Читать книгу das Fahrrad der ewigen Stille - hedda fischer - Страница 11
Оглавление3 – Mutter Valentina
Benjamin wurde in die Möwensee-Schule eingeschult. Sie lag nicht weit von ihrer damaligen Wohnung in der Otawistraße entfernt. Zu Fuß - sogar mit seinen kleinen Füssen und den kurzen Beinen - in fünfzehn Minuten zu erreichen. Er war ja eher ein kleines Kind, klein, aber stämmig. Er war voller Vorfreude an ihrer Hand dorthin getrabt. Und die ersten zwei-drei Jahre ließen sich auch gut an. Er war aufmerksam, kam gut mit. Doch irgendwann kam er mit den anderen Jungs nicht mehr zurecht. Warum, wusste sie nicht. Er wurde aggressiv und schlug um sich, wenn sie ihn ärgerten, und dann hänselten sie ihn noch mehr. Allein gegen mehrere konnte er sich nicht wehren. Einen richtigen Freund hatte er ab der dritten Klasse nicht mehr, da der einzige, Lars Meyer, mit seiner Familie in einen anderen Bezirk gezogen war. Vater Meyer, das war auch so einer, von einem Job in den nächsten. Aber diesmal schien es etwas Besseres zu sein. Denn sie zogen nach Wilmersdorf, eine recht feine Gegend, nicht so fein wie Zehlendorf oder Charlottenburg, aber zumindest feiner als Wedding. Und unendlich weit weg. Zumindest für kleine Jungen.
Danach konnte sich Benjamin mit keinem anderen mehr anfreunden. Er wurde auch nicht zu Geburtstagen eingeladen. Kinder können sehr grausam sein.
Mit Mädchen ging es besser. Mit denen konnte er reden und spielen. Und wenn sie ihn akzeptierten, machte es ihm nichts aus, dass die anderen Jungen ihn belächelten. Bei den Mädchen war er der Star, weil er mehr Kraft hatte, wenn es darum ging, einen Ball zu werfen, auf einen Baum zu klettern, ohne sich darum zu kümmern, ob die Kleidung verschmutzt oder zerrissen wurde, Papierkörbe umzuwerfen, ohne die Strafe zu fürchten beziehungsweise sie mit einem Achselzucken abzutun. Entsetzlich, wie er manchmal nach Hause kam ! Aber sie war froh, dass er überhaupt mit anderen unterwegs war.
Er war ohnehin erwachsener als andere Kinder, weil er schon mit sechs-acht Jahren viel allein war ( sie ging ja immer arbeiten ), einkaufen gehen musste, einen eigenen Schlüssel besaß, sein Leben zum Teil selbst bestimmte. Sich auch erwachsen fühlte, wenn sie mit ihm wie mit einem Erwachsenen sprach. Er versuchte, es ihr recht zu machen, was nicht immer gelang. Sie wusste durchaus, dass er komplette Nachmittage vor dem Fernseher herumhing, anstatt seine Hausaufgaben zu erledigen, konnte allerdings nichts dagegen tun. Oder er vergaß, einkaufen zu gehen, obwohl sie ihm einen Einkaufszettel und Geld hingelegt hatte. Erst viel später erfuhr sie, dass er es nicht vergessen, sondern sich in die Wohnung geflüchtet hatte, wenn er von den Zwillingen verfolgt wurde und sich nicht wieder hinaus traute, aber nicht wagte, ihr das zu gestehen.
Und sie schimpfte auch noch mit ihm. Er wollte nicht, dass sie sich einmischte. Das hätte ausgesehen, als ob er ein Muttersöhnchen wäre. Und das war er ganz sicher nicht.
Natürlich berührte sie ihn, wenn sie ihn badete. Und das tat sie lange Zeit. Denn auch wenn er allein in die Wanne kletterte, freute er sich, wenn sie das Badezimmer betrat, ihn einseifte, überall. Ihr machte es Spaß und auch ihm schien es Spaß zu machen. Seine weiche Haut. Sein kleiner Penis, der sich erfreut aufrichtete.
Im Großen und Ganzen kam er gut allein zurecht, würde sie sagen.
Ihre Mutter war nicht dieser Ansicht. Man könne ein so kleines Kind nicht dauernd allein lassen, bekam sie oft zu hören. Aber er war gar nicht so viel allein. Allenfalls an den Abenden, an denen sie arbeiten gehen musste.
Schulisch gesehen hatte er sich letztendlich doch angestrengt und war mit elf Jahren ins Lessing-Gymnasium gewechselt. Auch dort war er nicht der beliebteste. Woran es lag ? Das wusste sie nicht. Es war ja nicht der Fall, dass er unfreundlich zu den Klassenkameraden gewesen wäre, dass er nichts auslieh, dass er unsportlich war. Nein, er kam aus einer anderen Schicht, obwohl der Bezirk Wedding nicht gerade mit wohlhabenden Leuten gesegnet war. Aber er hatte weniger Taschengeld als die anderen. Das war aufgrund ihres Gehaltes so. Sie ließen es ihn spüren. Wobei durchaus unklar war, weshalb die anderen mehr Taschengeld hatten. Auch andere Eltern waren nicht gerade gut gestellt. Wurde da geklaut ? Heimlich Geld aus dem Portemonnaie der Mutter genommen ?
So nach und nach passte er im Unterricht weniger auf, hörte nicht zu, begriff den Stoff nicht mehr. Sie merkte das erst viel später. Bei den wirklich guten Klassenkameraden nachzufragen traute er sich nicht. Einer wohnte in ihrer Straße, dieser Noah. Denn zu diesem Zeitpunkt waren sie schon in die Cambridger Straße umgezogen. Eigentlich hätten die beiden zusammen zur Schule und nach Hause gehen können. Aber das geschah selten. Sie gingen oft nur hintereinander her. Vielleicht lag es auch an Noahs Familie. War ja auch nicht das Wahre ! Der Vater kellnerte in dem Restaurant des Kaufhauses Wertheim in der Schlossstraße. Sechs Tage die Woche. Zumindest kam er abends nach Hause und musste nicht - wie andere - die halbe Nacht arbeiten und vielleicht noch mit Kollegen einen trinken gehen. Seine Mutter ? Sie wusste es nicht.
Sie sagte oft zu ihm
»Nun lade doch mal einen von deinen neuen Klassenkameraden ein.«
Darauf antwortete er gar nicht. Sie wusste nie warum.
Das änderte sich eines Mittwochs ( sie stand gerade auf dem Balkon ), als die Zwillinge aus der dritten Etage Noah in die Zange nahmen und versuchten, ihm seinen Schulrucksack zu entreißen. Noah wehrte sich. Sie boxten ihn, und sie waren zu zweit. Benjamin sah es auch, zögerte nur einen winzigen Moment und rannte hinzu. Schlug auf einen der beiden ein, sie wusste nicht, ob es Moritz oder Kai war, sie konnte die beiden ohnehin nicht auseinanderhalten. War ja auch egal.
Nach kurzer Zeit ließen die Jungen voneinander ab, keiner hatte gewonnen, aber die Angreifer hatten zumindest den Rucksack nicht entwenden können. Schwer atmend blieben sie stehen und sahen sich an. Die Zwillinge wechselten einen Blick, sagten im Weggehen zu Benjamin etwas. Später erzählte er, dass sie ihm gedroht hatten.
»Pass auf, wenn wir dich allein erwischen …«
Sie fragte nach, aber der Sohn winkte ab.
Damit würde er schon fertig, sagte er.