Читать книгу Logos Gottes und Logos des Menschen - Heiko Nüllmann - Страница 20
2.1.2. Die moralische ‚Vernunft der Natur‘
ОглавлениеAus der Kritik Ratzingers am Naturrechtsgedanken lässt sich nun allerdings keine Abkehr vom moralisch-ontologischen Denken ableiten. Zwar betont er, wie gesehen, im Zuge dieser Kritik besonders die historische Verfasstheit des Menschen und scheint in seinem Aufsatz von 1964 die Ontologie sogar fast in Geschichte aufzulösen. Dies geschieht aber offensichtlich nur im Zuge der Polemik gegen ein sich von aller Tradition und Geschichtlichkeit befreiendes naturrechtliches Denken, da er sofort wieder betont, dass es „das alle Menschen umgreifende Rechte“39 gibt. Wie schon festgestellt, bewegt sich das Denken Ratzingers in Bezug auf die moralischen Einsichten des Menschen zwischen den Polen Ontologie, Geschichte und Glaube. Betont Ratzinger in den 60er Jahren gegen die klassische Naturrechtslehre besonders die Geschichte und den sich in ihr konkretisierenden Glauben, so verschiebt sich der Schwerpunkt ab den 70er Jahren zusehends auf den ontologischen Pol der Naturrechtslehre und somit vom heilsgeschichtlichen Denken hin zu metaphysischem Denken. Dies soll nicht heißen, dass das metaphysische Element vorher im Denken Ratzingers nicht vorhanden war. Es scheint vielmehr so zu sein, dass er sich genötigt sah, gegen nachkonziliare theologische Verkürzungen dieses Element seines Denkens mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Umgekehrt lässt sich, wie zu zeigen sein wird, aus der Betonung des ontologischen Pols nicht schließen, dass die anderen Aspekte völlig ausfallen.
Im Zuge der stärkeren Betonung der Ontologie in Bezug auf die moralische Botschaft der Natur kommt dem Begriff der Vernunft eine Schlüsselstellung zu. Denn der Grund, warum das ontologische Verständnis des Naturrechts unglaubwürdig geworden war, liegt nach Ansicht Ratzingers, wie gesehen, in dem mit ihm verbundenen, stark biologisch geprägten Begriff von Natur, „in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur selbst vernünftig ist.“40 Diese enge Verbindung von Vernunft und Natur ist mit der Durchsetzung der Evolutionstheorie unglaubwürdig geworden, denn diese betrachtet Ratzinger zufolge als grundlegendes Strukturelement der Natur nicht etwa die Vernunft, sondern den Zufall.41 Ein Naturrecht, das den Naturbegriff rein biologisch versteht, kann daher heute nicht mehr an die Vernunft des Menschen anknüpfen, weil Natur eben nicht mehr a priori als vernünftig gilt.
‚Moral‘ würde nach Ansicht Ratzingers unter diesen Umständen in der Nachbildung der Evolution bestehen: „Das optimale Überleben der Art ‚Mensch‘ wäre nun der moralische Grundwert; die Regeln, nach denen man es macht, wären die einzelnen moralischen Ordnungen.“42 Doch eine solche moralische Nachbildung der Evolution hat nichts mehr mit dem Hören der Vernunft auf die moralische Weisung der Natur zu tun. Vielmehr wird in der verabsolutierten evolutiven Sinnlosigkeit die Vernunft des Menschen vom Kalkül und Machtstreben abgelöst.43 Doch durch diese Aufhebung der moralischen Vernunft hebt der Mensch sich nach Ratzinger selbst auf: „Die Moral ist abgetreten, und der Mensch als Mensch ist abgetreten. Warum man sich an das Überleben dieser Art klammern soll, ist nicht mehr einsichtig zu machen.“44
Ein Naturrecht, das Natur rein biologisch versteht, muss Ratzinger zufolge den Menschen also zwangsläufig als im Letzten unvernünftiges, vom reinen Naturtrieb gesteuertes Wesen betrachten und hat daher zu heutigen moralischen Fragen, „die die Vernunft des Menschen geschaffen hat und die ohne Vernunft nicht beantwortet werden können“45, nichts beizutragen. „Die physikalisch-chemische Struktur des Menschen gibt nun einmal keine Aussagen im Sinn der traditionellen Moraltheologie ab, überhaupt keine ethischen Aussagen“46.
Folglich muss ein heutiges Naturrecht laut Ratzinger, will es den Menschen nicht nur als Gattungswesen verstehen, sondern ihm als einem die reine Natur in seiner Vernunft überschreitendes Wesen gerecht werden, Vernunftrecht sein: „Das Naturgesetz ist ein Vernunftgesetz: Vernunft zu haben, ist die Natur des Menschen.“47 Der Mensch muss vom Naturrechtsdenken als vernünftiges und somit das rein Biologische überschreitendes Wesen ernst genommen werden.
Für das moralische Verhalten des heutigen Menschen ist deshalb Ratzinger zufolge die Frage unumgänglich, ob es nicht auch angesichts des Evolutionsgedankens „eine Vernunft der Natur und so ein Vernunftrecht für den Menschen und sein Stehen in der Welt geben könne.“48 Es geht Ratzinger also um das Finden einer über das rein Biologische und somit über die klassische Naturrechtskonzeption hinausreichenden ‚Vernunft der Natur‘, auf die sich der Mensch mittels seiner Vernunft beziehen kann. Um angesichts der Evolutionstheorie den ontologischen Pol des naturrechtlichen Denkens aufrechtzuerhalten, ist Ratzinger also darauf angewiesen, in der vernünftigen Strukturiertheit der Wirklichkeit, die das theoretische Denken findet, auch gleichzeitig eine vorgegebene Strukturiertheit des Seins im Hinblick auf die moralische Vernunft anzunehmen.
Dazu greift er auf Überlegungen des deutschen Physikers Werner Heisenberg zurück.49 Heisenberg spricht von einer ‚zentralen Ordnung‘ der Wirklichkeit, auf welche ihre mathematische Strukturiertheit verweist. Er macht sich nun Gedanken über eine mögliche personale Verfasstheit dieser ‚zentralen Ordnung‘, indem er sich z.B. die Frage stellt, ob man ihr als Mensch so nahe sein kann, „wie dies bei der Seele eines anderen Menschen möglich ist“50. Von der Bejahung dieser Frage ausgehend gelangt Heisenberg dann zur Beschreibung der ‚zentralen Ordnung‘ als einem Kompass, „nach dem wir uns richten sollen, wenn wir unseren Weg durchs Leben suchen.“51 So kann Ratzinger zusammenfassend feststellen: „Schöpfung ist nicht nur eine Sache der theoretischen Vernunft, des Schauens und Staunens, sie ist ein ‚Kompass‘“52.
Der geistige Gehalt der Schöpfung ist für Ratzinger also „nicht nur mathematisch-mechanisch. Das ist die Dimension, die die Naturwissenschaft in den Naturgesetzen erhebt. Aber es ist mehr an Geist, an Naturgesetzen in der Schöpfung. Sie trägt eine innere Ordnung in sich und zeigt sie uns auch an. Wir können aus ihr die Gedanken Gottes und die richtige Art ablesen, wie wir leben sollen.“53 Der Logos des Schöpfers zeigt sich nach Ansicht Ratzingers dem Menschen also nicht nur in naturwissenschaftlicher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die moralische Vernunfterkenntnis des Menschen. Auch die moralische Vernunft des Menschen erlangt ihre Erkenntnis im Nachdenken der ihr vorgegebenen Vernunft Gottes.54
Somit existieren nach Auffassung Ratzingers zwei „Ordnungen der Natur“:55 Neben der empirisch erfassbaren biologischen Ordnung gibt es eine der moralischen Vernunft zugängliche moralische Schöpfungsordnung. Dies wird für Ratzinger am Beispiel der Ehe deutlich: In ontologisch-moralischer Hinsicht führt die Natur Mann und Frau zueinander und schafft so den familiären Raum für die Entwicklung neuen Menschseins.56 Andererseits erfährt der Mensch in biologischer Hinsicht auch immer die Tendenz zu sexueller Promiskuität, die der Logik von Ehe und Familie zuwiderläuft. „Das eine stellt sich wirklich als die Botschaft der Schöpfung dar – das andere als die Selbstverfügung des Menschen.“57 Nicht die Konzentration des Menschen auf die biologische Ordnung der Natur, sondern nur das Hören auf die moralische Vernunft der Natur kann ihm also moralische Werte an die Hand geben.
Auch wenn Ratzinger also ‚Naturrecht‘ im klassischen Sinne nicht mehr als glaubwürdig erscheint, so bleibt der Grundgedanke des Begriffs seines Erachtens doch bestehen: „Es gibt das von ‚Natur‘, vom Kompass der Schöpfung her Rechte, das zugleich Völkerrecht über die Grenzen der einzelnen staatlichen Rechtssetzungen hinweg ermöglicht.“58 Der Gedanke einer die Wirklichkeit strukturierenden schöpferischen Vernunft, auf den schon das naturwissenschaftliche Denken stößt, kommt auf diese Weise auch im Hinblick auf die moralische Vernunft des Menschen zum Tragen und ermöglicht Ratzinger eine Rehabilitation des Naturrechtsgedankens auf einer das Biologische transzendierenden metaphysischen Ebene.
Für diese Arbeit ist es von Bedeutung, dass Ratzinger in dieser Argumentation explizit dem Vorbild Platons folgt. Denn auch „Platon stellt, auf Sokrates gestützt, dem Naturrecht des Schlau-Starken das Naturrecht des Seins entgegen, in dem dem Einzelnen ein Plan im Ganzen zukommt.“59 Platon nimmt dabei den sophistischen Begriff des Naturrechts also bewusst auf, „interpretiert ihn aber nicht individualistisch und rationalistisch, sondern als Gerechtigkeit des Seins, die dem Einzelnen und dem Ganzen Existenzmöglichkeit gibt.“60 Natur wird demnach bei Platon ganz analog zu Ratzinger nicht im Sinne des Rechts des Stärkeren verstanden, sondern als Quelle ethischer Einsichten für die Gemeinschaft, die Polis. Auf einer metaphysischen Ebene fallen sowohl für Platon als auch für Ratzinger Natur und moralische Vernunft zusammen.61