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2.3 Traditionen: Die moralische Vernunft in der Geschichte 2.3.1. Der Mensch als geschichtliches Wesen

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Menschsein ist für Ratzinger untrennbar mit Geschichtlichkeit verbunden. Diese gründet seiner Ansicht nach in erster Linie in der leiblichen Verfasstheit des Menschen. Denn „wenn der reine Geist streng für sich seiend gedacht werden kann, so besagt Leibhaftigkeit das Abstammen voneinander: Die Menschen leben in einem sehr wirklichen und zugleich in einem sehr vielschichtigen Sinn einer vom andern.“127

Diese durch seine Leiblichkeit bedingte Bindung des Menschen an Geschichte und Gemeinschaft wirkt sich nun ebenfalls auf seinen Geist aus. Denn sie bedeutet für den Menschen, welcher selbst „Geist nur im Leib und als Leib ist, dass auch der Geist – einfach der eine, ganze Mensch – zutiefst von seinem Zugehören zum Ganzen der Menschheit … gezeichnet ist.“128 So sind in jedem Menschen nach Ratzinger „die Vergangenheit und Zukunft der Menschheit mit anwesend“129, denn er ist in ihre geschichtliche Mitte hineingeboren und sein Denken ist mit dem Denken der gemeinsamen Menschheitsgeschichte untrennbar verwoben.

Ratzinger macht diese Untrennbarkeit am Beispiel der Sprache deutlich: Als Mensch bin ich in meinem geistigen Leben vollkommen auf sie angewiesen, mein „Menschsein realisiert sich im Wort, in der Sprache, die meine Gedanken prägt und mich einstiftet in die mitmenschliche Gemeinschaft, die mein eigenes Menschsein prägt.“130 Dabei ist die Sprache aber alles andere als eine private und neue Erfindung des jeweiligen Menschen: „Sie kommt von weit her, die ganze Geschichte hat an ihr gewoben und tritt durch sie in uns ein als die unumgängliche Voraussetzung unserer Gegenwart, ja, als ein beständiger Teil davon.“131 Die Sprache schaffe ich als Mensch nicht selbst; sie wird mir geschichtlich vermittelt und verbindet mich deshalb mit der gemeinsamen Geschichte der Menschheit. Deshalb ist sie für Ratzinger „Ausdruck der Kontinuität des menschlichen Geistes in der geschichtlichen Entfaltung seines Wesens.“132

Der einzelne Mensch kann nun nicht einfach unabhängig von dieser geschichtlichen Geistesentwicklung der Menschheit betrachtet werden. Die geschichtliche Verfasstheit gehört für Ratzinger vielmehr untrennbar zum Wesen des Menschen hinzu.133 Deshalb kann man seiner Ansicht nach nicht einfach „ein zeitlos währendes Wesen dem Wechsel und der Zufälligkeit der Geschichte gegenüberstellen, ohne den Menschen von Grund auf misszuverstehen, da doch Geschichte und Wesen bei ihm ineinanderfallen und das eine nur im anderen wirklich ist.“134

Die geschichtliche Prägung des menschlichen Wesens impliziert, dass der Mensch nie in ungeschichtlich gedachter Freiheit beliebig über sein Wesen verfügen kann. „Er ist selbst nur in der Spannung von Vergangenheit über Gegenwart in Zukunft hinein.“135 Zwar kann der Mensch die Geschichte im Rahmen seiner Möglichkeiten beeinflussen und ihr sozusagen seinen persönlichen Stempel aufdrücken, aber er kann sich doch nicht unabhängig von ihr denken, er kann sie „nicht aufsprengen und verlassen in ein vermeintlich reines Wesen hinein, das eine Utopie ist, in der er sich selbst verkennt.“136

In einer scharfen Abgrenzung vom Deutschen Idealismus charakterisiert Ratzinger die dort seiner Auffassung nach versuchte Loslösung des Menschen von seiner Geschichtlichkeit dementsprechend als „die bei Fichte zu ihrer höchsten Übersteigerung gekommene idealistische Verkennung des menschlichen Wesens, so als wäre jeder Mensch ein autonomer Geist, der sich ganz aus eigener Entscheidung auferbaut und ganz das Produkt seiner eigenen Entschlüsse ist – nichts als Wille und Freiheit, die nichts Ungeistiges duldet, sondern sich ganz in sich selbst gestaltet.“137 Diese Auffassung des Menschen als einem von jeglichen geschichtlichen Bindungen losgelösten, also ‚absoluten‘, schöpferischen ICH, läuft für Ratzinger auf die Gleichsetzung des Menschen mit Gott hinaus.138 Durch diese Folgerung, die Ratzinger bei Fichte konsequent vollzogen sieht, widerspricht sich die idealistische Auffassung aber seiner Ansicht nach selbst, denn „der Mensch ist nicht Gott: Um das zu wissen, braucht man im Grunde nur selber ein Mensch zu sein.“139

Ganz im Gegenteil zum idealistischen Denken erfährt man sich laut Ratzinger als Mensch vielmehr jeden Tag aufs Neue als ein „Wesen der Abhängigkeiten … das gar nicht isoliert gedacht werden kann, weil die Abhängigkeit, das Mitsein mit anderen sozusagen in seine Definition hineingehört.“140 Ratzinger weiß in diesem Zusammenhang auch um die häufig zu idealistisch ausgerichtete christliche Metaphysik, die seines Erachtens „längst vor Fichte eine allzu starke Dosis von griechischem Idealismus in sich aufgenommen“141 hatte, sodass sie geschichtliche Aussagen des Glaubens wie Erbsünde und Erlösung aufgrund ihres ungeschichtlichen Denkens nicht mehr erklären konnte.142

Es ist also für Ratzinger gerade nicht so, „dass jeder Mensch vom Nullpunkt seiner Freiheit aus sich ganz neu entwirft, wie es im deutschen Idealismus erschien.“143 Vielmehr ist jeder Mensch „geprägt von einer Gemeinschaft, die ihm Formen des Denkens, des Fühlens, des Handelns vorgibt. Dieses Gefüge von Denk- und Vorstellungsformen, das den Menschen vorprägt, nennen wir Kultur.“144 Zur Kultur gehören neben der Sprache für Ratzinger z.B. auch die jeweilige staatliche Verfassung einer Gesellschaft, das Recht und die moralischen Auffassungen, die Kunst sowie der religiöse Kult.145 All dies bildet seines Erachtens den unhintergehbaren Ausgangspunkt menschlichen Denkens. Die Gegenwart des Menschen ist nicht von seiner Geschichte, den Erfahrungen seiner Vergangenheit, trennbar.

Dies wird auch in Ratzingers Verständnis von ‚Gedächtnis‘ deutlich: „Zeit wird für uns als eine in allem Vergehen zusammenhängende Wirklichkeit nur durch das Gedächtnis wahrnehmbar. Im Gedächtnis ist Vergangenheit als Gegenwart verwahrt. Was überhaupt Gegenwart für uns bedeutet, hängt von unserem Gedächtnis ab“146. So manifestiert sich der Geist des Menschen gerade „in der Überschreitung der Zeit, des Augenblicks: Geist ist grundlegend Gedächtnis – Einheit stiftender Zusammenhang über die Grenze der Augenblicke hinweg.“147

Ausgehend von diesem Gedanken ist es logisch, dass auch die Zukunft des Menschen von seiner Geschichte beeinflusst wird: „Die Zukunftsfähigkeit des Menschen hängt davon ab, welche Wurzeln er hat, wie er Vergangenheit in sich aufzunehmen und von da aus Maßstäbe des Handelns und des Urteilens zu bilden vermag.“148 Hier zeigt sich deutlich die Bedeutung der Geschichte des Menschen, die Bedeutung seiner jeweiligen Kultur, für sein moralisches Denken und Handeln, welches ja ein auf die Zukunft gerichtetes Denken ist. Die moralische Vernunft des Menschen kann für Ratzinger folglich keine geschichtslose Vernunft sein; sie kann sich nicht an der jeweiligen Geschichte und kulturellen Tradition vorbei, nicht unabhängig von ihr entwickeln. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden näher erläutert.

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