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2. Moralische Vernunft 2.1 Naturrecht: Die moralische Vernunft in der Schöpfung 2.1.1. Kritik am Naturrechtsgedanken

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Das Naturrecht hat nach Ratzinger seinen Ursprung im antiken Griechenland, in dem das durch den Götterglauben begründete Recht im Zuge der philosophischen Aufklärung seine religiöse Grundlage verlor. Sollte Recht nun nicht in bloßen positiven Setzungen bestehen, die schnell zu Unrecht werden könnten, musste ein Recht gefunden werden, „das aus der Natur, dem Sein des Menschen selbst folgt.“1 Ihre geschichtlich maßgebliche Form fand diese Suche nach einem solchen universalen Recht für Ratzinger bei Platon, der ausgehend von einigen allgemeinen Einsichten unter Rückgriff auf die deduktive Methode ein System überzeitlich geltender Wesenseinsichten entwarf.2

Wichtigkeit erlangte der Naturrechtsgedanke dann erneut zu Beginn der Neuzeit, und zwar zunächst im Zusammenhang mit der Entdeckung Amerikas, die aufgrund der Begegnung mit neuen Völkern die Frage aufwerfen musste, ob die fehlende Rechtsgemeinschaft mit diesen Völkern diese zu Rechtlosen machte oder ob es im Gegenteil ein Recht gibt, „das alle Rechtssysteme überschreitet, Menschen als Menschen in ihrem Zueinander bindet und weist“3. In dieser Situation entwickelte der spanische Theologe Francisco de Vitoria (um 1483–1546) die Idee eines ‚Rechts der Völker‘, welches der positiven staatlichen Rechtssetzung vorausgeht und so das rechte Miteinander der Völker ordnen kann.4 Ratzinger umschreibt diese Idee auch als den Gedanken „des Bereichs der ‚reinen Natur‘, die alle [Menschen; H. N.] umgreife und daher einen für alle gemeinsamen Rechtsrahmen ermögliche.“5 Dabei griff die christliche Theologie besonders auf die griechische Philosophie zurück, wobei nach Ansicht Ratzingers zu beachten ist, dass diese in einer konkreten geschichtlichen Situation und aufgrund von bestimmten geschichtlichen Anforderungen aufgenommen wurde und daher „der von ihr aufgeworfene Gedanke des natürlich Rechten in einer ganz bestimmten geschichtlichen Prägung zur Geltung kam.“6

Des Weiteren machten die Glaubensspaltungen des Christentums zu Beginn der Neuzeit ein vom Glauben unabhängiges Recht notwendig, um ein Zusammenleben von Menschen verschiedener Glaubensrichtungen zu ermöglichen.7 Mit dem Voranschreiten des Aufklärungsgedankens wurde die Ethik der positiven kirchlichen Glaubenssätze immer weiter von ethischen Aussagen, die auf natürlichen Einsichten aufbauten, zurückgedrängt. Dies führte laut Ratzinger dazu, dass „die lehrende Kirche wie auch die sie interpretierende Theologie, um den gegebenen Forderungen auch weiterhin Geltung zu verschaffen, immer stärker zu naturrechtlichen Kategorien Zuflucht nahmen bzw. immer größere Teile des vorliegenden Lehrgutes als auch naturrechtlich verbindlich darzustellen sich mühten.“8 Dabei wurde das deduktive Verfahren von der Theologie dermaßen überstrapaziert, dass die vermeintlich zwingenden logischen Denkschritte keineswegs für jeden einleuchtend waren und daher zur Verbürgung ihrer Vernünftigkeit nicht selten die Autorität der Kirche in Anspruch genommen wurde.9 Dies bedeutete jedoch, dass einerseits die Vernunft den Glauben, andererseits die Autorität des Glaubens die Vernunft stützen sollte. Diese unlogische Konzeption der Sicherung von Glaubenssätzen spiegelt für Ratzinger „die Problematik der Situation der Kirche in der Neuzeit, in der Zeit der Umstellung von einer rein kirchlichen auf eine weltanschaulich gemischte Gesellschaft.“10

Schon in seiner Dissertation Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche übt Ratzinger vorsichtige Kritik an dieser Funktionalisierung der Naturrechtslehre durch die Kirche. Er beschreibt darin das Verständnis des Naturrechts „als die Rechtsnormen des Schöpfers, die in den allgemeinen Wesenheiten der Dinge einbeschlossen jedem Menschengeiste erkennbar sind.“11 Aufgrund dieser universalen Erkennbarkeit durch den Menschen beansprucht das Naturrecht auch universale Geltung. Neben ihm steht dabei das göttliche Recht, das seinen Ursprung in dem dem Menschen durch Offenbarung zugänglich gewordenen Willen Gottes und daher nur für den Glaubenden Verbindlichkeit hat. Das kirchliche Bestreben, möglichst viele Normen im Naturrecht zu verorten, um ihren universellen Geltungsanspruch zu sichern, führt nach Ansicht Ratzingers nun unweigerlich zum Versuch, Offenbarungswahrheiten in Vernunftwahrheiten umzuwandeln, was seines Erachtens eine Abwertung von Offenbarungswahrheiten gegenüber Vernunftwahrheiten zur Folge hat.12

Verharrt das Naturrecht für ihn schon hier in einer „praktischen Ungreifbarkeit“13, so konkretisiert und verschärft sich diese Kritik in einem 1964 erschienenen Aufsatz über die christliche Soziallehre, in dem Ratzinger feststellt, „dass das ‚von Natur her Rechte‘, die wahre Humanität, wenn man so sagen will, für den Menschen, wie er tatsächlich existiert, niemals rein spekulativ, more geometrico, zu ermitteln ist.“14 Vielmehr bedarf der Mensch der ‚regulativen Idee‘ des Glaubens, die er dann in der konkreten geschichtlichen Situation anwenden kann. Christliche Soziallehre gründet so für Ratzinger „in der Hinordnung des Evangeliums auf die jeweiligen Sozialtatsachen. Soziallehre wird sie nur dadurch, dass sie von den Tatsachen her gedacht ist; christlich wird sie, indem sie den Maßstab des Evangeliums auf diese Tatsachen bezieht.“15 Naturrecht kann in dieser Konzeption aber nur noch in seiner jeweiligen historischen Gestalt begriffen werden. Es existiert „nicht nackt, sondern nur in den konkreten Realisierungen der wechselnden Zeiten. Es gibt, anders ausgedrückt, in den jeweiligen Ordnungssystemen ein sich durchhaltendes an sich Rechtes, das aber nicht im Sinn einer überzeitlichen Formel herausdestilliert werden kann, sondern nur in verschiedenen geschichtlichen Konkretisierungen lebt und je in den neuen Tatsachen neu gefunden werden muss.“16

Der große Fehler der christlichen Soziallehre liegt nach Meinung Ratzingers nun darin, dass sie die Geschichte zugunsten des Spekulativen vernachlässigt hat. „Sie hat sich diesem Faktum der Geschichtlichkeit weitgehend entzogen und in abstrakten Formeln eine überzeitliche Sozialdogmatik zu formulieren versucht, die es so nicht geben kann.“17 Ratzingers Auffassung von ‚Naturrecht‘ ist hier dagegen die eines sich in Geschichte konkretisierenden Rechts, das aus den Traditionen der Menschheit und aus der christlichen Glaubenstradition schöpft, ohne die es nicht denkbar wäre.18

Schon in seinem 1962 erschienenen Aufsatz Gratia praesupponit naturam hatte Ratzinger diese Geschichtsbezogenheit der menschlichen Natur in Anlehnung an Bonaventura und Paulus herausgestellt. Dabei stellt er im Hinblick auf die Frage der Beziehung von Natur und Gnade fest, dass Bonaventura zufolge die Natur des Menschen nicht rein biologisch an dessen Geist und freiem Willen vorbei bestimmt werden kann. Der menschliche Wille überschreitet nach Ansicht Bonaventuras „als eine eigene Zwischenordnung zwischen bloßer Natur und Gottes eigener Freiheit“19 den allgemeinen biologischen Naturbegriff: Durch den Geist ist die menschliche Natur mehr als Natur im allgemeinen biologischen Sinn.20 Wenn aber die Bestimmung der menschlichen Natur die Freiheit des Geistes umfasst und nicht unabhängig von dieser Freiheit bestimmt werden kann, so bedeutet dies für Ratzinger, dass sie „nicht an ihrer Geschichte vorbei bestimmt werden darf. Es gibt dann keine geschichtslose Natürlichkeit des Menschen.“21 Denn der Geist des Menschen entfaltet sich in der Geschichte und nicht unabhängig von ihr.

Auch hier zeigt sich also wieder der Primat der Geschichte vor der geschichtslosen Ontologie eines Naturrechts. Eine solche Ontologie aber kommt für Ratzinger trotzdem auch bei Bonaventura zum Vorschein, denn der franziskanische Lehrer kennt neben der Betrachtung der Natur ‚von unten‘ auch eine Betrachtungsweise ‚von oben‘: „Betrachtet man aber die Natur von ihrem wahren Bezugspunkt, von Gott her, so zeigt sich, dass im Letzten alle Natur ‚Gnade‘ ist … Die ganze Natur ist in ihrer innersten Tiefe Ausfluss eines Willens, ist voluntarisch strukturiert von dem schöpferischen Urwillen her, dem allein sie ihren Bestand verdankt.“22 Der Schöpfungsgedanke und mit ihm der Gedanke der Schöpfungsordnung werden hier also ganz eng mit dem freiheitlichen Gnadenhandeln Gottes in Verbindung gebracht.23

So kann Ratzinger sagen, dass für Bonaventura Natur von einer doppelten Freiheit umgriffen ist: „von der Freiheit Gottes und der eigenen Freiheit des Menschen.“24 Dies impliziert ihre Einbindung in die Geschichte des Menschen mit Gott, der ihn ruft und dessen Ruf er sich immer wieder verschließt, weil er „den Aufbruch über sich hinaus scheut und so gerade sich selbst verfehlt.“25

Auf ein ähnliches Bild stößt Ratzinger in der paulinischen Theologie. Paulus gebraucht den Naturbegriff einerseits in Bezug auf das Abstammungsmerkmal Jude – Nicht-Jude, andererseits wendet er am Anfang des Römerbriefs einen Naturbegriff an, der ihm nach Ratzinger „offensichtlich aus der stoischen Popularphilosophie zukam, also Natur nicht im Sinne einer blutsmäßig-biologischen Größe, sondern im Sinne einer rational gefassten Wesensstruktur verstand.“26 Den Nicht-Juden, die das jüdische Gesetz nicht kennen, gibt nach diesen Gedanken des Paulus die metaphysisch verfasste Natur das Gesetz ein (vgl. Röm 2,14). Ratzinger weist hier aber darauf hin, dass in den konkreten Anwendungen dieses Gesetzes bei Paulus „der biologische Einschlag in den metaphysischen Begriff sehr stark ist: Eine konkrete biologische Gegebenheit bietet Wegweisung.“27 Er führt als Beispiele Röm 1,26, wo Paulus sich auf den widernatürlichen sexuellen Verkehr bezieht, sowie 1 Kor 11,14 an, wo der Apostel betont, schon die Natur lehre es, dass der Mann kurze, die Frau aber lange Haare tragen müsse.

Neben dieser positiven metaphysisch-biologischen Bestimmung von Natur findet sich bei Paulus aber natürlich auch die theologische Sichtweise einer auf die Gnade Gottes angewiesenen, verderbten Natur des Menschen: Ob Jude oder Nicht-Jude, „das bloß naturale Dasein ist in jedem Falle heillos.“28 Dies ist so, weil die Natur „nicht unmittelbar von Gott auf den Menschen zukommt, sondern geprägt und verunstaltet ist durch eine lange menschliche Vorgeschichte, die auf ihr liegt.“29 So findet nach Paulus der Mensch die Erfüllung seines Lebens eben nicht im reinen Hören auf seine Natur, sondern im Gegenteil nur in der Begegnung mit Christus im Glauben. Die Natur kann für Paulus zwar „sehr wohl das Zeichen des Schöpfers sein, aber sie ist es nicht ungetrübt, weil sie auch Ausdruck der Eigenmächtigkeit des Menschen ist. Wiederum finden wir, wie bei Bonaventura, die Natur des Menschen im Spannungsfeld zwischen zwei Freiheiten, Gottes und des Menschen.“30

Beide Positionen zu einer Synthese zusammenführend kann Ratzinger nun sagen, dass einerseits die Schöpfungsordnung in keinem Menschen ganz erloschen ist und sich ins konkrete Dasein des Menschen hinein auswirkt.31 Es gibt also „so etwas wie den gesunden Menschenverstand, in dem sich das Bewusstsein der verbliebenen Schöpfungsordnung meldet, von dem sich der Mensch immer wieder korrigieren und auf den Boden der Wirklichkeit zurückrufen lassen soll.“32 Andererseits ist diese Schöpfungsbezogenheit des Menschen, die man als seine erste und ursprüngliche Natur bezeichnen kann, überdeckt von seiner sündigen Geschichte. „Der Mensch hat sich selber eine zweite Natur zugelegt, deren Kern die Ichverfallenheit – die concupiscentia – ist.“33 Die göttliche Gnade kann deshalb für den Menschen nur eins bedeuten, nämlich das Aufbrechen dieser zweiten Natur, „das Aufbrechen der harten Schale der Selbstherrlichkeit, welche die Gottesherrlichkeit in ihm überdeckt.“34

Dieses Motiv des ‚Aufbrechens‘ der Ichbezogenheit des Menschen ist für Ratzinger im Symbol des Kreuzes ausgedrückt. Denn „erst die Menschlichkeit, die durch das Kreuz hindurchgegangen ist, bringt den wahren Menschen ans Licht.“35 Doch diese durch das Kreuz markierte Umkehr ist für Ratzinger nichts dem menschlichen Wesen Fremdes, sondern entspricht zutiefst seiner geistigen Natur. Denn wie bei Bonaventura gesehen, besteht die Natur des menschlichen Geistes ja gerade darin, „über alle ‚Natur‘ hinauszusein, in der Selbstüberschreitung zu stehen. Es ist dem Geist wesentlich, sich nicht selbst zu genügen, den Richtungspfeil über sich hinaus in sich zu tragen.“36 Dies aber bedeutet, dass das ‚Aufbrechen‘ der sündigen Ichverfallenheit des Menschen durch das Kreuz gerade seine „wahre Heilung“ ist, „die ihn vor der trügerischen Selbstgenügsamkeit rettet, in der er nur sich selbst verlieren, die unendliche Verheißung, die in ihm liegt, versäumen kann um des spießigen Linsenmuses seiner vermeintlichen Natürlichkeit willen.“37 Durch die geschichtliche Gnadentat Gottes wird der Mensch von seiner verderbten Natur weg- und zu seiner wahren, schöpfungsgemäßen Natur hingeführt.

Diese Argumentationsstruktur Ratzingers lässt drei Pole erkennen, die für ihn in Bezug auf die Rede von Natur und Naturrecht wichtig sind: erstens die Natur als Ausdruck des Willens Gottes und somit als ursprüngliche Schöpfungsordnung; zweitens die Natur als Ausdruck des Willens des Menschen, als seine geistige Natur und somit als geschichtlich bedingte und damit auch durch die menschliche Sünde entstellte Natur; drittens Gottes geschichtliches Heilshandeln an der entstellten Natur des Menschen, das ihn sozusagen zu einer ‚Umkehr‘ in seine wahre schöpfungsgemäße Natur herausfordert. Kurz könnte man diese drei Pole unter den Stichworten Ontologie, Geschichte und Glaube zusammenfassen.

Wie an den analysierten Ausführungen Ratzingers gut zu sehen war, setzt er in diesen frühen Veröffentlichungen einen starken Akzent auf Geschichte und Glaube, um sich vom zu sehr ontologisch geprägten neuscholastischen Naturrechtsbegriff abzugrenzen. Der ontologische Pol taucht in seinen Argumentationen nur sehr am Rande auf, wenn er vom ‚gesunden Menschenverstand‘ spricht, der sich auf die verbliebene Schöpfungsordnung bezieht. Weitaus wichtiger ist ihm der Bezug des Glaubens an die göttliche Gnade auf die Geschichte des Menschen, wie es dann zwei Jahre später auch sein Aufsatz über die Soziallehre der Kirche herausstellt, in dem die Ontologie fast völlig in Geschichte aufgelöst wird.

Die Kritik Ratzingers an der ontologischen Naturrechtsidee bezieht sich dabei, wie gesehen, einerseits auf die Verankerung von Glaubensaussagen im Naturrecht, die dort seiner Ansicht nach nicht hingehören; andererseits scheint ihm hier ein Begriff von Natur vorzuliegen, der sich zu stark am Biologischen orientiert. Wie sich besonders bei seinem Hinweis auf die paulinischen Anwendungen von Röm 2,14 zeigt, scheint ihm gerade der Bezug des Naturrechts auf die stoische Philosophie Normen zu sehr aus einem noch sehr stark biologisch geprägten Naturbegriff ableiten zu wollen. „Die Grundeinstellung des stoischen Ethos darf man, unbeschadet seiner geistigen Höhe, insofern als Naturalismus bezeichnen, als die Stoa in der durchgotteten Natur zugleich das wegweisende Wirken des Logos, des allwaltenden göttlichen Sinnes fand. Demgemäß erschien ihr als die umfassende Norm des Ethos das ‚kata physin‘, die Naturgemäßheit.“38

Logos Gottes und Logos des Menschen

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