Читать книгу das Fahrrad der ewigen Stille - hedda fischer - Страница 10
Оглавление2 – Benjamin ( 11 Jahre )
Er lehnte halb verdeckt hinter einem Strauch am Zaun und beobachtete die Haustür. Seine Mutter war in der Wohnung, das wusste er, er sah schließlich das Licht, aber sie war vermutlich nicht allein, das wusste er aber nicht mit Sicherheit. Was er mit Sicherheit wusste, war, dass sie demnächst das Haus verlassen müsste, da die Putzkolonne, in der sie momentan arbeitete, Abendschicht hatte. Das hieß: von 18 bis 24 Uhr Büros putzen. Einen anderen Job hatte sie nicht. Schon seit Jahren nicht. Er fragte sich schon gar nicht mehr warum.
Nach einer guten Viertelstunde ging das Licht im Treppenhaus an. Es war um diese Zeit – gegen 17 Uhr – noch recht hell, aber das Treppenhaus war durch die halbhoch mittelgrau gestrichenen Wände immer düster. Unebene Ölfarbe. Die hellen Wände darüber oft mit Graffiti verschönert, auch mit seinen, wenn er denn Geld für einen dicken schwarzen Marker ausgeben konnte. Er schlenderte zur Haustür. Als er sie erreicht hatte, öffnete sie sich, und seine Mutter trat zusammen mit einem Mann aus dem Haus. Er tat so, als ob er gerade eben von der Nachmittagsbetreuung heimgekommen wäre. Dabei war er schon seit Wochen nicht mehr hingegangen.
Seine Mutter begrüßte ihn erfreut. Küsste ihn auf die Wange und strubbelte sein Haar. Das war ein gutes Zeichen, denn das hieß, dass der Mann an ihrer Seite sie gut behandelt hatte. Er kannte ihn nicht. Unsympathisch war er ihm auf jeden Fall. Unsympathisch waren ihm alle, die seine Mutter mitbrachte. Ganz egal, ob ihn einer freundlich ansprach, ihm Geld schenkte, ihn wie einen Erwachsenen behandelte. Er konnte keinen gebrauchen, er wollte seine Mutter für sich. Sie hatten immer zusammen gelebt, waren eine Einheit. Den echten Vater hatte er nicht zu Gesicht bekommen, besser gesagt, er erinnerte sich überhaupt nicht.
Er fühlte sich mit seinen elf Jahren alt genug, um auf seine Mutter aufzupassen, sie zu beschützen, sie zu ernähren. Was natürlich Unsinn war. Das war ihm auch irgendwie bewusst, drang aber nicht so recht bis zu seinem Gehirn vor. Die meiste Zeit fühlte er sich durchaus imstande, die Schule zu schmeißen, einen Job als Aushilfe in einem Geschäft, als Zeitungsausträger, als Gehilfe auf dem Markt zu erledigen und damit Geld zu verdienen. Er war zwar nur mittelgroß, aber kräftig.
Einer der zahlreichen Freunde seiner Mutter hatte ihn einmal wegen einer angeblich frechen Bemerkung geohrfeigt, und er hatte sich nicht wehren können. Daraufhin hatte er beschlossen, seine Muskeln zu trainieren. Heimlich hatte er im Keller die schweren Holzklötze eines Nachbarn gestemmt. Zwanzigmal, fünfzigmal hintereinander. Eines Tages hatte der Nachbar ihn dabei beobachtet und ihm Tipps gegeben, wie er richtig stehen, richtig die Arme bewegen und auch die Beine einsetzen musste. Zwar lief ihm nach kurzer Zeit der Schweiß herunter, und der Muskelkater wollte gar nicht mehr aufhören. Aber dann – nach rund drei Wochen – bemerkte er Fortschritte. Die Klötze schienen leichter zu werden, Arme und Beine schmerzten nicht mehr so sehr. Muskeln hatten sich noch nicht gebildet, aber wenn er seine Oberarme befühlte, schienen sie härter geworden zu sein.
Er übte auf dem Schulhof den ’knallharten Blick’ – wie Jackie Chan in den Kung-Fu-Filmen -, um die anderen in Schach zu halten. Die anderen, das waren die Jungs aus seiner Klasse, die ihn wegen seines Namens hänselten. Er hörte die höhnischen Stimmen jeden Tag.
Sie waren nicht unbedingt größer oder stärker als er, hatten aber mehr Selbstbewusstsein, besaßen die richtigen Sachen, Handys, gute Turnschuhe, coole Klamotten. Das alles hatte er nicht. Was daran lag, dass seine Mutter zeitweise gar nichts und wenn, dann nur wenig verdiente. Irgendwie ungerecht war das schon. Aber ändern konnte er es nicht. Jedenfalls jetzt noch nicht.
Seine Mutter hängte sich bei dem Mann ein, sagte im Vorbeigehen, er solle brav sein und zu Hause bleiben, und dann machten sich die beiden auf den Weg. Sie drehte sich nicht mal um. Natürlich blieb er zu Hause.
Was sollte er denn sonst tun?
Taschengeld bekam er nur wenig, und diesen Monat hatte er ohnehin schon fast alles ausgegeben. In seiner Hosentasche befanden sich noch ein Euro fünfzig. Aber damit konnte er nicht ins Kino gehen - allein war das sowieso langweilig -, sich keine Bratwurst kaufen, es reichte allenfalls für eine Tüte Chips zu 99 Cent. Dann blieben ihm noch 51 Cent für morgen. Oder er kaufte sich jetzt Kaugummi, und damit wäre das ganze Geld weg. Er ärgerte sich, dass er gestern für 2,49 Kuchen vom Vortag gekauft hatte. Die Hälfte hätte es auch getan.
Langsam stieg er die Treppe hoch bis zum fünften Stock. Er nahm nie den Aufzug, weil er das Treppensteigen gut für seine Kondition hielt. Abgesehen davon, man wusste nicht, wer sich mit in den Aufzug drängte. Wenn er Pech hatte, stiegen die Zwillinge aus dem dritten Stock ein, hielten ihn fest und durchsuchten seine Taschen nach Brauchbarem. Sie waren drei Jahre älter und größer als er. Gegen sie kam er nicht an. Wenn er ihnen auf der Treppe begegnete – was eher selten vorkam – hatte er gute Chancen zu entkommen, denn er war schnell. Wenn er nach oben rannte, drückte er im Vorbeilaufen auf sämtliche Klingelknöpfe, so dass die Leute die Köpfe aus den Türen steckten, sich beschwerten, und die Zwillinge aufgaben. Wenn er nach unten rannte, war er blitzschnell aus der Haustür und in einer der anliegenden Straßen verschwunden. Die Zwillinge machten sich nie die Mühe, ihn ernsthaft zu verfolgen. Sie wussten nur zu gut, dass er ihnen wieder einmal über den Weg laufen würde.
Auch konnte es sein, dass andere Hausbewohner im Aufzug einen prüfenden Blick auf ihn warfen und lauthals über seine Mutter sprachen ( als ob er gar nicht vorhanden wäre ). Und sie sprachen nichts Gutes. Es klang immer abfällig, obwohl er nicht so richtig einordnen konnte warum eigentlich. Er fühlte dann, dass er rot wurde, blickte zu Boden, und schwor sich, diesen Leuten eines Tages eine reinzuhauen, aber so richtig.
Im Kühlschrank fand er Salami und Käse, schnitt sich einige Scheiben Brot ab, nahm alles mit ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Auf dem Tisch davor standen eine Flasche klarer Schnaps und zwei Gläser. An einem sah er Lippenstift. Er roch an dem Glas und ließ den winzigen Rest auf seine Zunge tropfen. Er schmeckte grässlich. Im Vorabendprogramm lief die „Lindenstraße“. Von dieser Serie kannte er bereits alle Folgen, aber da er nichts Interessanteres fand, sah er erst einmal zu. Der gemütliche Abend konnte beginnen.
Viertel nach zwölf war seine Mutter noch immer nicht nach Hause gekommen, und er fragte sich, ob sie mit zu dem Mann gegangen war. Eigentlich war er müde, aber es hatte noch einer der Filme angefangen, die für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet waren ( wie es im Vorspann immer so schön hieß ), der ihn aber interessierte. Er zwang sich, die Augen offen zu halten, wenn Leute verprügelt oder gefoltert wurden und Blut floss. Auch wenn er manche Szenen nicht ansehen mochte, weil sie ihn erschreckten, zugegeben hätte er das nie. Danach konnte er mitunter nicht einschlafen oder er fand sich, mit eingeschlafenen Gliedern und verrenktem Nacken, um zwei Uhr morgens auf dem Sofa wieder und wusste gar nicht, wie der Film ausgegangen war.