Читать книгу Logos Gottes und Logos des Menschen - Heiko Nüllmann - Страница 28
2.3.4. Geschichtliche Verdunkelung der moralischen Vernunft
ОглавлениеAuch wenn moralische Vernunft nach Ansicht Ratzingers nicht unabhängig von Geschichte und Tradition bestimmt werden kann, so sind diese für ihn nun aber nicht automatisch Träger moralischer Vernunft. Sie können im Gegenteil moralische Vernunft auch verdecken und entstellen. Denn „Tradition, deren Wesen es ist, Humanität zu begründen, ist allenthalben auch mit dem vermischt, was den Menschen entmenschlicht.“183 Die Geschichte und mit ihr die Tradition, auf die der Mensch, wie gesehen, in seinem Menschsein notwendig angewiesen ist und ohne deren Zusammenhang er nicht gedacht werden kann, birgt immer auch die Gefahr, ihn von der moralischen Wahrheit des Seins zu entfremden. Ratzinger bezeichnet dies als die „eigentliche Tragödie des Menschen. Man muss Tradition festhalten, um überhaupt den Menschen festzuhalten, aber man hält unweigerlich mit ihr immer auch die Kraft der Entfremdung fest.“184 Denn es kann seiner Ansicht nach „zwar auf Dauer keine Gesellschaft geben, die sozusagen nur vom Negativen, vom Bösen lebt. Eine Gemeinschaft, die überleben will, muss bis zu einem gewissen Grad immer wieder auf die Urtugenden, auf die grundlegenden Maßformen des Menschseins zurückkommen.“185 Dennoch können trotz dieser grundlegenden Ausrichtung an moralischen Grundwerten „wichtige Lebenszonen einer Gesellschaft verderbt sein, sodass geltende Sitte den Menschen nicht führt, sondern verführt.“186
Folglich kann der Mensch sich nur in begrenztem Maße auf die ihm überlieferte geschichtliche Erfahrung verlassen, was ihre moralische Vernünftigkeit angeht. Denn gerade ihr geschichtlicher Charakter impliziert die Fehlbarkeit menschlicher Vernunft: Sie ist eben nicht „absolut wie die Vernunft Gottes“, sondern gehört „einem Wesen, das in geschichtlichen Entfremdungen steht, die das Sehvermögen der Vernunft beeinträchtigen.“187 Es ist also nicht die moralische Vernunft des Schöpfers, die fehlgeht, sondern das Vernunftvermögen des Menschen, das aufgrund seiner geschichtlichen Verfasstheit Schwierigkeiten hat, der Vernunft des Schöpfers nachzudenken: Es ist „seine Geschichte, die ihn von der Schöpfung trennt“188 und aufgrund der er die „Stimme des Logos nur gebrochen … vernehmen“189 kann. Denn die Geschichtlichkeit ist es ja, die dem Menschen einen Freiheitsraum ermöglicht, in dem er sich der Vernunft des Seins ebenso öffnen wie auch verschließen kann.
In diesem durch seine Geschichtlichkeit ermöglichten Sich-Verschließen des Menschen gegenüber der moralischen Vernunft der Natur erzeugt der Mensch nach Meinung Ratzingers eine gegen die Schöpfungsbotschaft gerichtete Gegenbewegung, „die durch die Sünde in der Welt ist“190 und „in der er sich gewissermaßen gegen Gott seine eigene Welt zu bauen versucht.“191 Der Ursprung dieser geschichtlichen Gegenbewegung des Menschen gegen den Willen Gottes liegt für Ratzinger also in der Sünde. Sie ist es, die den Menschen dazu bringt, sich Gott gegenüber zu verschließen, seine schöpferische Vernunft in der Wirklichkeit zu ignorieren und sich stattdessen ganz auf sich selbst zu konzentrieren. Man könnte mit Ratzinger „geradezu sagen, der tiefste Gehalt der Sünde sei es, dass der Mensch sein Geschöpf-Sein leugnen will, weil er die Tatsache, dass er ein Maß hat und eine Grenze hat, nicht annehmen will. Er will nicht Geschöpf sein, denn er will nicht gemessen sein, will nicht abhängig sein.“192
Sünde bedeutet demnach für Ratzinger, dass der Mensch sich der Einsicht in seine eigene Geschöpflichkeit und seine Abhängigkeit vom Schöpfungslogos verschließt und die moralische Vernunft des Schöpfers nicht anerkennt. Damit emanzipiert er sich von der Idee eines objektiven Maßstabs in der Wirklichkeit, von der Idee einer objektiven Wahrheit des Seins. „Sünde ist, so wird nun deutlich, ihrem Wesen nach Absage an die Wahrheit. Der Mensch, der die Grenze nicht will, will nicht sein, der er ist, er bestreitet die Wahrheit.“193 Der Mensch lässt nur noch seinen Eigenwillen gelten und ignoriert den Willen Gottes, den er mittels seiner moralischen Vernunftfähigkeit, seines Gewissens, in der Wirklichkeit vorfindet.
Theologisch führt Ratzinger diese Verschließung des Menschen vor dem Willen des Schöpfers auf die Ursünde zurück, die dem Menschen durch die Menschheitsgeschichte hindurch überliefert wird.194 Die moralische Vernunftfähigkeit des Menschen ist durch ihre Bindung an die Geschichte von der menschlichen Ursünde, von seiner geschichtlich ermöglichten Verschließung vor Gott, beeinträchtigt; sein Gewissen ist durch die Erbsünde abgestumpft.195 Dies ist der Grund, warum in den Traditionen der Menschheit nicht nur Einsichten in die moralische Wahrheit der Schöpfung, sondern auch die Sünde, also die Abkehr von ebendieser Wahrheit, überliefert wird. Diese Abkehr kann so weit gehen, dass die Schöpfung selbst „in die Seinslüge des Menschen hineinverstrickt“196 wird. Wie bereits im Zusammenhang der technischen Vernunft thematisiert, kann der Mensch so viel Einfluss auf die Natur nehmen, dass sie nicht mehr den Willen des Schöpfers ausdrückt, sondern nur noch den Eigenwillen des Menschen. „So nimmt sie am Sturz des Menschen teil“197 und ist in die Überlieferung der Sünde mit eingebunden.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass nach Auffassung Ratzingers Traditionskritik notwendig ist, weil „keine Tradition unversehrte Gründung des Humanen ist, sondern jede auch infiziert ist von den Kräften des Antihumanen, die den Menschen an der Selbstwerdung hindern.“198 Dies heißt aber nicht, dass der Mensch sich ganz von jeglicher Tradition und Kultur frei machen sollte, selbst wenn er es könnte. Denn die „Traditionskritik findet ihre Grenze darin, dass der Mensch an die Wahrheit seines Wesens, an die geschaffene Schöpfung gebunden bleibt und sich nur finden kann, wenn er diese Wahrheit findet. Und das bedeutet, dass die Vernunft des Machens rückgebunden bleibt an die Vernunft des Vernehmens, die Tradition der Humanität.“199 Trotz aller Sündhaftigkeit des Menschen bleiben seine kulturellen und religiösen Traditionen laut Ratzinger immer auch Erkenntnisquellen der moralischen Vernunft des Schöpfers. „An ihnen vorbei zu denken und vorbei zu leben, wäre ein Hochmut, der den Menschen zuletzt ratlos und leer hinterlässt.“200 Wie das Gewissen das Gedächtnis der moralischen Vernunft des Schöpfers für den Einzelnen ist, so bilden die Traditionen nach Ratzinger das Gedächtnis der moralischen Vernunft für die Menschheit, von dem diese sich nicht abschneiden darf.