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1 › II. Der Verordnungsvorschlag der Kommission 1970

II. Der Verordnungsvorschlag der Kommission 1970

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Im März 1969 beschloss die Kommission auf Vorschlag von der Groebens die Ausarbeitung eines umfassenden Textes. Als Rechtsgrundlage hierfür hatte man zunächst an das klassische Mittel eines völkerrechtlichen Übereinkommen mit integriertem Einheitsgesetz (loi uniforme) gedacht, wie sich dies durch Art. 220 3. Spiegelstrich EGV (nicht in den AEUV übernommen) anbot, der ein solches Übereinkommen zur Ermöglichung der grenzüberschreitenden Fusion von Gesellschaften vorsah. Das Problem der bei dieser Rechtsform an sich mangelnden einheitlichen Gerichtsbarkeit hätte sich durch die Begründung einer solchen für den EuGH mithilfe eines Protokolls herbeiführen lassen, wie dies bereits bei dem Brüsseler Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen von 1968 geschehen war. Auf Initiative eines engen Mitarbeiters von der Groebens, Schwartz, setzte sich jedoch die Auffassung durch, dass ein solches großes Gemeinschaftsvorhaben, wie es die „Europäische AG“ darstellte, nur auf Gemeinschafts- und nicht auf Völkerrecht gegründet werden könne. So entschied sich die Kommission für die Heranziehung des bislang wenig beachteten Art. 235 EGV (jetzt Art. 352 AEUV), dessen Anwendbarkeit seiner Tatbestandsmäßigkeit nach nicht zweifelhaft sein konnte, aber kühn war, und schlug dem Rat als gemeinschaftsrechtliche Rechtsform eine „Verordnung“ i. S. d. Art. 189 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 288 Abs. 2 AEUV) vor.

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Grundlage der nunmehr in den Händen der Dienststellen der Kommission liegenden Arbeiten mit Sanders als Berater war selbstverständlich dessen „Vorentwurf“ – mit einer Ausnahme: Hatte Sanders zwar einen Titel über die Mitbestimmung aufgenommen, so hatte er sich doch darin für eine territorial begrenzte, nur am jeweiligen Sitz der SE geltende Regelung ausgesprochen. Dies betraf ausschließlich Deutschland, da nur dieser Mitgliedstaat eine solche kannte, während in Frankreich seit 1945 die sehr viel eingeschränktere Form der Entsendung von zwei Arbeitnehmervertretern in den „conseil d'administration“ ohne Stimmrecht galt.

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Die Kommission entschloss sich für den Vorschlag einer umfassenden Regelung dieses Problems, wie dies dem Charakter der „Europäischen AG“ als Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung entsprach, und verpflichtete den damaligen Rektor der Ruhr-Universität und Vorsitzenden der Reformkommission zur Mitbestimmung Biedenkopf als Sachverständigen. Biedenkopf erarbeitete ein vorzügliches Konzept einer europäischen Mitbestimmung, das in vier sehr unterschiedlichen Alternativen den Unternehmen zur Wahl gestellt werden sollte. Die hier niedergelegten Überlegungen, insbesondere die Alternative einer Vereinbarung von Ad-hoc-Lösungen zwischen den beteiligten Interessen, haben noch heute Gültigkeit.

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Am 24.6.1970 nahm die Kommission den so erarbeiteten Verordnungsentwurf an und legte ihn dem Rat am 30.6.1970 vor.[1]

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Der Vorschlag gliederte sich in 15 Titel: In ihnen wurden nicht nur alle gesellschaftsrechtlichen Probleme von der Gründung bis hin zur Auflösung der Gesellschaft, sondern auch darüber hinausgreifende Vorschriften steuer- und strafrechtlicher Art geregelt. Er umfasste 284 Artikel. Die Kommission folgte der Sandersschen Grundidee, die neue Rechtsform für die grenzüberschreitenden Unternehmensverbindungen der Verschmelzung, der Errichtung einer Holdinggesellschaft über aktiven Unternehmen oder einer gemeinsamen Tochtergesellschaft (joint venture) zu öffnen, ließ aber auch die Gründung einer Tochtergesellschaft durch eine SE allein in Form einer SE zu. Die im „Vorentwurf“ noch vorgesehene Möglichkeit der Umwandlung einer einzelstaatlichen AG in eine SE wurde ausgeschieden. Wie im „Vorentwurf“ beschränkte sie die Gründergesellschaften auf AGs unter Ausschluss von Unternehmen in anderen Rechtsformen, insbesondere von GmbHs. Solchen Unternehmen stand nach Ansicht der Kommission ja der Weg einer vorherigen Umwandlung in eine AG nach nationalem Recht offen.

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Hinsichtlich des erforderlichen Grundkapitals der SE erweiterte die Kommission allerdings den Zugang: Anstelle der im „Vorentwurf“ vorgeschlagenen einen Million Rechnungseinheiten (RE)[2] für die beiden Hauptformen der Unternehmenszusammenführung schlug sie die Hälfte vor. Für die Errichtung einer gemeinsamen Tochtergesellschaft behielt sie das Grundkapital von einer Viertelmillion RE bei. Differenzierung und Höhe des Grundkapitals sollten die neue Rechtsform größeren, um nicht zu sagen Großgesellschaften vorbehalten, wenn dies auch für Deutschland bei einem Durchschnittsaktienkapital, das seinerzeit bei 14,5 Mio. DM lag, nicht sehr ins Gewicht fallen konnte. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Form der AG in den anderen Mitgliedstaaten im Gegensatz zur teilweise unbekannten GmbH weit verbreitet war und ihre Gründung nur ein sehr geringes Grundkapital erforderte.

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Wie beim „Vorentwurf“ verstand sich der Gleichklang mit den durchgeführten und in Aussicht genommenen Arbeiten zur Gesellschaftsrechtsharmonisierung von selbst. In gewisser Weise skizzierte der Verordnungsvorschlag die Richtung jener Arbeiten.

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Der Vorschlag bestimmte autonom seinen Anwendungsbereich in Art. 7: Die von ihm behandelten Gegenstände sollten hinsichtlich der Rechtsfragen, die nicht ausdrücklich geregelt waren, der Anwendung des Rechts der Mitgliedstaaten entzogen sein. Der Richter wurde aufgefordert, „nach den allgemeinen Grundsätzen der Verordnung“ – sie spricht von „diesem Statut“ – und, wenn diese keine Lösung böten, „nach den allgemeinen Regeln oder den gemeinsamen allgemeinen Grundsätzen der Rechte der Mitgliedstaaten“ zu entscheiden. Nur die „nicht behandelten Gegenstände“ – angesichts der sehr detaillierten Regelung die große Ausnahme – sollten nach dem „im Einzelfall anwendbaren Recht der Mitgliedstaaten“ beurteilt werden.[3]

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Hinsichtlich der Gründung der SE folgte der Vorschlag dem deutschen System der Normativbestimmungen: Bei Erfüllung der gesetzlich geforderten Voraussetzungen hatten die Gründer einen Anspruch auf die erforderliche richterliche Mitwirkung, ohne dass es – wie im niederländischen Gründungsverfahren – auf eine Prüfung der Wirtschaftlichkeit des geplanten Unternehmens ankommen sollte.

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Zu Recht folgte die Kommission für den inneren Aufbau der SE dem deutschen dualistischen System, der Trennung von Geschäftsführung und Kontrolle durch zwei unabhängige Organe, wobei – auch hier deutscher Rechtstradition folgend – die Geschäftsführung durch einen Vorstand in den Vordergrund gestellt wurde. In Frankreich war seinerzeit bereits das dualistische System dem monistischen eines einzigen „conseil d'administration“ an die Seite gestellt worden; in Großbritannien entsprach und entspricht die Rechtswirklichkeit mit der funktionellen Aufteilung des „board of management“ in „executive directors“ und „non-executive directors“[4] diesem sachlich ohne Zweifel besseren Verwaltungssystem.

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Aufmerksam zu machen ist auf Art. 82, den 3. Abschnitt „Besondere Verpflichtungen der Mitglieder des Vorstands, des Aufsichtsrats, der Abschlussprüfer und der Großaktionäre“: Alle diese Personengruppen sollten durch diesen Artikel verpflichtet werden, die von ihnen gehaltenen börsennotierten Aktien der eigenen Gesellschaft in Namensaktien umzutauschen, sie im europäischen Handelsregister registrieren zu lassen, Käufe und Verkäufe für jedes Trimester anzumelden und Gewinne aus Kauf und Wiederverkauf oder Verkauf und Wiederkauf an die Gesellschaft abzuführen. Dem Zweck dieser „Insider-Regelung ist nichts hinzuzufügen.

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Besondere Bedeutung kommt dem Titel V „Die Vertretung der Arbeitnehmer in der SE“ zu. Dieser Titel sah einen Europäischen Betriebsrat als überbetriebliche Repräsentanz der Arbeitnehmerinteressen (1. Abschnitt) sowie einen Konzern-Betriebsrat (2. Abschnitt) vor. Diese Vorschläge wurden später durch die entsprechenden Richtlinien verwirklicht. Als große Neuerung war der Vorschlag zu nennen, die deutsche Form der Mitbestimmung, die Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat, vorzusehen (3. Abschnitt). Diese politisch außerordentlich heikle Frage, bei der es keineswegs nur um den Widerstand der europäischen Arbeitgeber, sondern auch um den der europäischen Gewerkschaften ging, die sich nicht in „das kapitalistische System“ einspannen lassen wollten, wurde elegant gelöst: Grundsätzlich sollten die Arbeitnehmer das Recht haben, ein Drittel der Aufsichtsratsmitglieder zu stellen; die Satzung der SE sollte jedoch im Einzelfall eine höhere Anzahl festlegen können. Grundsätzlich sollten die Arbeitnehmervertreter in einem Betrieb der SE beschäftigt sein. Bei drei Vertretern sollte einer „außerhalb eines solchen Beschäftigungsverhältnisses“ stehen können. Damit sollte die außerbetriebliche Mitbestimmung gesichert werden. Mit diesen Vorschlägen wäre den deutschen Interessen Genüge getan gewesen. Auf der anderen Seite sollte es keine Arbeitnehmervertretung geben, wenn mindestens zwei Drittel aller Arbeitnehmer einer SE eine solche ablehnen würden. Dies entsprach den Interessen jener Mitgliedstaaten und deren Gewerkschaften, die die Mitbestimmung als solche ablehnten.

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Ebenfalls neu war die Aufnahme eines Titels VII „Konzernrecht“. Die Kommission hatte den Mut, die Probleme dieses in vielen Mitgliedstaaten unbekannten Rechtsgebiets aufzugreifen und Lösungen vorzuschlagen. Begriffe wie „herrschendes und abhängiges Unternehmen“, „einheitliche Leitung“, „Weisungsgebundenheit“ waren den Rechten anderer Mitgliedstaaten fremd. Der Vorschlag vertraute in erster Linie dem Mittel der Publizität. Aktionäre und Gläubiger sollten sich bewusst werden können, dass sie es mit konzernverbundenen Unternehmen zu tun hätten. Die Interessen der freien Aktionäre abhängiger Konzernunternehmen sollten durch Barabfindung oder Aktientausch befriedigt werden. Für den Gläubigerschutz sah der Vorschlag die einzig richtige Lösung einer gesamtschuldnerischen Haftung des herrschenden Unternehmens für die Verbindlichkeiten des abhängigen Unternehmens vor.

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Vorschriften über Satzungsänderung, Auflösung, Abwicklung, Konkurs, Umwandlung und Fusion rundeten die gesellschaftsrechtlichen Regeln ab. Für das Steuerrecht wurden Vorschriften vorgeschlagen, für das Strafrecht die Mitgliedstaaten aufgefordert, Bestimmungen zu erlassen, die zwölf ausdrücklich formulierte Verhaltensweisen mit Strafe oder Geldbuße bedrohen sollten.[5]

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Mag sein, dass dieses europäische Aktiengesetz sehr ambitiös, zu ambitiös, war. Es wäre in der Lage gewesen, die sich – auch heute noch – stellenden Probleme der gleichberechtigten Unternehmensverflechtungen über die Grenzen der Gemeinschaft sozusagen auf „einer höheren Ebene“, der der Gemeinschaft bzw. Union, zu lösen. Die psychologischen Schwierigkeiten bestehen nach wie vor, wie die Entwicklung zeigt. Ohne Zweifel wäre die Ausstrahlung auf die Entwicklung der nationalen Aktienrechte groß gewesen, was manche Mitgliedstaaten vielleicht fürchteten. Das gilt insbesondere für das Konzernrecht. Die Konzernierung mit einer nationalen Spitze und zahlreichen hundertprozentigen Tochtergesellschaften in allen Mitgliedstaaten, die sich dann entwickelte – keine europäische Lösung –, wäre vermieden worden. Zur Verwirklichung eines solchen Gesetzes hätte es allerdings Mut gebraucht. Den hatten die Mitgliedstaaten jedoch nicht.

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