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4 – Benjamin ( 12 Jahre )

Noah und er wischten sich nach der Prügelei verlegen die Hände an den Jeans ab, räusperten sich und gingen schweigend die paar Schritte weiter bis zu dem Block, in dem Noah mit seiner Familie wohnte.

»Komm mit ’rein«, sagte der kurz.

Benjamin nickte und folgte ihm. Die Wegners wohnten in der ersten Etage, in der sich die größeren Wohnungen befanden. Auch Noah hatte einen eigenen Schlüssel. Er schloss auf und rief:

»Ich bin da.«

Eine alte Frau erschien in der Küchentür. Noah gab ihr einen Kuss auf die Wange. War das die Mutter ? Nein, es war die Oma. Er wurde kurz vorgestellt. Noah winkte ihn in sein Zimmer, ging dann in die Küche und holte zwei eiskalte Colas. Sie setzten sich, Noah auf das Bett, Benjamin auf den Schreibtischstuhl. Sie schwiegen einen Moment.

»Kennst du die beiden ?«

»Ja«, sagte Benjamin, »sie wohnen in meinem Block im dritten Stock. Ich sehe sie nicht so oft, sie gehen auf eine andere Schule, aber sie versuchen immer wieder, mich zu beklauen.«

Ein Moment Pause. Dann setzte er hinzu:

»Aber sie schaffen es nicht.«

Das stimmte nicht ganz, aber er wollte nicht zugeben, dass er meist der Unterlegene war. Er hatte Kraft und konnte zuschlagen, aber gegen zwei kam er nicht an, schon gar nicht, wenn sie ihn unglücklicherweise in eine Haus- oder Park-Ecke gedrängt hatten.

Von dem Tag an gingen sie ab und zu zusammen von der Schule bis in die Cambridger Straße. Für ihn fühlte es sich so an, als ob sie befreundet wären. Er trödelte oft herum, um auf Noah zu warten. Aber der unterhielt sich mit Klassenkameraden, zog Benjamin nicht mit ins Gespräch, ging einen anderen Weg oder spielte gleich nach der Schule beim BSC Rehberge Fußball. Der Club lag in der Afrikanischen Straße, nicht weit von Schule und Wohnung entfernt. Benjamin war einmal dorthin gegangen, hatte so getan, als wäre er zufällig vorbeigekommen und eigentlich hatte er mitspielen wollen. Der Trainer hatte gefragt, ob er Mitglied wäre und als er das verneinte, ob er Mitglied werden wolle … Er hatte die Schultern gehoben. Sich nicht getraut, nach der Beitragshöhe zu fragen. Getan, als ob es ihm egal wäre, ob er nun mitmachen durfte oder nicht. Dabei wünschte er es sich. Wünschte sich, irgendwo dazu zu gehören. Sich mit anderen auszutauschen. Freunde zu haben.

Einen Sonnabendnachmittag waren Noah und Benjamin zum Olympia-Stadion gefahren. Das hatte sich eher zufällig ergeben, denn er hatte Taschengeld bekommen – diesmal reichlich, was damit zusammenhing, dass seine Mutter ihn aus dem Weg haben wollte, weil sie einen neuen Bekannten mitbringen wollte.

Ihm war die Sache sofort klar gewesen. Denn diese Situation kannte er seit Jahren. Wenn seine Mutter freundlich und aufmerksam war, mit ihm neue Kleidung kaufen ging, sich überhaupt für ihn interessierte, dann stand ein neuer Mann ins Haus. Sie trank dann nicht viel, nur eben so viel, um bei Laune zu bleiben. Sie ging zum Friseur, um sich die Haare schneiden zu lassen. Sie kochte. Die Wohnung wurde geputzt. Sie tat alles, was richtige Mütter eben so tun.

Er hatte im Vorübergehen auf Plakaten gelesen, dass das Olympia-Stadion einen Tag der Offenen Tür veranstaltete, an dem man sich alles ansehen konnte und an dem Sportvereine Informationstische aufstellen würden. Also waren Noah und er Sonnabendmittag zum Stadion gefahren. Man brauchte zwar noch eine Jacke, aber eine Jeansjacke reichte, die Sonne schien. Sie waren ausgezeichneter Stimmung, redeten laut, sogar Noah, der sonst eher der ruhige Typ war. Sie blödelten herum, lästerten über die Mitfahrenden in der U-Bahn, fühlten sich stark und unangreifbar.

Die verschiedensten Vereine hatten Tische aufgestellt, Flyer ausgelegt, Landkarten aufgehängt, Vereinserfolge aufgelistet. Da gab alles: Fußball, Handball, Tischtennis, Radfahren, Tennis, Hockey, Basketball, Leichtathletik, sogar Voltigieren … einfach alles ! An jedem Stand waren Mitglieder, Trainer und junge Leute zugange, die Fragen beantworteten und neue Mitglieder anlocken wollten.

Noah und Benjamin schlenderten herum. Tennis kam gar nicht in Frage, zu teuer. Und all diese feinen Clubs, da hätten sie gar nicht gewusst, wie sie sich benehmen sollten. Tischtennis ? Nein, dieses schnelle Hin- und Herspringen lag beiden nicht, hinzu kam, dass Benjamin Muskelmasse hatte und sich nicht schnell bewegte. Langsam war einfach cooler. Für Basketball waren beide zu klein. Hockey – egal ob Rasen- oder Eishockey – kam auch nicht so recht in Frage. Außerdem hatte er noch nie Schlittschuhe an den Füssen gehabt. Und bei Noah herrschte auch nicht so ein Wohlstand, dass er eine Beteiligung ins Auge gefasst hätte. Voltigieren ? Noah sah sich die Informationen genau an. Nein, für Benjamin war das nichts. Das machten nur kleine Mädchen.

»Wo willst du denn das Pferd hintun ?« fragte er grinsend, »auf den Balkon ?«

»Ich hätte gern eins«, sagte Noah.

Benjamin sah ihn überrascht an. Das hatte nachdenklich geklungen.

»Wäre schön, so ein Tier«, sagte Noah, ein wenig verlegen. Er sah ihn nicht an, sondern guckte in der Gegend herum.

»Naja«, sagte Benjamin zögernd, »aber ein Pferd ? Nimm doch einen Hund.«

»Geht auch nicht«, sagte Noah, »wo soll der tagsüber bleiben ? Meine Eltern arbeiten, ich gehe zur Schule, und Oma kann nicht gut laufen.«

Ein Moment des Schweigens.

»Aber ich hätte schon gern ein Tier …«

Sie schlenderten schweigend weiter, kamen an den Stand des Radsportvereins RC Charlottenburg. Dort standen keine anderen Leute, daher konnten sie die ausgelegten Informationen in aller Ruhe in Augenschein nehmen. Es stellte sich heraus, dass Jungen jeden Alters mitmachen konnten, besser gesagt mindestens fünf Jahre alt sollte man schon sein. Wer kein Fahrrad besaß und sich auch keins leisten konnte, bekam erst einmal eins gestellt, das er allerdings nicht mit nach Hause nehmen durfte, weil es von mehreren Jungen benutzt werden musste. So viel Material hatte der Club nun auch nicht zur Verfügung.

Sie durften verschiedene Fahrräder ausprobieren. Der Trainer sah zu. Benjamin fühlte sich beschwingt wie schon lange nicht mehr. Ein Fahrrad hatte er nur in frühen Jahren besessen, das letzte stand wahrscheinlich - ihm längst zu klein geworden - noch im Keller. Hier gab es neue Modelle. Leicht und leichtgängig, obwohl es sicher nicht die teuersten waren.

Er war begeistert. Ließ sich die Gänge erklären, fuhr eine weitere Runde, wechselte auf eine andere Bauart, eine andere Marke. Er besprach sich mit dem Trainer, einem etwa 30jährigen Mann, der sich als Otmar Grisebach vorgestellt hatte ( »sagt einfach Otmar zu mir« ), ließ sich genau erklären, wie richtiges Training vor sich ging. Was er tun musste. Tun sollte.

Otmar hatte seine Begeisterung sofort erkannt. Er besah sich seine Statur, ahnte, dass er Krafttraining gemacht hatte. Davon zeugten seine Schulter- und Armmuskeln. Nachwuchs konnte der Club gut gebrauchen. Sie verabredeten sich für den kommenden Sonnabendnachmittag, damit sie die näheren Einzelheiten besprechen konnten. Er machte sich vergnügt auf den Rückweg. Endlich hatte er eine Sportart gefunden, die ihn interessierte, die er ausüben konnte. Allein ausüben konnte. Sich nicht anderen anpassen musste, wie zum Beispiel beim Fußball, wo es ja darauf ankam, Teamgeist zu entwickeln, nicht alles allein machen zu wollen, sondern mitzuspielen. In dem Moment war ihm allerdings nicht klar, dass er auch beim Radfahren mit andern zusammenarbeiten musste. Sicher anfangs, wenn er noch nicht der große Star war.

Auf der Rückfahrt in der U-Bahn sprachen sie ausführlich darüber, und Benjamin konnte Noah überzeugen, dass der es auch unbedingt probieren müsste. Allein wäre er zwar auch hingegangen, aber mit Noah zusammen wäre alles viel besser.

Noah zögerte. Er fühlte sich in der Fußballjugend beim BSC Rehberge als Rechtsverteidiger oder Mittelfeldspieler wohl. An sich wollte er lieber als Stürmer spielen, aber da hatte er keine Chance. Es gab zu viele, die diese Position ausfüllen konnten. Letztendlich entschloss er sich, am nächsten Sonnabend einfach mal mitzugehen.

Benjamin war begeistert. Endlich ein Freund ! Einer, der mit ihm zusammen Sport machen würde, der ihm vielleicht auch bei den Hausaufgaben helfen könnte. Er entwickelte sofort Pläne: Jeden Tag zusammen sein, Schule und Sport. Vielleicht auch mal eine Reise – später, wenn er Geld verdient hätte. A propos Geld: Er musste jetzt ernsthaft Geld verdienen. Beitrag für den Verein. Ein Fahrrad. Das einzige, was in Frage kam: Zeitungen austragen. Allerdings wusste er nicht, wie er an diesen Job kommen konnte. Noah wusste Bescheid. Für den Bezirk Wedding kam an sich nur die Berliner Morgenpost in Frage. Den Tagesspiegel las hier kaum einer, und die Bildzeitung kauften sich morgens alle selber auf dem Weg zur Arbeit.

Also machten sie sich drei Tage später zu Fuß auf den Weg in die Thyssenstraße in Wittenau. Dort befand sich die Zustellagentur, die die Leute einteilte. An sich hätte er erst einmal seine Daten angeben und ein Vorstellungsgespräch führen müssen. Aber nach einigem Hin- und Her-Telefonieren kam die Sache in Gang, was hauptsächlich daran lag, dass sie wieder einmal knapp an Austrägern waren. Sie hielten ihn für zu jung. Aber er bekam dann doch probeweise den Job, musste eine komplette Woche mit einem Partner mitgehen, der die Kunden kannte. Das hieß, um halb vier Uhr aufstehen, zur Ablagestelle gehen, die Zeitungspakete annehmen, auf einen Bollerwagen laden und sich auf den Weg machen.

Die Runde dauerte mehr oder weniger anderthalb Stunden. Dafür bekam er in der ersten Woche nur ein Taschengeld, dann aber einen Stundenlohn von 4,15 Euro. Hochgerechnet hieß das, dass er pro Woche über 40 Euro bekommen würde, pro Monat gut 170 Euro, eine Riesensumme. Er fühlte sich als Millionär und sah unendliche Möglichkeiten. Warum war er nicht schon früher darauf gekommen ? In Kauf nehmen müsste er allerdings das tägliche frühe Aufstehen, da er die Runde für die Abonnenten sehr früh und für sich vor der Schule erledigen musste. Aber dazu fühlte er sich durchaus imstande.

Sonnabend am frühen Nachmittag machten sie sich auf den Weg zu dem Fahrradclub. Er hatte den Tag kaum erwarten können. Otmar nahm sie in Empfang, führte sie herum, stellte sie den anderen vor und erklärte die Abläufe. Kinder fuhren auf kleinen Fahrrädern auf dem Platz vor dem Clubhaus in Schlangenlinien um orangefarbene Hütchen herum.

Lächerlich ! Sie waren ja schon älter, würden das wohl kaum machen müssen. Er irrte sich. Sie bekamen Helme angepasst, die Fahrräder wurden auf die richtige Höhe eingestellt, und dann ging es los. Erst einmal mehrmals rund um den Platz, dann enge Kreise, dann doch um die Hütchen, erst rechts herum, dann links herum. Otmar beobachtete genau.

Was sie sich vorstellten, wurden sie gefragt.

Er hatte sich die Antwort vorher genau überlegt:

»Ich will Radrennfahrer werden«, sagte er.

»Da wirst du viel trainieren müssen«, antwortete Otmar, »sowohl im Fahren als auch mit Krafttraining.«

»Das macht mir nichts aus«, sagte Benjamin, zog wie zufällig sein Sweatshirt aus und präsentierte seine Oberarmmuskeln. Die waren nicht so ohne, die konnte er zeigen. Angegriffen hatte ihn schon lange keiner mehr. Sie wussten alle, was ihnen dann blühte.

»Gut«, sagte Otmar und wandte sich Noah zu.

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