Читать книгу Tatort Ostsee - Harald Jacobsen, Anke Clausen - Страница 24

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Stefan saß mit Robert in seinem Büro. Er versuchte immer noch zu begreifen, was Lutz ihnen bei der Obduktion bewiesen hatte. Sarah Müllers Fundort war definitiv nicht der Tatort. Er konnte es gar nicht sein. Stefan hatte nicht einmal damit gerechnet, dass die Frau überhaupt Opfer eines Verbrechens geworden war. Mord. In der Ostsee ertränkt zu werden, konnte er sich gerade noch vorstellen, aber hier lagen die Dinge ganz anders. Sie hatten es hier mit einem kuriosen Fall zu tun. Robert sprang plötzlich vom Stuhl. »Mensch, Stefan! Das macht doch alles keinen Sinn. Trockene Lunge? Franck muss sich irren!«

»Der irrt sich nie. Sarah Müller ist irgendwo anders ertrunken. Jemand hat sie an den Strand gebracht.« Es ärgerte ihn, dass er an Sophies Einwand denken musste. Ihr war sofort etwas aufgefallen. »Wenn wir den Tatort finden, finden wir auch die Person, die sie dort weggebracht hat. Ob diese Person ein Mörder ist oder jemand, der einen Unfall vertuschen wollte, wird sich rausstellen.« Robert nickte. »Dann war es Mord! Ich frag mich die ganze Zeit, warum? Ich meine, was war das Motiv?«

Stefan schüttelte den Kopf. »Fahr nach Hause oder auf den Golfplatz. Wir müssen warten, bis Franck mit den Laboruntersuchungen fertig ist. Vielleicht findet er Hinweise, die zu einem See oder Graben in der Nähe passen. Ich ruf dich an.«

Robert nickte und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro. Stefan war froh, endlich allein zu sein. Er würde noch einen Bericht schreiben und dann losfahren. Er wollte zu seiner Familie: Windeln wechseln und Sandburgen bauen. Nur eins wollte er nicht. Weiter an ein totes Baby und an eine junge Frau denken, die unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen, und deren Tod bis jetzt nicht logisch zu erklären war. Er musste mit Tina sprechen. Ihre Anekdoten über den Tag mit den kleinen Rackern würden ihn wieder in die angenehme Wirklichkeit versetzen. Panisch tippte Stefan die Nummer und wartete fast verzweifelt darauf, dass Tina abnehmen würde.

»Sperber«, meldete sich seine Frau.

Stefan schloss kurz die Augen und genoss den Klang ihrer Stimme. »Ich bins! Hallo Schatz! Ich bin in einer Viertelstunde hier raus.«

»Super. Unsere Mäuse freuen sich schon so auf dich und den Strand. Und ich mich übrigens auch.«

»Mir geht es genauso, das kannst du mir glauben. Der Tag war ziemlich merkwürdig.«

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Tina mit besorgter Stimme. »Ja. Natürlich. Mir fehlt ein bisschen Schlaf, sonst ist alles okay. Bis gleich.« Stefan drückte das Gespräch weg und wählte die Nummer von Ingo Schölzel. Bevor er zurück nach Fehmarn fuhr, musste er seinen Kollegen auf den neusten Stand der Ermittlungen bringen. Ingo nahm nach dem zweiten Klingeln ab.

»Stefan! Gibts was Neues?«

»Allerdings! Schnapp dir Gerdt und fahr zur Surfschule nach Gold. Ich möchte, dass ihr so viele wie möglich befragt. Da läuft gerade ein Kurs. Die meisten Teilnehmer sind schon ein paar Tage dort. Wir brauchen Zeugen. Vielleicht hat doch jemand irgendwas gehört oder gesehen oder kann uns zumindest etwas über diese Sarah Müller sagen.«

»Kannst du mir vielleicht verraten, worum es hier geht?«

Stefan atmete tief durch. »Dieser Fehmarnfall ist etwas komplizierter, als ich im ersten Moment gedacht habe.« Stefan wusste, dass er gleich eine Bombe platzen lassen würde. »Unsere Wasserleiche ist nicht in der Ostsee ertrunken, sondern im Süßwasser.«

Olli stand im hüfthohen Wasser und beobachtete seine Schüler, die mit mäßigem Erfolg mit den Drachen hantierten. Immer wieder knallten die Schirme auf die Wasseroberfläche und er musste durch die Bucht waten, um beim Start Hilfestellung zu geben und den Kite wieder in die Luft zu bringen. Zum Glück kam Sophie ziemlich gut alleine klar. Sie hat wirklich Biss, stellte er bewundernd fest. Der Kite hatte sie bereits mehrmals durchs Wasser geschleift. In ihrem Haar klebten Algen und sie musste unfreiwillig schon ein paar Liter Ostseewasser geschluckt haben. Trotzdem machte sie tapfer weiter. Nach zwei Stunden war sie die Beste. Sophie hatte kapiert, was sie beachten musste. Olli bemerkte plötzlich, dass sie aus der Ferne große Ähnlichkeit mit Sarah hatte. Sein Magen zog sich für einen Moment zusammen. Er versuchte, ruhig zu atmen. Die Schüler brauchten seine ganze Aufmerksamkeit. Er konnte jetzt nicht zusammenbrechen. Jede blonde Frau mit nassen langen Haaren in einem Neoprenanzug ähnelt ihr, sagte er sich. Und das machte es nicht leichter. Schöne tote Sarah! Das alles war so unwirklich. Vorgestern hatten sie noch zusammen am Strand gesessen. Warum hatte sie Schluss gemacht? Sie hatten sich doch super verstanden, viel gelacht und konzentriert trainiert. Was wollte sie denn mehr? Ein anderer Mann? Wer war der Kerl? Er hatte immer gehofft, dass sie eines Tages ein richtiges Paar werden würden und davon geträumt, mit ihr zusammenzuleben, sie Tag und Nacht um sich zu haben. Vielleicht hätten sie sogar irgendwann geheiratet und Kinder bekommen. Vielleicht eine kleine Tochter mit langen blonden Haaren. So ein wildes Mädchen, das eher schwimmen als laufen würde. Ein lautes Platschen riss Olli aus seinen Gedanken. Wieder lag ein Kite im Wasser. Die beiden Schüler zerrten an den Leinen, doch der Schirm klebte mit der falschen Seite auf der Wasseroberfläche. »Ich komm schon!«, brüllte Olli und setzte sich in Bewegung. Er warf noch schnell einen Blick auf Sophie. Bei ihr war alles in Ordnung. Sie flog ruhig kleine saubere Achten. Bei den beiden Anfängern angekommen, kontrollierte er die Leinen und drehte den Schirm um. Er erklärte, wie man ihn jetzt in den Wind treiben lassen sollte, bevor man ihn erneut startete. Diesmal schafften sie es. Als Olli sicher sein konnte, dass alles okay war, marschierte er zurück zu Sophie. Sie bemerkte ihn gar nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den blauen Schirm gerichtet.

»Hey, das läuft doch super!«

Sophie ließ den Kite nicht aus den Augen. »Ha ha!«, lachte sie ironisch. »Du weißt doch, wie oft mir das Teil schon abgeschmiert ist. Ich hatte mir das etwas einfacher vorgestellt, um ehrlich zu sein. Meine Beine fühlen sich an wie Pudding.«

»Du machst das wirklich gut. Morgen stehst du garantiert auf dem Brett!«

Sie guckte skeptisch. »Ich mache bestimmt bald schlapp. An morgen will ich gar nicht denken. Wahrscheinlich komm ich nicht aus dem Bett.«

»Unsinn! Gleich machen wir eine Mittagspause und dann geht es mit neuer Power weiter. Ich erkenn doch ein Talent. Warte, ich zeig dir noch mal eben was.« Olli stellte sich dicht hinter Sophie und nahm ihr die Bar, die Lenkstange, aus der Hand. Sein Oberkörper lehnte sich an ihren Rücken. Eine ganz normale Sache, wenn er Schülern etwas mit der Bar zeigen wollte. Doch jetzt fühlte er trotz der dicken Gummihaut, dass ihr Körper ihn nicht kalt ließ. Entschlossen lenkte er den Drachen in eine Kurve. Der Schirm bekam genug Kraft, um beide einen Meter aus dem Wasser zu heben. Sophie kreischte auf.

»Alles unter Kontrolle!«, beruhigte er sie, als sie wieder gelandet waren.

»Ich hab fast einen Herzinfarkt erlitten!«, lachte Sophie. »Ich kapiere langsam, dass der Sport süchtig machen kann.« Sie strahlte ihn an.

»Aber hast du kapiert, wie ich das gemacht habe?« Olli freute sich, dass sie so begeistert war. »Du musst ihn in einer weiten Acht nach unten ziehen. Und gleich wieder rauf. Nachher zeig ich euch, wie ihr euch so durch das Wasser ziehen lassen könnt.«

»Ich weiß schon, wie es ist, wenn man durchs Wasser gezogen wird. Vielen Dank!«

»Ich rede vom sogenannten Bodydragging. Dein Körper erfüllt dabei die Funktion des Boards. Du legst dich auf den Bauch, steuerst den Kite und lässt dich einfach durch das Wasser gleiten.«

»Einfach? Für mich klingt die Geschichte ziemlich kompliziert.«

»Blödsinn! Du packst das. Vertrau mir einfach!«

Sarah hatte ihm schließlich auch vertraut.

Sophie stürmte zusammen mit den anderen Schülern das kleine Bistro. Sie war so hungrig, dass es ihr ganz egal war, was man ihr auf den Teller legen würde. Sie hoffte nur, dass die Portion groß genug war. Sie wunderte sich wirklich über sich selbst. Sonst zählte sie jede Kalorie. Als sie las, was als Tagesgericht vorgeschlagen war, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Currywurst! Sophie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal Appetit auf so viel Fett gehabt hatte. Die Stimmung war ausgelassen. Alle lachten und quatschten durcheinander. Es war wirklich wie in einem Zeltlager und sie war überrascht, wie viel Spaß sie in der Runde hatte. Bis zu diesem Morgen hätte sie noch ein Vermögen gewettet, dass solche Gruppengeschichten nie und nimmer ihr Ding seien und jetzt saß sie plappernd mittendrin und amüsierte sich. Alle waren gut drauf und berichteten von ihren Pleiten und Pannen mit dem Kiteschirm. Niemand schien mehr an die Unfälle und die toten Frauen zu denken. Selbst Sophie hätte fast vergessen, aus welchem Grund sie sich für den Kurs angemeldet hatte. Sie sah sich die Kursteilnehmer genauer an. Ein ziemlich gemischter Haufen und sie war überrascht, wie spannend sie alle fand, obwohl niemand das Gesicht des Jahres war oder ein Verhältnis mit einem Filmstar hatte. Sie ging in Gedanken noch mal die Namen ihrer Mitstreiter durch. Da waren Nils, Freddy, Zecke und Jonny, vier ziemlich durchgeknallte Berliner Anfang 20. Sie hausten in zwei umgebauten Bussen, die mit lauter Graffitizeug besprüht waren. Die Jungs hatten eine unglaubliche Fahne, doch anstelle von Kopfschmerzen blendende Laune. Vor 10 Jahren hatte sie auch noch die ganze Nacht feiern können und war am nächsten Morgen topfit gewesen. Die Burschen würden auch noch älter werden. Ihr gegenüber saßen Indie und Wolf. Die beiden waren um die 50 und konnten ihre Hippievergangenheit nicht leugnen. Indie hatte ihre langen Haare hennarot gefärbt und trug einen Nasenring. Wolf saß im Lotussitz auf dem Stuhl und zwirbelte seinen langen Bart. Sie hatten ihre eigenen Teebeutel dabei. Beide hatten sich indische Tücher um die Schultern gelegt. Nach eigenen Angaben wollten sie eine neue gemeinsame Erfahrung machen. Im letzten Jahr hätten sie einen Tantrakurs gemacht, ließ Indie die anderen wissen. Das letzte Pärchen war fast noch skurriler. Bärchen wog sicher über 140 Kilo und seine Freundin Bienchen höchstens 50. Größere Gegensätze konnte es kaum geben. Bärchen war laut, Bienchen kriegte den Mund nicht auf. Er hatte einen Dreitagebart und roch etwas säuerlich, Bienchen hatte viel zu lange künstliche Nägel und war von einer Wolke edlen Parfüms umgeben. Es hatte sich im Kurs mittlerweile rumgesprochen, dass Hanjo allein ziemlich überfordert war und zudem auch noch den Tod seiner Frau zu verkraften hatte. Niemand schien es ihm unnötig schwer machen zu wollen. Sie bestellten alle Currywurst. Als das Essen auf die Tische gestellt wurde, futterten selbst Indie und Wolf mit großem Appetit. Sophie hatte eben einen Kaffee bestellt, als die Tür aufflog und zwei Männer die Gaststube betraten. Sie sahen nicht aus wie Surfer oder Touristen und sie grüßten auch nicht. Sie marschierten direkt zur Theke. Sophie beobachtete die Szene mit gemischten Gefühlen. Ihr war klar, dass es sich bei den Männern um Kripobeamte handeln musste, noch bevor die beiden ihre Ausweise zückten und sie dem überraschten Ben unter die Nase hielten.

»Ingo Schölzel, Kriminalpolizei.« Er deutete auf seinen Kollegen. »Gerdt Hartwig.«

»Scheiße, die Bullen!«, murmelte Zecke.

Sie sahen sich alle verwirrt an. Sophie versuchte, sich zu konzentrieren. Was bedeutete das?

»Sind Sie hier der Eigentümer?«, fragte Schölzel.

Ben schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin Surflehrer. Hanjo Peters ist der Besitzer. Er ist in der Küche. Soll ich ihn holen?«

Ingo Schölzel gab seinem Kollegen ein Zeichen und Gerdt Hartwig öffnete einfach die Küchentür. Sophie war entsetzt, wie unsensibel die Beamten vorgingen. Ein paar Sekunden später kam Gerdt Hartwig mit Hanjo in die Gaststube. Schölzel nickte ihm zu. »Sie sind der Besitzer?«

»Ja, Hanjo Peters. Worum gehts?«

»Keine Sorge, es wird nicht lange dauern. Setzen Sie sich bitte zu Ihren Gästen. Dann erklär ich die Situation«, bemerkte Schölzel eine Spur freundlicher.

Hanjo, Ben und Olli quetschten sich mit auf die Bank.

»Es tut uns sehr leid, Sie belästigen zu müssen, aber wie Sie sicher alle mitbekommen haben, sind hier zwei junge Frauen ertrunken«, begann Schölzel. Er sah sich die Gäste des Bistros der Reihe nach an. Komm auf den Punkt, dachte Sophie. »Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir sind auf der Suche nach Zeugen. Vielleicht hat hier jemand etwas mitbekommen, das uns weiterhelfen könnte.«

Nach der ersten Schrecksekunde murmelte alles verwirrt durcheinander. Der Kripobeamte räusperte sich laut. »Ich werde Sie nacheinander in die Küche bitten. Es ist nur eine Routinebefragung.«

»Brauchen wir einen Anwalt?«, kicherte einer der Berliner.

Schölzel sah ihn genervt an. »Deine Drogengeschichten interessieren uns im Moment nicht. Wer macht den Anfang?«

»Ich!« Sophie sprang auf. »Ich muss nämlich dringend meinen Hund füttern!« In Wahrheit war sie so neugierig, dass sie es auf ihrem Stuhl nicht länger ausgehalten hätte. Sophie folgte dem Beamten und nahm auf einem Hocker Platz. Pelle leckte ein heruntergefallenes Ei von den Bodenfliesen.

»Ich bin Oberkommissar Ingo Schölzel«, ließ der Kripobeamte sie mit ernstem Gesichtsausdruck wissen. »Wer sind Sie bitte?«

»Sophie Sturm. Ich habe die Leiche gestern gefunden.«

»Ach, Sie sind das.« Sophie gefiel der spöttische Gesichtsausdruck nicht.

»Ich bin am Freitag erst angereist. Ich kannte hier niemanden, außer meiner Freundin Tina Sperber natürlich.«

»Dann können Sie mir nichts zu Sarah Müller sagen?«

Sophie schüttelte den Kopf. »Auch nicht zu der ersten Verunglückten. Aber wenn mir die Frage erlaubt ist, wegen eines Unfalls würde man doch nicht so einen Aufwand betreiben, oder? Ich meine die Zeugenbefragung.«

Der Beamte nickte. »Zumindest in einem der Fälle müssen wir wohl von einem Verbrechen ausgehen.«

Stefan saß mit einer kleinen Plastikschaufel in der Hand am Strand und baute mit seinen Kindern eine gigantische Sandburg. Der ganze Stress und die schrecklichen Bilder in seinem Kopf lösten sich langsam. Paul klopfte mit seinen Händchen den Sand fest und Antonia verzierte alles mit kleinen Steinen, die sie vorher liebevoll zusammengesammelt hatte. Die Sonne brannte ihm auf den Rücken und außer dem Geplapper seiner Kinder und dem seichten Plätschern der Wellen war nichts zu hören. Stefan schloss die Augen und versuchte, den Moment festzuhalten. Seine Familie war wirklich seine Zuflucht. Er hatte mehr, als er sich je erträumt hatte. Drei gesunde Kinder, eine wunderbare Frau und ein traumhaftes Haus. So war sein Leben perfekt. Das Schreien seiner Tochter brachte ihn zurück in die Wirklichkeit.

»Nein! Paul!« Antonia sah ihn entsetzt an. »Guck mal Papa, jetzt hat er mit seinem Fuß den Turm der Prinzessin kaputt gemacht.«

Paul sah sich schuldbewusst den Schaden an und war kurz davor in Tränen auszubrechen. Stefan stupste ihn sanft und lächelte. »Sie schimpft schon wie Mama, was? Wir Männer sollten besser zusammenhalten und den Turm schnell wieder aufbauen.«

Paul nickte zustimmend und machte sich sofort ans Werk.

»Wieso hältst du zu ihm?« Seine Tochter sah ihn misstrauisch an.

Stefan bemühte sich, ernst zu bleiben. Er vergewisserte sich, dass sein Sohn beschäftigt war, und beugte sich zu ihr. »Süße, er ist doch noch klein«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir Großen wissen doch, dass er ab und zu noch etwas ungeschickt ist, oder? Hey! Sei nicht so hart zu ihm. Du warst doch auch mal klein.«

Antonia hatte ihm aufmerksam zugehört. Sie seufzte und nickte dann. »Aber ich war nie so ungeschickt! Oder?«

Zum Glück erwartete sie von ihm keine Antwort. Sie war schon wieder dabei, das Sandbauwerk mit Steinchen zu dekorieren. Schmunzelnd sah er zu. Antonia war eine kleine Schönheit. Sie hatte zum Glück die Gene ihrer Mutter. Sein Sohn war ein gesunder kleiner Frechdachs, der zwischendurch versuchte, seiner schlauen großen Schwester eins auszuwischen. Aber so oft die beiden sich auch zankten, genauso heftig hielten sie zusammen. Dann bildeten sie eine harte Front, die Eiscreme oder Haustiere forderte. Das mit den Haustieren hatten Tina und Stefan bisher erfolgreich verhindern können. Doch Stefan machte sich keine Illusionen. Früher oder später würden sie wohl doch den großen Wunsch erfüllen müssen. Die Kinder brauchten einen Hund. Aber frühestens, wenn Finn nicht mehr über den Boden krabbeln würde. Er blickte über die Schulter. Seine Frau und der Kleine lagen auf einer Decke unter einem Sonnenschirm. Finn schlief und Tina blätterte in einer Zeitschrift. Sie sah umwerfend aus. Sie hatte höchstens noch vier Kilo mehr auf den Rippen, doch ihn störte das nicht. Im Gegenteil. Eigentlich mochte er die leichten Rundungen noch mehr als ihre gertenschlanke Figur. In ein paar Monaten würden sie ihr Schlafzimmer wieder für sich haben. Vielleicht sollte er schwimmen gehen. Das Wasser müsste kalt genug sein, um ihn von diesem Gedanken abzulenken.

»Ihh! Papa! Paul pinkelt in den Sand und alles läuft in die Sandburg!«

Schlagartig war er wieder in der Realität. »Antonia, geh mal zur Mama und frag sie, wann wir endlich ein Stück Kuchen haben dürfen. Ich kümmere mich hier um Paul und den Wasserschaden.« Seine Tochter grummelte und rannte dann los. »Paulchen, warum hast du denn nicht Bescheid gesagt?«, fragte er liebevoll.

Die erste Träne kullerte über seine Wange. »Vagetten.«

»Das kann doch mal passieren. Komm, wir gehen zur Mama, und die hat bestimmt was Feines zu essen in ihrem großen Korb.«

Paul nickte und kreischte dann glücklich auf, als Stefan ihn hochhob und herumwirbelte, bevor er ihn zu Tina trug. Sie war bereits dabei, den Marmorkuchen zu zerschneiden.

»Na, Jungs? Habt ihr Hunger?«

Gemeinsam machten sie sich über den Kuchen her. Der Pinkelskandal war längst vergessen. Stefan nutzte den Augenblick und küsste seine Frau. »Du bist die Schönste! Ich liebe dich, dich und unsere wundervolle Bande. Was meinst du? Wann haben wir unser Schlafzimmer wieder für uns?«

Tina grinste ihn an und flüsterte: »Und was machen wir dann im Schlafzimmer?«

Stefan wollte gerade antworten, als sein Diensthandy klingelte. Genervt griff er das Telefon und sprang auf. »Ich hoffe, es ist sehr wichtig!«, schimpfte er in den Hörer, während er in die Dünen stapfte.

»Stefan? Tut mir leid, wenn ich störe, aber …«

»Robert! Nein du störst kein bisschen. Ich verbringe den ersten Nachmittag seit Wochen mit meiner Familie am Strand.«

Am anderen Ende der Leitung war ein Schlucken zu hören. »Ich wollte auch lieber golfen, aber Franck hat mich angerufen. Der hat vor dir anscheinend auch mehr Angst als vor seinen gruseligen Leichen. Sollte dir mal zu denken geben. Jedenfalls geht es um die Fehmarntote.«

Stefan blieb abrupt stehen. Diese Leiche ging ihm gehörig auf die Nerven. »Ja?« Er versuchte, nicht mehr so aggressiv zu klingen.

»Sie ist in keinem See ertrunken.« Robert machte eine Pause und atmete tief durch. »Die Sache wird immer verrückter. Diese Sarah ist in stinknormalem Leitungswasser ersoffen.«

»Leitungswasser?«

»Ja, das Laborergebnis ist eindeutig. Ich erklär dir die Einzelheiten, wenn du in einer anderen Stimmung bist.«

Stefan setzte sich kraftlos in den warmen Sand. »Weißt du eigentlich, was du da gerade gesagt hast?« Stefan hatte das Gefühl, selbst zu ertrinken. Leitungswasser! Schlimmer hätte es gar nicht kommen können. »Verdammt, Robert! Jetzt haben wir unendlich viele mögliche Tatorte.«

Olli konnte nicht mehr still sitzen. Die Polizei hatte nun fast alle befragt. Alle, bis auf ihn und Ben. Olli war vollkommen durcheinander. Seine Hände zitterten. Diese Befragung machte ihm Angst. Er würde nie und nimmer einen vernünftigen Satz herausbringen. In ihm wuchs die Panik. Im Moment war der Dicke in der Küche. Die Tür öffnete sich. Bärchen verließ schweigend das Bistro. Olli sah zur Küchentür. Er wäre viel lieber im Wartezimmer eines Zahnarztes gewesen.

»Würden Sie jetzt bitte kommen!« Schölzel zeigte auf ihn.

Olli schluckte und trat in die Küche. Es fiel ihm unendlich schwer, sich möglichst gelassen auf den angewiesenen Küchenstuhl zu setzen.

»Wer sind Sie?«

»Oliver Konrad.«

»Sie sind das!«, stellte Schölzel fest. »Sie sind hier Surf-lehrer, richtig?«

»In den Sommermonaten, ja. Sonst helfe ich meinen Eltern auf dem Hof.«

»Dann kommen Sie von hier?«

Olli nickte und beschloss, ein bisschen selbstbewusster aufzutreten. »Ja! Da leben, wo andere Ferien machen. Wie gesagt, nicht, dass ich immer Urlaub habe, bestimmt nicht.«

»Kannten Sie Sarah Müller?«

Olli hatte das Gefühl, einen trockenen Schwamm im Mund zu haben. Statt zu antworten, nickte er.

»Sie dürfen gerne etwas ausführlicher werden!«

»Sarah trainierte hier«, erklärte Olli so sachlich wie möglich.

Schölzel nickte und machte sich Notizen. »Ja? Und weiter?«

Olli griff sich an die Stirn, so, als ob er sich erinnern müsste. »Wir waren Bekannte. Ich habe ihr beim Training geholfen. Sarah wollte an den Deutschen Meisterschaften teilnehmen.«

»Hatte jemand Streit mit den beiden? Ich meine mit Sarah Müller und möglicherweise auch mit Sandra Schmidt?« Schölzel sah ihm direkt in die Augen. »Kannten die beiden sich? Ist Ihnen da irgendetwas aufgefallen?«

Olli schüttelte den Kopf. Soweit ich weiß, hatte Sarah nur Streit mit mir, dachte er.

Der Beamte klappte das Notizbuch zu und lächelte. »Sie sind der Erste, der gar nicht wissen wollte, warum wir hier sind.«

Ollis Schläfen pochten. Ihm musste jetzt sofort eine glaubhafte Erläuterung einfallen. »Tatsächlich?«, fragte er mit gespielter Verwunderung. »Dabei ist es doch wohl offensichtlich, dass Sie ein Verbrechen nicht ausschließen.«

»Ja? Von Mord habe ich nichts gesagt!«

»Nein, aber sonst würden Sie sicher nicht nach Zeugen suchen.«

»Verstehe! Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte. Und außerdem hätte ich gerne eine Liste der Kursteilnehmer der letzten vier Wochen. Am besten jetzt gleich. Und vielen Dank für die Zusammenarbeit.«

Olli nickte. »Ich bringe Ihnen gleich die Liste«, bot er an. »Die Unterlagen sind in der Hütte.« Er stand auf und ging langsam zur Küchentür. Am liebsten wäre er gerannt.

»Diese Sarah war verdammt hübsch! Ist Ihnen das gar nicht aufgefallen?«, fragte Schölzel überraschend.

Ollis Kopf war kurz davor zu zerspringen. Er durfte keinen Fehler machen. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele echte Schnuckelchen hier pro Saison auflaufen. Ich hab nicht den schlechtesten Job! Ich meine, bevor die Frauen ertrunken sind, war die Stimmung wirklich gut hier«, korrigierte er sich schnell. »Jetzt ist natürlich alles anders.«

Der Kommissar nickte nachdenklich. Olli stieß erleichtert die Tür auf. So schlecht hatte er sich gar nicht geschlagen. Plötzlich begann sein Herz zu rasen. Würde Ben den Bullen erzählen, dass er Sarah geliebt hatte?

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