Читать книгу Logos Gottes und Logos des Menschen - Heiko Nüllmann - Страница 22
2.2.2. Gewissen als Organ der moralischen Vernunft
ОглавлениеGewissen hat für Ratzinger also im Gegensatz zum beschriebenen subjektivistischen Verständnis etwas mit objektiver Wahrheitserkenntnis zu tun. Seine Auffassung, dass der Mensch fähig ist, eine objektive moralische Wahrheit in der Wirklichkeit mittels seiner Vernunft zu erkennen, ist seiner Meinung nach auch genau der Standpunkt, den schon Sokrates und Platon gegen die Sophisten bezogen haben. In diesem antiken Streit sieht Ratzinger die Parallele zum heutigen Disput um die Wahrheitsfähigkeit des Menschen, „in dem der Urentscheid zwischen zwei Grundhaltungen durchgeprobt worden ist: dem Vertrauen auf die Wahrheitsfähigkeit des Menschen einerseits und einer Weltsicht andererseits, in der nur der Mensch sich selbst seine Maßstäbe schafft.“74
Auch im Römerbrief des Paulus findet sich ein Plädoyer für die Wahrheitsfähigkeit des Menschen, wenn Paulus sagt, „dass die Heiden sehr wohl auch ohne Gesetz wussten, was Gott von ihnen erwartet (Röm 2,1–16).“75 In Röm 2,14f schreibt Paulus: „Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist“. Ratzinger folgert daraus: „Es gibt die gar nicht abzuweisende Gegenwart der Wahrheit im Menschen – jener einen Wahrheit des Schöpfers, die in der heilsgeschichtlichen Offenbarung auch schriftlich geworden ist. Der Mensch kann die Wahrheit Gottes auf dem Grund seines Geschöpfseins sehen.“76
An dieser Stelle muss natürlich auffallen, dass gerade die von Paulus behauptete natürliche moralische Erkenntnis aus Röm 2,14 von Ratzinger selbst im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Naturrechtsgedanken kritisiert worden war. Grund dafür war der stark stoisch geprägte biologische Einschlag des paulinischen Naturbegriffs, der sich nach Ratzinger besonders in Röm 1,26 und 1 Kor 11,14f zeigt.77 Wenn Röm 2,14f nun trotzdem zum Zentrum der Argumentation Ratzingers wird, macht das deutlich, dass der Gedanke einer Ausrichtung der moralischen Vernunft des Menschen an einer übergeschichtlichen moralischen Wahrheit stärker in den Mittelpunkt von Ratzingers Denkens gerückt ist als zu Anfang seiner Schaffenszeit.78
Des Weiteren muss hier der Bezug zum Schöpfungsgedanken unterstrichen werden: Moralische Wahrheit hat für Ratzinger offensichtlich etwas mit der im Menschen anwesenden Schöpfungsordnung Gottes zu tun. „Im Gewissen, im stillen Mitwissen des Menschen mit dem innersten Grund der Schöpfung, ist der Schöpfer als Schöpfer dem Menschen gegenwärtig.“79 Dazu passt auch Ratzingers Bezug zum Gewissensbegriff John Henry Newmans, den er als „die Aufhebung der bloßen Subjektivität in der Berührung zwischen der Innerlichkeit des Menschen und der Wahrheit von Gott her“80 beschreibt.
Ratzinger sieht also im Gewissen den inneren Ort der Begegnung des Menschen mit der Wahrheit des Schöpfers, die er dort ganz unabhängig vom Glauben an die Offenbarung einsehen kann. „Gewissen heißt, ganz einfach gesagt, den Menschen, sich selbst und den anderen, als Schöpfung anerkennen und in ihm den Schöpfer respektieren.“81 Das Gewissen bringt dem Menschen seine „seinshafte Verwiesenheit auf Gott“82 zu Bewusstsein. „Unser ganzes eigenes Sein sagt uns doch, dass wir uns weder selbst gemacht haben noch selbst machen können. Dass wir voneinander und letzten Endes alle miteinander von dem abhängig sind, was nicht in unseren Händen steht.“83 Ratzinger beschreibt das Bewusstsein dieser Abhängigkeit des Menschen von seinem Schöpfer als Erfahrung, „die zur metaphysischen Urerfahrung eines jeden Menschen gehört“84.
Diesen auf die moralische Schöpfungsordnung bezogenen Charakter des Gewissens beschreibt Ratzinger nun mit dem platonischen Begriff der ‚Anamnesis‘. Platon versteht unter diesem Begriff die Erinnerung der Seele an ihre unmittelbare Schau der Ideen vor ihrem Eintreten in den Körper.85 Ratzinger findet auch in Röm 2,14f das Motiv der Erinnerung und kann so den philosophischen Begriff der Anamnesis auf den paulinischen Gedanken des den Heiden ins Herz geschriebenen moralischen Gesetzes beziehen. „Die … ontologische Schicht des Phänomens Gewissen besteht darin, dass uns so etwas wie eine Urerinnerung an das Gute und an das Wahre (beides ist identisch) eingefügt ist; dass es eine innere Seinstendenz des gottebenbildlich geschaffenen Menschen auf das Gottgemäße hin gibt.“86 Ratzinger beschreibt diese „Anamnese des Ursprungs, die sich aus der gottgemäßen Konstitution unseres Seins ergibt“87, nicht etwa als ein inhaltliches Wissen von bestimmten Normen, sondern vielmehr als einen ‚inneren Sinn‘, „eine Fähigkeit des Wiedererkennens, sodass der davon angesprochene und inwendig nicht verborgene Mensch das Echo darauf in sich erkennt. Er sieht: Das ist es, worauf mein Wesen hinweist und hin will.“88 Der Mensch erinnert sich also gewissermaßen an einen ihm als Geschöpf vom Schöpfer eingeprägten Begriff des moralisch Richtigen. Er findet auf dem Grund seines Seins seine ursprüngliche, verschüttete Natur, die schöpferische Vernunft seines Seins.
Bei aller Bezogenheit auf den Schöpfer ist es nun aber wichtig, das Gewissen nicht selbst mit der Stimme Gottes im Menschen zu verwechseln. Eine solche Interpretation würde seine Unverletzlichkeit zwar auch klar herausstellen, kann aber sich widersprechende Gewissensentscheidungen bei verschiedenen Menschen nicht erklären: „Sagt denn Gott zu verschiedenen Menschen Widersprüchliches? Widerspricht Gott sich selbst? Verbietet er dem einen bis hin zur Martyriumspflicht, was er dem anderen erlaubt oder sogar gebietet?“89 Für Ratzinger erweist sich eine solche problembeladene Identifizierung von Gewissensurteilen mit der Rede Gottes als nicht schlüssig. Dagegen sagt er mit Bezug auf Robert Spaemann: „Das Gewissen ist ein Organ, kein Orakel. Es ist ein Organ, d.h.: es ist etwas uns Gegebenes, zu unserem Wesen Gehöriges, nicht etwas von außen Gemachtes.“90 Das Gewissen ist also nicht selbst die moralische Wahrheit, sondern ein Organ für diese Wahrheit, die von außen auf den Menschen zukommt. „Aber als Organ bedarf es des Wachstums, der Bildung und der Übung.“91 Mit Spaemann vergleicht Ratzinger die Bildung des Gewissens mit der Entwicklung der Sprache eines Menschen: „Der Mensch ist von sich selbst her ein sprechendes Wesen, und er wird es doch nur, indem er von anderen das Sprechen lernt.“92 Zwar ist die Sprachfähigkeit im Menschen angelegt, doch sie bedarf der Formung von außen. Analog verhält es sich mit der Gewissensbildung. Der Mensch ist für Ratzinger „von sich selbst her ein Wesen, das ein Organ des inneren Wissens um Gut und Böse hat. Aber damit er wird, was er von sich her ist, bedarf er der Hilfe der anderen: Das Gewissen bedarf der Formung und der Erziehung“93. Bleibt eine solche Erziehung aus, kann es zur Verkümmerung des Gewissens kommen, zur Unfähigkeit des Menschen, Schuld zu empfinden.94
Vor diesem Hintergrund wird nun auch deutlich, in welcher Hinsicht das Gewissen des Menschen fehlbar ist und warum ein Mensch in objektiver Hinsicht moralisch schlecht handeln kann, obwohl er seinem Gewissen folgt, also ‚nach bestem Wissen und Gewissen‘ handelt. Denn wenn das Gewissen nicht selbst als Stimme der moralischen Wahrheit, sondern nur als Organ für diese aufgefasst wird, kann es auch im Menschen verkümmert sein, sodass er in diesem Fall die moralische Wahrheit des Seins mittels seines Gewissens nicht zu vernehmen vermag. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass seine Handlung nicht dem moralischen Sollen des Seins gemäß ist und der Mensch sich objektiv schuldig macht, obwohl er nach seinem Gewissen gehandelt hat. „Es ist nie Schuld, der gewonnenen Überzeugung zu folgen – man muss es sogar. Aber es kann sehr wohl Schuld sein, dass man zu so verkehrten Überzeugungen gelangt ist und den Widerspruch der Anamnese des Seins niedergetreten hat. Die Schuld liegt dann woanders, tiefer: nicht in dem jetzigen Akt, sondern in der Verwahrlosung meines Seins, die mich stumpf gemacht hat für die Stimme der Wahrheit und deren Zuspruch in meinem Innern.“95
Der Mensch ist der Verkümmerung seines Gewissens allerdings nicht gänzlich schutzlos ausgeliefert, als ob er nur Opfer einer schlechten Erziehung wäre. Ratzinger betont nämlich in Anlehnung an Augustinus, dass für die moralische Erkenntnisgewinnung der Wille des Menschen eine große Rolle spielt. Augustinus sah es zwar nicht als Schuld des Menschen an, nicht im Besitz von Erkenntnis zu sein, sehr wohl aber, nicht nach dieser zu streben.96 „Ob hier etwas erkannt oder nicht erkannt wird, hängt immer auch vom Willen des Menschen ab, der Erkenntnis versperrt oder zur Erkenntnis führt.“97 Der Mensch ist nach Ratzinger also imstande, seine vorgegebene moralische Prägung durch seinen Willen entweder weiter zu entstellen oder aber zu reinigen.98 Auf diesem Wege entgeht Ratzinger einem Gewissens-Determinismus, der den Menschen als Opfer seiner Umwelt der Verantwortung für seine Taten entheben könnte.
Unterschiedliche Gewissensentscheidungen unterschiedlicher Menschen bedeuten folglich für Ratzinger auch nicht, dass es unterschiedliche Wahrheiten gäbe. Die Wahrheit ist nur eine einzige, und deshalb ist auch der „Weg des Gewissens, der Ausschau hält nach der Wahrheit und dem objektiv Guten … nur ein Weg, auch wenn er gemäß der Vielheit der Menschen und ihrer Situationen viele Gestalten hat.“99 Menschen können bei ihrer Suche nach der Wahrheit aufgrund ihres nicht hinreichend geformten Gewissens irren, die Wahrheit bleibt indessen immer dieselbe.
Ausgehend von diesen Überlegungen kann das Gewissen als konstitutiver Bestandteil der moralischen Vernunft des Menschen bezeichnet werden. Es ist das „Organ für die Wahrheit“100, mit welchem der Mensch die moralische Seite des Schöpfungslogos erkennen kann. Im Idealfall ist dann „die Sprache des Seins, die Sprache der ‚Natur‘, identisch mit der Sprache des Gewissens.“101 Ratzingers doppelpoliges Verständnis des Vernunftbegriffs tritt hier sehr deutlich hervor: Es gibt auf der einen Seite die Vernunft des Menschen als ‚Organ‘, auf der anderen Seite die Vernunft des Schöpfers als bleibende, übergeschichtliche Wahrheit, auf welche sich die Vernunft des Menschen bezieht.102