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9 – Benjamin ( 17 Jahre )

Er langweilte sich. Fläzte sich auf dem Sofa, trank Cola mit Schuss, zappte sich durch die Kanäle. Nichts Gescheites. Kein Sport. Keine Serien. Endlich ein Action-Film. Amerikanisch natürlich. Eine Wiederholung eines alten Films mit dem coolen Denzel Washington. Washington als Lincoln Rhyme, dem gelähmten Polizeibeamten. Er verfolgte den Film erneut mit Spannung, obwohl er ihn schon kannte. Danach lehnte er sich zurück und ließ sich die Suche noch einmal durch den Kopf gehen. Ganz schön viele Zufälle, fand er. Denn wenn der Täter sich geschickter verhalten hätte, dann hätte die Polizei ihn gar nicht erwischt. Er verlor sich in Vorstellungen, goss sich eine weitere Cola mit einem weiteren Schuss Schnaps in ein Glas.

In der Flasche Korn, die seine Mutter auf dem Couchtisch hatte stehen lassen, bevor sie zur Arbeit gegangen war, war noch ein Viertel vorhanden. Er hatte schon vor einigen Monaten angefangen, sich ab und zu Korn in seine Cola zu mischen. Anfangs nur wenige Tropfen, dann einen Esslöffel, dann mehr, aber nicht so viel, dass er betrunken wurde. Nur gerade so viel, dass er sich richtig gut fühlte. Das hatte er im Griff.

Er überlegte. Wenn er einen Mord begehen würde, dann würde er ganz anders vorgehen. Er würde eine ihm völlig unbekannte Person angreifen, so dass die Polizei gar keine Verbindung zu ihm herstellen könnte. Am besten eine Frau. Den Moment vor etwa einem Jahr, als er der blonden Frau in der Laubenkolonie die Luft abgedrückt hatte, hatte er noch sehr gut in Erinnerung. Es war ein besonderes Gefühl gewesen, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Ein Gefühl der absoluten Überlegenheit ! Macht über alle Frauen ! Über seine Mutter, seine Lehrerin, seine Oma ! Über alle, die ihn ärgerten, ihn nicht für voll nahmen.

Sollte er die Frau fesseln ? Sie wehrlos machen, damit sie ihn auf Knien um ihr Leben anbetteln müsste … Aber dann müsste sie sprechen können, den Mund frei haben und genau dann könnte sie auch um Hilfe rufen. Um sie zum Schweigen zu bringen, müsste er ihr eine runterhauen. Ob er das fertig brachte ?

Vielleicht sollte er doch noch auf die Straße hinunter gehen und sich umsehen, so ganz allgemein. Es war fast Mitternacht, aber er hatte ohnehin nichts weiter zu tun, morgen auch keine Arbeit. Das heißt, eigentlich sollte er sich wieder einmal in der Werkstatt einfinden, bei der er ab und zu aushalf. Ein Job, der ihm sehr zusagte, stundenweise bezahlt. Dort hatte er sich allerdings schon eine ganze Weile nicht blicken lassen, da er lieber auf den Straßen herumgestrolcht war. Bei so schönem Wetter mochte er in einem der Cafés auf der Müllerstraße sitzen oder an einem Kiosk stehen bleiben, um das Leben und Treiben zu beobachten. Leute beobachten, vor allen Dingen Frauen, sie abschätzen.

Manchmal sprach er eine an, hatte aber bisher nur ablehnende Worte erhalten, auch lächelnde Ablehnungen. Sie antworteten freundlich, hatten dann aber genau an dem Moment keine Zeit, mussten nach Hause, zur Arbeit, sonst wohin.

Also war es vielleicht doch möglich, Kontakte zu knüpfen und endlich den Körper einer Frau zu spüren. Bisher gab es nur die Erinnerung an die Hände seiner Mutter. Zumindest die verschafften ihm auch Befriedigung, aber eine richtige Frau, ein richtiges Zusammensein musste doch etwas anderes sein. So stellte er sich das jedenfalls vor. Es war ihm allerdings immer noch nur theoretisch klar, wie das vor sich ging.

Die Werkstatt lag in einem Hinterhof in der Müllerstraße, neben Thoben’s Backwaren. Sie gehörte zwei Männern mittleren Alters, Sven und Richard, die sich auf dem Hof eingerichtet hatten. Vermutlich hatte es dort schon immer eine Auto-Werkstatt gegeben. Denn der Boden war schwarz, mit Öl getränkt, die Metalltische waren alt und voller Dellen. Die Werkzeuge – geordnet an der Wand über den Tischen aufgehängt – waren zwar nicht neu, aber in ausgezeichnetem Zustand. Eine richtige Hebebühne gab es nicht, dafür aber einen Schacht.

Eines Tages, als das Hoftor offen stand, hatte er neugierig hineingeschaut und mit zugegriffen, als die Männer einen schweren Wagen aus der Werkstatt schoben. Sie waren ins Gespräch gekommen, und er hatte ein-zwei Stunden geholfen. Daraus waren mehrere Tage geworden. Er ging ab und zu vorbei, wurde gebraucht oder auch nicht. Viel Geld konnten ihm die beiden nicht zahlen ( sie kamen selbst kaum über die Runden ), aber er bekam es sofort in bar. Offensichtlich lernte er schnell, denn sie beanstandeten seine Handreichungen selten. Viel gesprochen wurde ohnehin nicht.

Auch Sven und Richard wechselten untereinander nur wenige Worte und das nicht etwa deshalb, weil er dabei war. Es schien ihre Art zu sein. Sie schienen sich blind zu verstehen, weil einer dem anderen Werkzeuge reichte, bevor der überhaupt etwas geäußert hatte. So etwas wünschte er sich auch. Aber näher kam er den Männern nicht. Dass sie schwul waren, ahnte er, interessierte ihn aber nicht. Er erzählte kaum etwas von seinem Leben, sie fragten auch nicht danach. Dabei blieb es. Jetzt war er schon rund drei Wochen nicht dort gewesen. Und ein bisschen Geld konnte er halt immer gebrauchen, besonders seitdem er die Lehre geschmissen hatte.

Er stemmte sich aus dem alten zerschlissenen Sofa hoch, suchte seine Turnschuhe ( ein kostbares Paar weißer Nikes ) und zog seine Windjacke über. Tagsüber war es jetzt im April schon recht warm, abends aber eher nicht. Er ging in den Keller und trug vorsichtig sein Fahrrad, ein Rennrad der Marke Viking ( ein Vuelta ) vor die Tür. Prüfte kurz den Reifendruck. Das war gar nicht notwendig, das Rad war supergepflegt, der Reifendruck stimmte immer. Aber es war eben eine professionelle Geste, auch wenn sich niemand auf der Straße befand, der diese Handlung zu würdigen wusste. Ihm war sie wichtig. Er schloss den Reißverschluss seiner Jacke und schwang sich in den Sattel.

Er fuhr die Müllerstraße entlang in süd-östlicher Richtung. Es herrschte noch ziemlich viel Verkehr, aber doch nicht zu viel, so dass er sein gewohnt schnelles Tempo einhalten konnte, an den Autos vorbeischoss, jede Lücke ausnutzte. Das ärgerliche Hupen machte ihm Spaß. Dann streckte er ohne sich umzudrehen den Mittelfinger hoch. Die Autofahrer konnten hupen, so oft und so lange sie wollten, ihn aber nicht einholen. Sie konnten ihm gar nichts !

Am Leopoldplatz bog er rechts ab, folgte der Luxemburger und der Föhrer Straße, die schließlich in die Stromstraße überging, und erreichte den U-Bahnhof Turmstraße. Er hielt an. Links und rechts von ihm verbreiterte sich ein Grünstreifen zu einem kleinen Park. Bäume, Büsche, ein paar Bänke, Abfalleimer.

Er wandte sich nach links und fuhr langsam auf einem der Parkwege entlang. Hier und dort saß ein Mensch auf einer Bank und brummelte vor sich hin, betrunken. Nur wenige waren zu Fuß unterwegs und dann zu zweit. Er drehte um, fuhr die Strecke zum U-Bahnhof zurück und daran vorbei. Rechter Hand eine Kirche. Roter Backsteinbau. Eine Ampel. Bäume, Büsche, Parkbänke. Eine Frau allein. Er stieg ab und schloss sein Fahrrad rasch an einem Reklameschild an. Folgte der Frau, die einen kurzen Weg quer durch den Park nahm. Kein Mensch außer ihnen unterwegs. Er holte auf und sprach sie an. Sie antwortete nicht, drehte ihm nur kurz das Gesicht zu, ging schneller. Er war dicht neben ihr, legte von hinten rasch den linken Arm um den Hals, den rechten um ihren Körper und hielt sie fest. Sie versuchte, sich zu befreien, zappelte. Sie rangen. Sein Krafttraining machte sich bezahlt. Es machte ihm keine Mühe, sie festzuhalten, zumal sie schlank und kaum so groß war wie er. Sie rang nach Luft. Denn unwillkürlich hatte er fest zugedrückt. Auch ein wenig aus Angst, dass sie schreien könnte. Er ließ einen Moment locker ( sie schien aufzuatmen ) und zog sie dann mit einem Ruck zurück, so dass sie die Balance verlor und hinfiel.

In dem Moment erschien am anderen Ende des Weges ein Mann - auf einen Stock gestützt -, der einen Hund an der Leine führte.

»Was machen Sie denn da ?«, rief er. Der Dackel kläffte.

Benjamin ließ die Frau los und verschwand mit zwei Schritten in den Büschen, wartete einen Moment, aber als auf die Rufe des alten Mannes noch mehr Leute aufmerksam wurden, lief er zu seinem Rad, öffnete das Schloss und schoss davon.

Der Mann hatte der Frau inzwischen auf die Beine geholfen. Sie röchelte immer noch ein wenig.

»Wir müssen die Polizei rufen«, sagte er immer wieder.

Die Frau klopfte ihren Mantel ab, stellte fest, dass sie ihre Handtasche noch hatte, und wandte sich ihm zu.

»Ich weiß nicht recht«, sagte sie und strich sich die Haare hinter die Ohren, »es ist ja nichts weiter passiert.«

Ein Pärchen war stehen geblieben. Der Mann zog sein Handy aus der Tasche.

»Natürlich rufen wir die Polizei«, sagte er. Seine Frau sagte nichts.

Eine Streife erschien in wenigen Minuten.

Zu Hause stellte Benjamin fest, dass er seine teuren Nikes verschmutzt und zerkratzt hatte. Er setzte sich wieder auf das Sofa, stellte den Fernseher lauter, sah aber überhaupt nicht, was gezeigt wurde, und ließ sich den Ablauf durch den Kopf gehen.

Ein Park war schon mal günstig. Nicht zu viel Beleuchtung und spät abends nur wenig frequentiert. Kaum einsehbar. Allerdings konnte er nicht damit rechnen, dass eine Frau allein daherkäme. Und nur so konnte es funktionieren. Denn gegen zwei käme er nicht an. Es sei denn, es wären zwei Jugendliche, und er könnte den Jungen k.o. schlagen, würde damit aber riskieren, dass das Mädchen wie eine Irre kreischte.

Jetzt hatte er das Rad in der Nähe anschließen können. Das war richtig gewesen. Anschließen musste er es auf jeden Fall, aus Angst, es könnte gestohlen werden. Er musste aber sein Rad schnell wieder erreichen können, das Schloss aufschliessen ( das kostete Zeit ) und dann wäre er – wie vorhin – blitzschnell und leise verschwunden. Nicht aufzuhalten.

Dass die Frau oder der alte Mann ihn wieder erkennen würden, war nicht anzunehmen. Der Frau hatte er sich von hinten genähert, und der Alte war zu weit entfernt gewesen. Vielleicht konnte er ohnehin nicht mehr gut sehen. Außerdem hatte Halbdunkel geherrscht. Denn die Straßenlaternen standen weit entfernt, und die dicht belaubten Bäume nahmen Licht weg.

Oder wäre es besser, dicht an eine Frau heranzufahren, sein Rad hinzuwerfen ( das täte ihm in der Seele weh, aber so würde er nachher keine Zeit mit dem Öffnen des Schlosses verschwenden müssen ), sie zu ergreifen, versuchen sie zu küssen oder mehr ? Und wenn sie nicht tat, was er verlangte ? Müsste er ihr dann endgültig die Luft abdrücken ? Ja. Gar keine Frage. Damit sie ihn nicht wiedererkannte. Es war doch so einfach: Ein klein wenig mehr zudrücken. Dann verschwinden. Spuren würde es nicht geben. Was gäbe das für ein Aufsehen ! Er sah die Schlagzeilen der Bild-Zeitung förmlich vor sich: „Unbekannter Mörder schlägt zu !“ Und er würde gemütlich zu Hause auf dem Sofa sitzen, die Aufrufe im Fernsehen angucken und vor sich hin grinsen. Oder sich im Betrieb ( den es momentan zwar nicht gab ) gar nicht erst an den Vermutungen beteiligen, sondern sich total cool geben, ab und zu eine kurze Bemerkung machen, bei der die anderen aufhorchen würden. Wieso wusste der Kollege so gut Bescheid ?

Er lehnte sich zufrieden zurück. Dieses Machtgefühl war wieder da. Und es war so leicht zu befriedigen. Ein Test in dieser Richtung war schon mal richtig gewesen !

das Fahrrad der ewigen Stille

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