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1.3 Wahrheit des Machbaren: Technische Vernunft

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Mit dem Siegeszug des naturwissenschaftlichen Denkens ist unmittelbar die Entwicklung des technischen Denkens verbunden. Denn aus der naturwissenschaftlichen „Erfahrung der Weltlichkeit der Welt erfolgt die Erkenntnis ihrer Machbarkeit von selbst, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die zweite Phase der Neuzeit einleitet, die der technischen Weltgestaltung.“28 Die durch die Naturwissenschaft gewonnene Einsicht des Menschen in die physikalischen Strukturen der Welt verschafft ihm in einem bis dahin nicht gekannten Maße die Möglichkeit der aktiven Weltgestaltung nach seinem Willen. Diese neue Macht des Menschen führt dazu, dass „die Herrschaft des Faktum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße abgelöst wird durch die Herrschaft des Faciendum, des zu Machenden und Machbaren, und dass damit die Herrschaft der Historie verdrängt wird durch diejenige der Techne.“29 Die Techne ist nun für den Menschen nicht mehr, wie in Antike und Mittelalter, eine wissenschaftliche Richtung unter vielen, sondern „wird zum eigentlichen Können und Sollen des Menschen.“30

Für die Wahrheitsfrage bedeutet das, dass Wahrheit für den Menschen weder in einem metaphysischen Vernunftprinzip noch im historischen ‚Faktum‘ zu suchen ist. Die Wahrheit des naturwissenschaftlich-technischen Weltverständnisses „ist die Wahrheit der Weltveränderung, der Weltgestaltung – eine auf Zukunft und Aktion bezogene Wahrheit.“31 Hier wird deutlich, dass die verschiedenen Wahrheitsverständnisse für Ratzinger unterschiedliche Stellungen des Menschen zu Zeit und Geschichte nach sich ziehen. „War der Mensch zuerst, in Antike und Mittelalter, dem Ewigen zugewandt gewesen, dann in der kurzen Herrschaft des Historismus dem Vergangenen, so verweist ihn nun das Faciendum, die Machbarkeit, auf die Zukunft dessen, was er selbst erschaffen hat.“32 So wie der historischen Vernunft das Faktum und der naturwissenschaftlichen Vernunft das wiederholbare Experiment als Wahrheit gilt, so gilt der technischen Vernunft alles das als wahr, was der Mensch anhand der naturwissenschaftlichen Gewissheit produzieren kann, was er aus der Welt mithilfe der Naturwissenschaft machen kann.

Dieses auf die Zukunft verlegte Wahrheitsverständnis einer selbst vom Menschen zu schaffenden Wahrheit nimmt nach Ratzinger philosophische Gestalt an in der Ideologie des Marxismus.33 Denn diesem gilt als wahr, was „dem Fortschritt, d.h. der Logik der Geschichte dient. Das Interesse einerseits, der Fortschritt andererseits treten die Erbschaft des Wahrheitsbegriffs an; das ‚Wahre‘, d.h. das der Logik der Geschichte Gemäße muss jeweils in jedem Schritt der Geschichte neu erfragt werden“34. Der Mensch wird auf diese Weise selbst zum Herrn über die Wahrheit, da sie kein ihm vorhergehendes und von ihm unabhängiges Prinzip mehr darstellt, sondern von ihm selbst geschaffen wird.35

Der übergeschichtliche Charakter der naturwissenschaftlich-technischen Vernunft impliziert ihre Unabhängigkeit von der jeweiligen Kultur des Menschen.36 Diese kulturelle Unabhängigkeit führt laut Ratzinger zu einer Uniformierung der menschlichen Kulturen auf der technischen Ebene, bei der Naturwissenschaft und Technik zur „einheitlichen Sprache der Menschheit“37 geworden sind, die eine Vereinheitlichung von Lebensformen nach sich zieht.38

In Gott und die Welt vergleicht Ratzinger diese Vereinheitlichung menschlicher Lebensformen auf dem Boden der technischen Vereinheitlichung mit der Einheit der Völker, von der in der alttestamentlichen Erzählung vom Turmbau zu Babel die Rede ist. „Denken wir zum Beispiel an den babylonischen Turmbau, mit dem sich der Mensch durch die Technik eine Einheitszivilisation verschaffen will. Er will den an sich ja richtigen Traum der einen Welt, der einen Menschheit, durch die Macht des eigenen Könnens und Bauens herbeiführen und versucht über den Turm, der zum Himmel reicht, selber die Macht zu ergreifen und zum Göttlichen vorzustoßen. Im Grunde ist es das Gleiche, was auch der Traum der modernen Technik ist: göttliche Macht zu haben, an die Schaltstellen der Welt zu kommen. Insofern liegen in diesen Bildern wirklich Warnungen aus einem Urwissen heraus, die uns anreden.“39 Die Einheit, welche die Völker in der Geschichte anstreben, ist für Ratzinger eine Einheit, die allein auf technischem Können beruhen soll. Das Ende der Erzählung zeigt aber nun, dass diese Basis allein nicht trägt, sondern zur Verwirrung führt.40

Ratzinger überträgt dann die Geschichte auf die modernen Gesellschaften. „Einerseits gibt es diese Einheit. Die Stadtkerne sehen in Südafrika aus wie in Südamerika, wie in Japan, wie in Nordamerika und in Europa. Es werden überall die gleichen Jeans getragen, die gleichen Schlager gesungen, die gleichen Fernsehbilder angesehen und die gleichen Stars bewundert.“41 Doch trotz dieser durch die Universalität der Technik ermöglichten Einheit der Menschheit zeigt sich laut Ratzinger eine zunehmende Entfremdung der Menschen voneinander. „Hier geht die tiefere Kommunikation der Menschen untereinander verloren, die nicht durch diese oberflächlichen, äußeren Verhaltensformen und durch die Beherrschung der gleichen technischen Apparaturen geschaffen werden kann. Der Mensch reicht eben viel tiefer. Wenn er sich nur in dieser Oberfläche vereinigt, rebelliert zugleich das Tiefe in ihm gegen die Uniformierung, in der er sich dann doch selber als versklavt erkennt.“42 Hier zeigt sich die Gefahr der Beschränkung der menschlichen Vernunfttätigkeit auf das naturwissenschaftlich-technische Vermögen des Menschen, das für Ratzinger eben nicht notwendig auch ein moralisches Können bedeutet. „[D]as Können seiner selbst liegt offenbar auf einer gänzlich anderen Ebene als das Können der technischen Verrichtung.“43

Die Vereinheitlichung der Menschheit bleibt nach Ratzinger deshalb unvollständig und oberflächlich, wenn sie neben der positivistischen Vernunft nicht auch weitere Dimensionen des Menschen, vor allem seine moralische Vernunft, miteinbezieht. Genau das will in Ratzingers Interpretation das Ende der Geschichte vom babylonischen Turmbau verdeutlichen: „Die moralische Kraft ist nicht mitgewachsen mit den Fähigkeiten des Machens und des Zerstörens, die der Mensch entwickelt hat. Das ist der Grund, warum Gott gegen diese Art von Vereinigung einschreitet und eine ganz andere schafft.“44 Was Ratzinger unter dieser von Gott geschaffenen neuen Einheit theologisch versteht, wird im Laufe dieser Arbeit noch zur Sprache kommen.45

Eine weitere Konsequenz der Technisierung der Welt besteht nach Ratzinger darin, dass die Umwelt des modernen Menschen so sehr durch die von ihm selbst gemachten Dinge bestimmt ist, dass er mit der ursprünglichen Natur kaum noch in Berührung kommt. Da es aber, wie noch zu zeigen sein wird, für Ratzinger gerade die Natur ist, die den Menschen auf die Vernunft des Schöpfers, auf die göttliche Vernunft in der Wirklichkeit verweist, ist der Mensch durch die Technik von dieser Quelle der Gotteserfahrung abgeschnitten. „Wenn für den Menschen bisher die Begegnung mit der Schöpfungswirklichkeit aufgrund der Durchsichtigkeit der Natur zum Schöpfer hin immer wieder zu einer Quelle unmittelbarer religiöser Erfahrung geworden war, so hat die Technisierung der Welt zur Folge, dass der Mensch kaum noch irgendwo der Naturwirklichkeit selbst in ihrer einfachen Unmittelbarkeit begegnet, sondern auf sie immer nur noch durch das Medium des menschlichen Werks hindurchstößt. Die Welt, mit der er es zu tun hat, ist in all ihren Bezügen eine vom Menschen überformte Welt.“46

In dieser Undurchsichtigkeit der Welt für den modernen Menschen, der in ihr nur noch sein eigenes Werk erblickt und nicht mehr das Werk des göttlichen Logos, sieht Ratzinger den eigentlichen Grund für den Atheismus der Neuzeit. Er bezeichnet diesen als ‚neues Heidentum‘ und sieht dessen Grundlage im Unterschied zum alten Heidentum, dessen Zentrum in der Vergöttlichung der Natur bestand, in einer Vergöttlichung der Technik und damit einer Selbstvergöttlichung des Menschen. Das ‚neue Heidentum‘ „unterstellt nicht mehr den Menschen einer für göttlich gehaltenen Natur, sondern anerkennt nur noch den Menschen selbst als Maßstab einer endgültig profanisierten Natur.“47 Hier zeigt sich also wieder der Charakter der technischen Vernunft, Wahrheit nicht zu empfangen, sondern selbst zu produzieren.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass technische Vernunft für Ratzinger ihren Ursprung im Verlangen des Menschen nach Sicherheit hat. Denn für den archaischen Menschen ist „die Erfahrung der Natur die Erfahrung des Unheimlichen und Bedrohlichen, die unverfügbare Gefährdung, in der unbekannte Mächte wirken, gegen die er sich auf vielerlei Weise zu schützen sucht.“48 Gegenüber magischen Ritualen erscheint dabei die Technik als die vernünftige Art und Weise, den Menschen vor den unberechenbaren Mächten der Natur zu schützen und sie in eine menschenfreundliche Umgebung zu verwandeln, indem sie die Rationalität der Natur für den Menschen und seine Bedürfnisse nutzbar macht.49 So steht die technische Vernunft im Dienste des Menschseins und hat eine schützende und zugleich befreiende Funktion für den Menschen.

Doch Technik kann sich auch zu einer Bedrohung für diesen entwickeln: Ohne ethische Formung kann das „Werk des Menschen, das ihn sichern sollte … zur eigentlichen Gefahr des Menschen und der Welt zugleich“50 werden. Der Mensch sieht sich dabei laut Ratzinger zum einen durch seine eigenen technischen Errungenschaften bedroht, wie etwa im Fall der Atombombe. Zum anderen zeigt nun auch die domestizierte und unterworfene Natur „ihre letzte Unbeherrschbarkeit, sie entgleitet der Hand des Zauberlehrlings, der … das rettende ethische Wort nicht mehr findet, das sein eigenes Werk anhalten könnte.“51 Naturwissenschaftlich-technische Vernunft wird ohne moralische Vernunft also zur „ungebändigten Macht des menschlichen Geistes“52, die sich selbst und ihrer Umwelt Schaden zufügt.

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