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2.3.2. Das moralische Wissen der Traditionen

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Ausgehend von den vorhergehenden Einsichten in die geschichtliche Verfasstheit des Menschen kann nun gesagt werden, dass menschliche ‚Tradition‘ sich für Ratzinger aus dem Zusammenspiel von Gedächtnis und Sprache in einem gemeinschaftlichen Traditionssubjekt aufbaut. Denn wie gesehen, wirkt Gedächtnis seiner Ansicht nach „sinngebend, indem es Einheit stiftet, das Vergangene in Gegenwart vermittelt und zugleich Ausgriff auf Zukunft vollzieht.“149 Ebenso verhält es sich mit der Sprache: „Sie erfüllt ihre einheitsstiftende Funktion wesentlich als vorgegebene, als empfangene; Bedingung ihrer Wirksamkeit ist ihre Unbeliebigkeit, ihr Traditionscharakter.“150 Gleichzeitig aber ist sie offen für zukünftige Weiterentwicklung und Weiterbildung der Tradition.151 Als drittes Element neben Gedächtnis und Sprache braucht Tradition ein Traditionssubjekt, das sie im Normalfall in der jeweiligen Sprachgemeinschaft findet.152 „Sie ist nur möglich, weil viele Subjekte im Zusammenhalt gemeinsamer Überlieferung so etwas wie ein Subjekt werden.“153 Wir sind als Menschen von unserer Herkunft her in die Geschichte eines bestimmten Traditionssubjekts eingegliedert, „sodass wir unausweichlich an Segen und Fluch dieser bestimmten Geschichte beteiligt sind.“154

Wie schon angedeutet, kann die moralische Vernunft des Menschen nach Ansicht Ratzingers nun nicht unabhängig von seiner geschichtlichen Tradition gedacht werden. Dieser Gedanke ist auch von daher logisch, dass Ratzinger das moralische Vernunftvermögen des Menschen als ein ‚Organ‘ bezeichnet hat155, dessen Ausbildung und Wachstum innerhalb von Geschichte und Gemeinschaft des Menschen erfolgen muss. „Denn auch die praktische Vernunft braucht das Bürgnis des Experiments, aber eines größeren, als es in Laboratorien geleistet werden kann: Sie braucht das Experiment des bestandenen Menschseins, das nur aus der bestandenen Geschichte selbst kommen kann.“156 Menschliches Denken und „die Bewährung des Lebens sind in einer Wechselbeziehung ineinander verschränkt, in der auf keine der beiden Seiten zu verzichten ist.“157

Aufgrund dieser ihrer Bezogenheit auf geschichtliche Erfahrung ist die moralische Vernunft des Menschen auf geschichtliche Räume verwiesen, in denen sie sich bewähren kann. Sie ist nach Ratzinger „immer eingeordnet in den großen Erfahrungs- und Bewährungszusammenhang ethisch-religiöser Gesamtvisionen.“158 Moralische Werte sind für Ratzinger folglich aufs Engste mit der Kultur verknüpft, in die der einzelne Mensch hineingeboren wird. Kultur ist für ihn in dieser Hinsicht „die geschichtlich gewachsene Ausdrucksgestalt der das Leben einer Gemeinschaft prägenden Erkenntnisse und Wertungen.“159 Moralische Werte existieren nicht einfach nackt und abstrakt, sondern immer in Abhängigkeit von geschichtlicher Tradition, in geschichtlichen Bewährungszusammenhängen: „Geschichtlich betrachtet, ist Moral gerade nicht der Bereich der Subjektivität, sondern von der Gemeinschaft verbürgt und auf die Gemeinschaft bezogen.“160 Sie ist kein „abstrakter Kodex von Verhaltensnormen, sondern sie setzt einen gemeinschaftlichen way of life voraus, in dem sie ihre Evidenz und ihre Vollziehbarkeit empfängt.“161 So ist moralische Vernunft auf ein ‚Wir‘ mit all seinen geschichtlichen Erfahrungen angewiesen, „in denen nicht nur Berechnung des Augenblicks spricht, sondern Weisheit der Generationen zusammenströmt.“162 Moralische Vernunft hat ihren Ort in den geschichtlichen Kulturtraditionen der Menschheit.

Laut Ratzinger wusste schon Platon um diese Verbindung von moralischer Vernunft und Geschichte, denn sein Denken zielt Ratzinger zufolge nicht etwa auf eine „Philosophie der reinen Vernunft“163, sondern darauf, die Vernunft dahin zu führen, „sich von jenen Grundüberlieferungen her neu zu finden, die wahre Gemeinschaft ermöglichen.“164 Auf dem Boden dieser überlieferten Weisheit war Platons Denken für Ratzinger nicht etwa auf abstrakte Spekulation, sondern vielmehr auf „die Wiederermöglichung der Polis, die Neugründung der Politik“165 ausgerichtet. Platon wollte also die in der Gemeinschaft bewährten und tradierten Werte wieder für das geordnete Leben in der Gemeinschaft fruchtbar machen. Diese geschichtliche und traditionsorientierte Ausrichtung des Platonischen wird dort Ratzinger zufolge völlig verkannt, wo Platon „als individualistischer und dualistischer Denker eingestuft wird, der das Irdische verneint und die Menschen zur Flucht ins Jenseits anleitet.“166 Im Gegensatz zum Deutschen Idealismus wird der platonischen Philosophie von Ratzinger also eine angemessene Geschichtsbezogenheit bescheinigt.

Ratzinger ist nun allerdings weit davon entfernt, moralische Vernunft in Geschichte aufzulösen bzw. ihre Erkenntnis ganz auf den inneren Raum der geschichtlichen Wirklichkeit zu beschränken. Geschichtliche Tradition ist zwar der Ort, an dem sich moralische Vernunft in menschlicher Gemeinschaft bewährt und sich das Organ des menschlichen moralischen Vernunftvermögens auf diese Weise ausbildet; die moralische Wahrheit, auf die die Vernunft des Menschen dabei Bezug nimmt und die in den menschlichen Kulturen tradiert wird, ist aber keine geschichtlich erfundene, sondern eine geschichtlich gefundene Wahrheit: Die tradierte Wahrheit transzendiert die Geschichte selbst.167 Es handelt sich dabei um die übergeschichtliche moralische Wahrheit des Logos Gottes, die der Mensch in seinem Gewissen und mittels der moralischen Weisung der Natur erfassen kann.168

Genau diese moralische Wahrheit ist es, auf die sich der Mensch in seiner geschichtlich verfassten moralischen Vernunft beziehen kann und die sich dann in geschichtlichen Zusammenhängen bewähren muss. Laut Ratzinger ist uns das Wissen um diese moralische Wahrheit heute in den großen Traditionen der Menschheit erhalten geblieben. Denn „nahezu der ganzen vormodernen Menschheit“ war seiner Ansicht nach die Überzeugung gemeinsam, „dass im Sein des Menschen ein Sollen liegt; die Überzeugung, dass er Moral nicht selbst aus Zweckmäßigkeitsberechnungen erfindet, sondern im Wesen der Dinge vorfindet.“169 Zwar gibt es bezüglich dieses Wissens der Kulturen Unterschiede im Detail, „aber viel stärker als die Unterschiede ist das große Gemeinsame, das sich als Urevidenz menschlichen Lebens darstellt: die Lehre von objektiven Werten, die sich im Sein der Welt aussagen; der Glaube, dass es Haltungen gibt, die der Botschaft des Alls entsprechend wahr und darum gut sind und dass ebenso andere Haltungen, weil dem Sein widersprechend, wirklich und immer falsch sind.“170

Ratzinger richtet sich damit gegen die Auffassung eines Kulturrelativismus, der die moralischen Aussagen unterschiedlicher Kulturen als miteinander unvereinbar versteht. Dem neuzeitlichen Menschen wird seiner Ansicht nach eingeredet, „dass all dies menschliche Erfindungen seien, deren Ungereimtheiten wir nun endlich durchschauen und durch vernünftige Erkenntnis ersetzen könnten.“171 Eine solche Diagnose aber ist für Ratzinger extrem oberflächlich.172 Tatsächlich ist es seiner Ansicht nach so, „dass die Grundintuition über den moralischen Charakter des Seins selbst und über den notwendigen Zusammenklang des menschlichen Wesens mit der Botschaft der Natur allen großen Kulturen gemeinsam ist und dass daher auch die großen moralischen Imperative gemeinsam sind.“173 In den großen kulturellen Traditionen der Menschheit werden Ratzinger zufolge also nicht etwa ausschließlich zufällig geschichtlich entstandene Wertvorstellungen überliefert, sondern ein immer gleiches Wissen, das das rein Innergeschichtliche übersteigt, weil es sich auf die übergeschichtliche Wahrheit der moralischen Vernunft der Wirklichkeit bezieht, ermöglicht durch die „Transparenz der Schöpfung, die ihre Weisungen durchscheinen lässt.“174

Logos Gottes und Logos des Menschen

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