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1.2 Wahrheit des Verifizierbaren: Naturwissenschaftliche Vernunft

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Trotz der Blütezeit des historischen Denkens im 19. Jh. geriet es Anfang des 20. Jh. in eine Krise, welche sich aus der Kritik an der Unsicherheit historischer Aussagen ergab. Immer „deutlicher zeigte sich, dass es das reine Faktum und seine unerschütterliche Sicherheit gar nicht gibt, dass auch im Faktum jedes Mal noch das Deuten und seine Zweideutigkeit enthalten sind. Immer weniger konnte man sich verbergen, dass man abermals nicht jene Gewissheit in Händen hielt, die man sich zunächst, in der Abwendung von der Spekulation, von der Tatsachenforschung versprochen hatte.“10 Der Grund für diesen defizitären Gewissheitsgrad historischer Tatsachen liegt in ihrer Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit. Denn historische Ereignisse liegen in der Vergangenheit und sind trotz aller Quellen und Belege dem Menschen nicht mehr vollends zugänglich.

Diese Einsicht führt nach Ratzinger bald zur Überzeugung, dass dem Menschen zu guter Letzt nur das wirklich erkennbar ist, was beliebig oft wiederholbar ist.11 So erscheint nun die „naturwissenschaftliche Methode, die sich aus der Verbindung von Mathematik … und Zuwendung zur Faktizität in der Form des wiederholbaren Experiments ergibt, als der einzig wirkliche Träger zuverlässiger Gewissheit.“12 Denn die empirische Methode der Naturwissenschaft zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie ein Versuchsergebnis nur dann als wahr gelten lässt, wenn es sich beliebig oft durch Wiederholung des gleichen Experiments belegen lässt.

Der große Vorteil von auf diesem Wege gewonnenen naturwissenschaftlichen Gewissheiten besteht in ihrer Unabhängigkeit von der Geschichte. Denn auch wenn naturwissenschaftliche Einsichten „in ihrem Entstehen ohne Zweifel an bestimmte geistesgeschichtliche Voraussetzungen gebunden“13 sind, so kommt ihnen doch auch unabhängig von diesen Voraussetzungen Gültigkeit zu. „Die Ergebnisse streifen ihre geschichtlichen Voraussetzungen ab und bilden zusammen den festen Bestand eines allmählich wachsenden Wissens, in dem die Summe fester Daten von Pythagoras bis Einstein beständig zunimmt und als selbstständiges geistiges Gefüge der naturwissenschaftlichen Forschung zuhanden ist. Die Geschichte, in der sich der jeweilige Gedanke ausbildet, gehört nicht in den Gedanken mit hinein; sie ist für den Gedanken nicht Geschichte, sondern nur Vorgeschichte. Der Naturwissenschaftler bedarf ihrer nicht.“14

Die in der Neuzeit einsetzende Konzentration des menschlichen Denkens auf das im Experiment Verifizierbare bzw. Falsifizierbare hat wie das historische Denken tief greifende Auswirkungen auf das Weltbild des Menschen: Wenn ‚Welt‘ ihm bis dahin als metaphysisches System vor Augen schwebte, das ihm „gleichsam greifbar in der Hierarchie der Sphären“ war, „die vom Untersten und Dumpfsten, der Erde, zu immer Geistigerem und Höherem und schließlich zum reinen Licht, zum Beweger des Alls hinführte“15, so zog nun die naturwissenschaftliche Methode unweigerlich eine ‚Verweltlichung‘ der Welt nach sich: „Die Welt verliert ihre metaphysischen Ränder, wo immer man vorstoßen kann, erscheint sie nur als Welt. Was bisher Himmel gewesen war, enthüllt sich nun als Welt, die rundum von gleicher Beschaffenheit ist, in der es kein Oben und kein Unten, sondern allenthalben nur die gleiche Struktur der Materie mit den gleichen überall wirkenden Gesetzen gibt … – alles ist eben nur ‚Welt‘.“16 Die Dinge werden von der Naturwissenschaft also nur noch in ihrer Weltlichkeit, ihrer Eigenlogik betrachtet, nicht mehr in ihrem möglichen Verweischarakter auf eine höher liegende und durch sie hindurch zu begreifende Wirklichkeit. An die Stelle der metaphysischen Weltordnung tritt die physikalische Kausalordnung: Die Welt wird erklärbar und verliert ihren Geheimnischarakter.17

Diese Beschränkung auf das Eigensein der Dinge hat zur Folge, dass der Bezug des Menschen zu einer göttlichen Vernunft, in der die Dinge ihren Ursprung haben, innerhalb der naturwissenschaftlichen Methode nicht in den Blick kommen kann. „Da Gott nicht beobachtbar im Sinn des wiederholbaren Experiments und nicht berechenbar im Sinn mathematischer Theorie ist, kann er innerhalb dieser Methode nicht vorkommen – das ist von ihrem Wesen her unmöglich.“18 Ein Denken, das einen göttlichen Logos als Grund aller Dinge zu seiner Voraussetzung macht, widerspricht deshalb Ratzinger zufolge der methodischen Zucht der Naturwissenschaften und muss daher als unwissenschaftlich gelten. „Der Logos, die Weisheit, wovon die Griechen einerseits, Israel andererseits geredet haben, ist in die materielle Welt zurückgenommen und außerhalb ihrer nicht mehr diskutabel.“19 Die Wahrheitsfrage im philosophischen Sinne ist für die Naturwissenschaft nicht von Bedeutung; sie ist ihr „von ihrem Wesen her ganz fremd.“20 Denn die Wirklichkeit ist für die Naturwissenschaft nur noch „von den immerwährenden Gesetzen der Natur beherrschter Kosmos, der letzten Endes eben nicht weitere Hypothesen und Fragen notwendig macht, sondern aus sich und in sich ist und nichts außer sich braucht.“21

Aus diesem Grund kann es nach Ratzinger zu einem kritischen Verhältnis von Glaube einerseits und naturwissenschaftlicher Vernunft und ihrer Methode andererseits kommen, nämlich dann, wenn „aus der positivistischen Methode und ihrer notwendigen methodischen Beschränkung eine positivistische Weltanschauung wird, die nur noch das als Wirklichkeit akzeptiert, was dieser Methode zugänglich ist und so die methodische Beschränkung in eine grundsätzliche verkehrt.“22 Die Versuchung einer solchen Einschränkung des menschlichen Vernunftvermögens auf die naturwissenschaftliche Vernunft scheint Ratzinger in der Neuzeit eine fast unüberwindbare Versuchung zu sein. Er bezeichnet sie als eine „Beschränkung auf das Erscheinende“, mit der sich „im neuzeitlichen Denken und Existieren allmählich ein neuer Begriff von Wahrheit und Wirklichkeit herausgebildet [hat; H. N.], der meistens unbewusst als die Voraussetzung unseres Denkens und Redens waltet“23. Einen Grund dafür sieht er in den großen Erfolgen der naturwissenschaftlichen Methode, der keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen. „Die Naturwissenschaft hat große Dimensionen der Vernunft erschlossen, die uns bisher nicht eröffnet waren, und uns dadurch neue Erkenntnisse vermittelt. Aber in der Freude über die Größe ihrer Entdeckung tendiert sie dazu, uns Dimensionen der Vernunft wegzunehmen, die wir weiterhin brauchen.“24

Weiterhin liegt diese Selbstbeschränkung der menschlichen Vernunft auf die Naturwissenschaft darin begründet, „dass gegenüber der Form von Gewissheit und auch von messbarer Nützlichkeit, die hier erreicht wird, alle anderen Formen von Gewissheit fragwürdig erscheinen, sodass man leicht geneigt sein kann, sie als ungenügend auszuscheiden und abzuwarten, bis sich auch für die einstweilen ausgeklammerten Bereiche ähnliche Gewissheiten ergeben.“25 Verglichen mit dem Gewissheitsgrad, der im naturwissenschaftlichen Experiment erreicht wird, erscheinen dem Menschen Überzeugungen, die nicht naturwissenschaftlich abgesichert sind, in zunehmender Weise als beliebig.

Schon hier zeigt sich die Gefahr der Selbstbeschränkung der menschlichen Vernunft auf ihren positivistischen Aspekt. Auf diese Gefahr sowie auf die daraus resultierenden Konsequenzen für die anderen Teile des menschlichen Vernunftvermögens wird noch zurückzukommen sein. Zuvor müssen aber erst diese anderen Arten menschlicher Vernunfttätigkeit nach Ratzinger behandelt werden. Denn es ist seines Erachtens gerade dieses nicht-naturwissenschaftliche Denken des Menschen, das diesem die Einseitigkeit eines sich selbst absolut setzenden naturwissenschaftlichen Denkens vor Augen führen muss, um „die menschliche Problematik solcher Orientierung dem Bewusstsein vor den Blick zu bringen.“26

Vorerst lässt sich festhalten, dass Ratzinger zufolge die naturwissenschaftliche Vernunft eben nicht alle Probleme des Menschen zu lösen imstande ist: „Die Enträtselung der physikalischen Struktur der Dinge ist nicht auch schon die Enträtselung des Daseins selbst, sondern sie lässt uns dessen Rätsel erst in seiner vollen Abgründigkeit erfahren und mit ihm das Rätsel unserer eigenen Existenz.“27

Logos Gottes und Logos des Menschen

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