet fanden, brauchte stets Autoren, die aus der epischen Vorlage ein szenisches Spielbuch formten. Wir benutzten damals nicht den Filmbegriff Drehbuch, weil wir uns auf dem Weg zu einer völlig neuen Gattung audiovisueller Gestaltung glaubten.
Autoren für die Fernsehdramatik zu finden, war anfangs ein großes Problem. Der Einzige, der viel mehr davon wusste als wir, weil er eine bereits weiterentwickelte Praxis hatte beobachten können, war Stefan Heym. Fernsehspiele gab es in den USA bereits während seiner Emigrationsjahre. Er war nicht nur bereit, dem Newcomer in Adlershof die Fernsehrechte an seiner Erzählung Die schwarze Liste zu geben, er ließ sich auch dafür gewinnen, in einem Kreis Lernwilliger über seine Erfahrungen zu berichten. Für eine direkte Mitarbeit konnten wir ihn leider nicht gewinnen.
Die Konsequenz für uns zwei Dramaturgen war, dass wir selbst zu Autoren werden und uns dabei gegenseitig beraten mussten. Hermann Rodigast schrieb an einem großen historischen Kammerspiel aus der Zeit des Deutschen Bauernkriegs. Es ging um Die Entscheidung des Tilman Riemenschneider.
In einem Band mit Prosaarbeiten Friedrich Wolfs hatte ich die Kurzgeschichte Der verschenkte Leutnant entdeckt. Die darin geschilderte Episode aus dem Ersten Weltkrieg enthielt eine klare Absage an den Krieg. Hermann Rodigast, durch den Zweiten Weltkrieg noch stärker gezeichnet als ich, stimmte meinem Vorschlag einer verdichteten filmischen Adaption zu. Einen Drehbuchautoren konnte er mir dafür nicht nennen, also stellte er mir die Aufgabe, als Szenarist daraus einem Fernsehfilm werden zu lassen.
Noch im April sind wir zu Friedrich Wolf nach Lehnitz gefahren. Es hat mich tief beeindruckt, dass der weltbekannte Dramatiker mit mir nur über die Gründe für den Vorschlag sprach, ohne zuvor prüfend nach meiner Biografie zu fragen oder eine Legitimation durch bereits Geschriebenes zu verlangen. Meine Mitwirkung an den Dorf- und Betriebsabenden des Berliner Rundfunks schien ihm zu genügen. Er fragte nach dem Ziel meiner Arbeit, nach der sich daraus ergebenden Aufgabe und nach den Ideen für ihre Lösung. Nicht nur das junge Medium Fernsehen, alles Neue forderte ihn heraus. Ich bin mehrfach zu ihm gefahren. Er schilderte, wie es 1915 an der Westfront zugegangen war, spielte mir sogar den Typ dieses preußischen Leutnants überzeugend in Gestus und Tonlage vor. Begleitet von seinem Rat und seiner Kritik ging die Arbeit zügig voran. Als ich die Möglichkeit einer besonderen Nebenhandlung erwähnte, ließ er den Gedanken gelten und sagte ermunternd: "Ja, machen Sie, machen Sie und lassen mich bald etwas lesen."
Nachdem er mein Exposé gelesen hatte, gab er mir grünes Licht für die volle szenische Ausführung und schlug vor, ich solle ihm die ersten Abschnitte bringen, sobald er von der Jubiläumsveranstaltung des Reclam-Verlags aus Leipzig zurückgekehrt sei.
Es war ein Schock, am Tag vor dem verabredeten Termin die Nachricht von seinem plötzlichen Tod zu erhalten. Nun wurde die Weiterarbeit in seinem Sinne zu einer Verpflichtung, die mich noch Jahre später zur Adaption anderer Wolf-Erzählungen führte. Ich gebe gern zu, dass ich in den Gesprächen mit ihm mehr über Dramaturgie und das Ethos des Schreibens gelernt habe, als während meines fakultativen Studiums am Theaterwissenschaftlichen Institut der Berliner Humboldt-Universität.