Читать книгу das Fahrrad der ewigen Stille - hedda fischer - Страница 15
Оглавление7 – Benjamin
Seine Schulzeit hatte etwas abrupt geendet. Nach etwa zehn Jahren – inzwischen war er vom Gymnasium an die Schule am Schillerpark gewechselt – hatte er schlicht und einfach die Nase voll. Sitzenbleiben und damit die zehnte Klasse wiederholen: Das stand auf dem Programm in diesem Herbst ! In der achten und neunten hatte es schon Probleme gegeben, aber er hatte es jedes Mal gerade noch geschafft, alle wichtigen Klassenarbeiten mit Vier oder wenigstens Vier Minus zu schreiben. Aber jetzt ? Keine Chance. Er begriff nur Mathematik - das einzige Fach, in dem er immer gut gewesen war -, kam aber bei den Sprachen nicht mehr mit. Sein Englisch war mäßig, Spanisch verstand er gar nicht mehr. Chemie ging einigermaßen. Die Elemente ließen sich auswendig lernen, Reaktionen auch, aber Physik war fast nicht zu begreifen. Er hatte total den Anschluss verpasst, was auch daran liegen konnte, dass er eine Zeit lang die Schule geschwänzt hatte. Zum Teil, weil er einfach keine Lust gehabt hatte, sein eigenes Unwissen immer wieder zur Schau zu stellen, zum anderen, weil er Geld verdienen wollte und das konnte er nur tagsüber, zum Beispiel in dem Lagerhaus am Hafen.
Auch das Fahrrad-Training kostete Zeit. Aber es machte unendlichen Spaß ! Das langsame Anfahren, das Immerschneller-Werden, das Dahinfliegen ohne Zeit und Raum. Es machte ihm überhaupt nichts aus, zwei-drei Stunden hintereinander zu fahren, mal schnell, mal langsam, wie es ihm der Trainer erklärt hatte. Seine eigene Kraft zu fühlen, Schnelligkeit zu erleben, ein Freiheitsgefühl ! Er hatte damals instinktiv den richtigen Sport für sich entdeckt. Jetzt war er schon fast vier Jahre dabei und besaß zwei gute Fahrräder. Das Vereinsleben interessierte ihn nicht. Nur das Training. Was sollte er bei Vereinsabenden ? Quatschen ? Karten spielen ? Fachsimpeln ? War ihm egal. Er hatte seine eigenen Vorstellungen. Wenn die anderen über Mädchen redeten, dachte er an Frauen. An erwachsene Frauen, nicht an kichernde Teenager. Die Vorstellung, eine Frau zu bezwingen, war in ihm mehr und mehr gewachsen. Sie musste nur noch in die Tat umgesetzt werden …
Seine Mutter hatte nie gefragt, woher er die Räder hatte. Dachte wohl, vom Verein. Soweit sie sich überhaupt dafür interessierte, was er so trieb. Er hatte beide durch Arbeit verdient. In der Werkstatt von Sven und Richard gejobbt, im Lagerhaus Möbel und Kartons getragen, in dem türkischen Laden Kisten geschleppt, als der Großvater hingefallen, sich am Knie verletzt hatte und der Sohn gerade für ein paar Wochen in der Türkei in Urlaub gewesen war.
In dem Lagerhaus hatte niemand nach seinem Alter gefragt. Sie musterten ihn, sahen seine kräftige Statur ( auf die er sehr stolz war ) und hatten ihn erst einmal einen Tag lang probeweise beschäftigt. Ohne Murren hatte er Kisten aufgestapelt, LKWs mit allerlei Kram aus Wohnungsauflösungen aus– und eingeräumt, auch die Halle ausgefegt. Danach bestellten sie ihn eine Woche lang jeden Tag. Am Ende der Woche zahlten sie das Geld in bar aus ( ‘bar auf die Kralle‘, wie gesagt wurde ). Er kam sich sehr erwachsen vor, damals, als er Freitag am frühen Nachmittag mit den älteren Arbeitern vor dem Büro des Chefs wartete, nichts äußerte, aber den Worten der anderen genau zuhörte.
Hauptsächlich war von Frauen und Saufen die Rede. Von „der Alten zu Hause“. Von der „Blonden mit den geilen Titten“, die in dem nahen Café jobbte. Vom Ficken. Und was man da alles machen könne … Er wurde beim Zuhören nicht mehr rot, konnte sich aber mangels Erfahrung nicht an den Gesprächen beteiligen. Die anderen grinsten. Es fielen gutmütige Sprüche, sie klopften ihm auf die Schulter und sagten, das würde er alles auch noch erleben. Und ob sie ihm eine Frau besorgen sollten ?
Nein, das wollte er nicht. Obwohl, es lockte. Aber er dachte, dass es eine der Frauen sein würde, die die Männer kannten und die würde darüber berichten. Und sie wüssten Bescheid, ob er denn oder eben nicht … Und er wusste noch immer nicht, wie das richtig lief. An sich herumspielen – wenn er allein vor dem Fernseher saß – das kannte er. Das tat ihm ausgesprochen gut und gab Erleichterung. Die festen Berührungen seiner Mutter kannte er seit Jahren. Bei denen fühlte er sich auch wohl. Wie das nun war, in einer Frau drin zu sein, das wusste er nicht. Er sah in Filmen die Bewegungen der Männer und Frauen ( spätabends wurden Filme dieser Art gezeigt ), fragte sich aber, wie eng oder weit eine Frau an dieser Stelle wäre. Im Grunde genommen hatte er Angst, sich zu blamieren. Und die Männer im Lagerhaus würden das erfahren und sich über ihn lustig machen. Eine Situation wie in der Schule. Nein, das wollte er ganz sicher nicht. Das passte nicht zu einem coolen Typen wie ihm, der richtig Radfahren konnte und auch sonst allerhand drauf hatte.
Da würde er sich doch lieber selbst um eine Frau kümmern ! In den letzten Wochen hatte er nicht viel Zeit gehabt, die Parks abzufahren und Ausschau zu halten. Aber der Gedanke an dieses intensive Machtgefühl von damals war geblieben. Nur: Wie machte man das, wenn die Frau halb bewusstlos auf dem Boden lag und eine Menge Klamotten anhatte ? Konnte man die schnell zerreißen ? Mit einem Messer zerschneiden ? Er konnte doch nicht nur im Sommer über eine Frau herfallen, wenn sie wenig anhatte. Denn schnell musste es gehen. Das war klar.
Seine Mutter war aufgrund eines Briefes der Schulleitung dahinter gekommen, dass er die Schule schwänzte. Nach mehreren Tagen, an denen der Brief ( es war schon der zweite, denn den ersten hatte er verschwinden lassen ) auf der Kommode im Flur herumgelegen hatte, öffnete sie ihn, las, goss sich einen Schnaps ein und fragte nach …
Er gab lieber gleich zu, dass er seit einiger Zeit gar nicht mehr hingegangen war, zum Einen, weil er nicht mehr mitkam, und zum Anderen, weil er lieber Geld verdienen wollte. Eigentlich war er froh, dass die Sache endlich auf den Tisch kam. Die volle Aufmerksamkeit galt endlich einmal ihm, was selten genug der Fall war.
Er saß auf dem Sofa, seine Mutter im Sessel. Sie seufzte, goss sich noch einen Korn ein und sah ihn an. Sie sah müde aus. Die Arbeit, die sich bis in die Nachtstunden hinzog, und die Zeit, die sie mit Männern verbrachte.
»Und nun ?«, sagte sie und seufzte noch einmal.
Das ärgerte ihn. Er hatte doch nichts Schlimmes getan. Die Schule ? Naja. Er hob die Schultern. Er sah vor sich hin auf den abgetretenen Teppichboden. Bewegte unruhig die Füße. Die Lagerarbeit gab es ja noch, aber die wollte er nicht erwähnen, zumal er von dem verdienten Geld nicht einen einzigen Euro abgegeben, sondern alles für sich ausgegeben hatte.
»Du kannst eine Lehre anfangen«, sagte seine Mutter schließlich. »bist alt genug.«
Er schwieg.
Was für eine Lehre ? Dachte er.
Seine Mutter schwieg auch. Ob sie wirklich über ihn nachdachte oder an etwas anderes, war nicht ersichtlich.
»Vielleicht in einem Handwerksbetrieb …«, sagte sie nachdenklich, zündete sich eine Zigarette an, die erste seit Wochen.
»Da nehmen sie dich hoffentlich«, fuhr sie fort. »So ohne Abschluss.«
Er warf ihr einen wütenden Blick zu. Sie bemerkte es nicht. Zog an der Zigarette, nippte an dem Glas, blickte aus dem Fenster.
Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er war noch nicht volljährig. Zwei Wochen später fing er bei Höhn Brot in der Neuköllnischen Allee an, einem Großbäcker. Seine Mutter war zum Vorstellungsgespräch mitgegangen. Das war ihm peinlich, und er fühlte sich total blöd, schließlich war er schon über 16. Andererseits war er froh darüber, denn es war durchaus nicht sicher, dass er die Firma überhaupt betreten hätte. Das Neue machte ihm doch ein wenig Angst, auch wenn er sich die nicht anmerken ließ, sondern hinter Coolness verbarg. Außerdem hatte seine Mutter den Lehrvertrag mit unterschreiben müssen.
Die Arbeit war schwer. Er musste früh aufstehen, brauchte mit U- und S-Bahn eine gute dreiviertel Stunde, um den Betrieb zu erreichen. Und das fast jeden Tag, denn es wurde auch sonnabends gearbeitet, damit die Berliner frisches Brot und Brötchen bekamen.
Die ersten Wochen ließen sich gut an. Die Kollegen, die ihn einarbeiten sollten, waren brauchbar ( sofern sie nicht zu viel Stress hatten ) und erklärten ihm die Abläufe. Die Pausen waren kurz und eher nebenbei, man redete nicht viel. Die Arbeitsstunden waren hektisch. Teig kurz nachkneten ( eine Maschine hatte zuerst geknetet ), Teig formen, dabei das Gewicht einhalten, Brot und Brötchen auf die Bleche, Brot und Brötchen in die Öfen … und alles schnell … schnell.
Und das sollte nun drei Jahre lang so gehen !
Schulzeiten gab es auch. Die bereiteten ihm keine Schwierigkeiten. Das Umrechnen von Mengen erfasste er aufgrund seiner guten Mathematik
enntnisse sofort. Lebensmittelbestandteile mussten erlernt werden. Mit den Klassenkameraden kam er gut klar. Die Situation war anders als in der normalen Schule. Denn alle waren Lehrlinge, egal welchen Alters, bekamen dasselbe Gehalt, hatten ähnliche Arbeitszeiten, ähnlich lange Anfahrtswege.
Im ersten Jahr bekam er monatlich knapp 500 Euro. Das war eine richtig gute Summe, von der er allerdings zu Hause fast alles abgeben sollte. Seine Mutter wollte einen Teil davon auf ein Sparbuch legen, einen Teil für den Haushalt verwenden. Nur einen sehr kleinen Teil sollte er als Taschengeld behalten dürfen. Er glaubte ihr das nicht, schon gar nicht das mit dem Sparbuch. Es gab heftige Diskussionen, doch schließlich einigten sie sich auf Halbe-Halbe.
Da er schon am frühen Nachmittag frei hatte, hätte er an sich noch ein paar Stunden im Lager arbeiten können. Aber nachdem er das zwei-drei Male gemacht hatte, stellte er fest, dass ihm keine Zeit zum Trainieren blieb. Nach drei Monaten in der Bäckerei bemerkte er, dass die Arbeit so anstrengend war, dass er nicht nebenbei im Lagerhaus arbeiten und obendrein trainieren konnte. Also blieben nur die Lehre und das Training. Wochenlang fiel er abends todmüde ins Bett.