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6 – Benjamin ( 16 Jahre )

Er ging der Frau hinterher. Sie ging die Cambridger Straße hinunter. Es war kurz vor 23 Uhr. Mai. Nur leicht kühl und windig.

Er war gerade aus der U-Bahn gestiegen, die Treppe hoch gegangen und hatte die Frau am Kiosk stehen sehen. Er hatte sich neben sie gestellt und eine Cola gekauft. Sie angesprochen. Sie hatte sich ihm zugewandt, ihn einen Moment lang gemustert und sich dann mit einem gemurmelten »Schon gut, Junge« abgewandt, ihr belegtes Brötchen eingesteckt und war gegangen. Hielt sie ihn für jünger als er war ? Schließlich war er 16, sah allerdings jünger aus, was vermutlich an der Größe von eins zweiundsiebzig und an dem nur leichten Bartwuchs lag. Jedenfalls hatte er sich geärgert.

Warum nahm ihn denn niemand für voll ?

Er sah ihr nach und folgte ihr dann langsam. Sie ging ziemlich schnell, drehte sich aber nicht um. Man hörte ihre Absätze auf dem Pflaster, seine Schritte aber nicht. Er trug Turnschuhe. Schließlich bog sie nach rechts in die Belfaster Straße ein und überquerte den Fahrdamm. Dort fingen die Laubenpieper-Kolonien an, die sich um diese Jahreszeit langsam bevölkerten. An sich war es zum Übernachten in den Hütten noch zu kalt, und er fragte sich, was sie dort wollte. Sie betrat die Kolonie Berg und Tal, eilte die Stufen hinunter, wandte sich nach rechts.

Er blieb im Schatten einer Hecke. Schließlich hielt sie vor einem Gartentor – der Nummer 17 – an, sah sich kurz um und zog einen Schlüssel aus der Tasche. Zwei-drei schnelle Schritte. Dann war er neben ihr.

»Wieso haben Sie mich abgewiesen ?«, fragte er, »ich wollte doch nur mit Ihnen reden …«

»Aber ich nicht«, sagte sie, »ich habe keine Zeit für kleine Jungs.«

»Ich bin fast 17«, sagte er.

»Wie auch immer«, sagte sie und schloss die Tür auf, »gute Nacht.«

Sie stand vor dem geöffneten Gartentor, hatte den Türgriff in der linken Hand, den Schlüssel in der anderen, die Handtasche über der Schulter. Er ergriff ihren Arm und versuchte, sie festzuhalten. Sie wehrte sich. Sie war erstaunlich kräftig. Dabei war sie einen halben Kopf kleiner als er und etwas mollig, so wie seine Mutter. Auch so blond wie seine Mutter. Vielleicht war sie ihm deshalb aufgefallen. Er umfasste sie rasch von hinten mit beiden Armen, drückte sie fest an sich und so aneinander gepresst schoben sie sich durch das kleine Tor. Sie wehrte sich immer noch. Trat nach ihm. Fing an, ihn zu beschimpfen. Sie schrie allerdings nicht.

Er legte einen Arm um ihren Hals. Als sie weiter zappelte, drückte er zu. Sie wurde ruhiger. Ein Gefühl der Macht ! Ein unglaubliches Gefühl ! Er drückte noch ein wenig fester. Sie fing an zu keuchen. Noch ein wenig mehr Druck. Auf einmal wurde sie schlaff. Er erschrak. Ließ sie vorsichtig auf den Boden gleiten. War sie tot ? Nein, sie atmete noch. Er verließ rasch das Grundstück und wartete ein paar Schritte weiter im schwarzen Schatten eines Baumes. Dann hörte er, wie sie sich bewegte, der Kies knisterte, sie krächzte, hustete. Also war sie wirklich am Leben.

Er entfernte sich rasch, lautlos, erleichtert.

Doch dieses Wahnsinns-Gefühl der Macht blieb, und die Erinnerung daran verließ ihn auch die nächsten Tage und Wochen nicht.

das Fahrrad der ewigen Stille

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