Читать книгу Mach's dir leicht, sonst macht's dir keiner - Heidi Wahl - Страница 13
Mimese, die Kunst der Tarnung
ОглавлениеDass am Ende der Entwicklungskette, also der von Experten so genannten Metamorphose, tatsächlich ein Schmetterling aus dem Kokon schlüpft, klappt nur im günstigsten Fall. Im Botanischen Garten stehen die Chancen gut – bei optimalen Temperaturen und ohne hungrige Fressfeinde. In freier Wildbahn sind Schmetterlinge hingegen für Vögel, Fledermäuse, Wespen und Fliegen ein Leckerbissen. Um nicht gefressen zu werden, haben sich Schmetterlingsraupen verschiedene Abwehrmechanismen angeeignet: Sie imitieren giftige und gefährliche Tiere, Mimikry (Warntracht) ist dazu der Fachbegriff. Tagpfauenauge und Nachtpfauenauge etwa haben Augenflecke auf ihren Flügeln. Die angedeuteten Tieraugen verwirren Räuber dermaßen, dass sie an der falschen Stelle zubeißen. Schwalbenschwänze sind noch raffinierter: mit ihren zwei Augenflecken plus entsprechender Körperhaltung führen sie ihre Fressfeinde erfolgreich in die Irre.
Wiederum andere Schmetterlinge imitieren Blätter, Zweige, welkes Laub oder gar Vogelkot (Mimese). Einige Arten wehren sich mit Dornen, die bei Berührung Gift abgeben, oder mit starker Behaarung. Beispielsweise haben die Raupen des Eichen-Prozessionsspinners über 600.000 giftige Härchen, die bei Menschen Allergien auslösen können. Dazu ist nicht einmal direkter Hautkontakt nötig. Es reicht, wenn man unter befallenen Bäumen die Picknickdecke ausbreitet. Das könnte des Rätsels Lösung sein, falls Sie sich schon mal gefragt haben, warum Ihre Unterarme nach einer Brotzeit im Grünen so jucken.
Schmetterlinge (wissenschaftlich Lepidoptera, also Schuppenflügler) sind Experten in Sachen Tarnung, Täuschung und Abwehr. Ohne diese Fähigkeiten wären sie im täglichen Überlebenskampf aufgeschmissen. Das ist bei uns Menschen ganz ähnlich. Okay, man kann drüber diskutieren, ob erwachsene Männer tatsächlich in grün-beigen Tarnanzügen ihren Hobbys (Jagen, Fischen, Grillen) nachgehen sollten. Nichtsdestotrotz: Tarnen, täuschen und sich wehren, ist auch für die Spezies Homo Sapiens wichtig. Im Sinne von sich selbst schützen und sich abgrenzen. Denn nicht immer sind wir physisch und mental in der Lage, den »Überlebenskampf« im beruflichen oder privaten Alltag zu führen. Wenn es schon kein Tarnmäntelchen gibt für unwegsame Situationen mit Chef, Kollege oder Freundin, dann hilft manchmal die Ohren auf Durchzug stellen und ein klares »Nein«.
Zugegebenermaßen gehört dazu ein wenig Mut. Den Mut zu haben, das zu tun, was einem selbst guttut. Es ist manchmal gar nicht so einfach, sein eigenes Leben zu leben. Und zwar in erster Linie deshalb, weil wir uns vor dem fürchten, was andere von uns denken (könnten) und was sie über uns reden (könnten). Und weil wir, wenn wir anders sind als die anderen und uns anders als üblich oder der Norm widersprechend verhalten, vielleicht nicht mehr dazugehören. Uns ausgeschlossen fühlen aus der Gemeinschaft. Eine Urangst, die ihren Ausgangspunkt in der Steinzeit hat. Allein hatte man eben damals keine Chance gegen Säbelzahntiger und Co. Nur in der Gruppe war Überleben möglich. Das Erstaunliche daran: Wenn heute der Chef ins Büro kommt oder Kunde XY anruft, passiert in unserem Reptilienhirn dasselbe wie vor 100 000 Jahren: Wir geraten unter Druck, der Körper wird von Stresshormonen durchflutet und unser Hirn wird praktisch abgeschaltet. Es funktionieren dann nur noch die alten Muster Flucht oder Kampf. Im Büroalltag kommt dann ein mürrisches, knappes »Weiß ich doch nicht, wer für dieses Thema zuständig ist!« (Kampfmodus) oder ein »Ja gut, mach ich halt auch noch«. Was nichts anderes ist als ein modernes Fluchtverhalten, ein Ausweichen, wenn eigentlich ein klärendes Gespräch mit dem Gegenüber angesagt wäre.
Denn wer eine eindeutige Ansicht und eine klare Absicht hat und sich dementsprechend verhält, stößt bei seinen Mitmenschen nicht immer auf Verständnis. Das kennen Sie sicher von sich und Ihrer Familie oder Ihrem Bekanntenkreis. Mir geht es nicht anders, keine Sorge! Ein Beispiel aus meinem reichhaltigen Fundus: Einer Freundin von mir blieb bei einem Biergartenbesuch fast der Strohhalm vom Sprizz Aperol im Hals stecken. Wir hatten uns über einen gemeinsamen Kollegen unterhalten, der wirklich sehr nett ist, aber auch super anstrengend. Bei der Gelegenheit gab ich meine Entscheidung zum Besten, dass ich mich schon seit geraumer Zeit privat nur noch mit Leuten treffe, die mir guttun und auf die ich Lust habe. Und dass zu diesen Menschen eben besagter Kollege nicht gehöre. Das führte bei meiner Freundin erst zu Schnappatmung und dann zur Frage: »Das traust du dich? Das kann man doch nicht machen!« Doch. Man kann. Nicht immer, aber immer öfter. Voraussetzung: Sätze mit eindeutiger Aussage, aber sozialverträglichen Formulierungen und ein gutes Gespür für die eigenen Bedürfnisse. Insbesondere für Ruhe und Entspannung. Denn wer ständig »nein« denkt und dann doch »ja« sagt, also Bitten von Mitmenschen nicht abschlagen kann, endet im schlimmsten Fall in einem Burnout. Und vielleicht kennen Sie den Spruch »Everybody’s darling is everbody’s depp«. Meine Freundin hat das inzwischen auch festgestellt und traut sich nun manchmal bei der Arbeit, nein zu sagen. Ein Lern- und Entwicklungsprozess. Die Folge: weniger Überstunden und ein besseres Gefühl.