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268. Philarète Chasles114
ОглавлениеEnde Juli 1833?
Es war an einem Jahrestage der Julirevolution; die Sonne hatte keine Festtagslaune, ein dichter Schlagregen prasselte in derben Güssen gegen die Fenster, die Regenschirme segelten wider den Wind, und die Pferde, ungeduldig ob der Tropfen, die wie Pfeile auf sie schossen, rissen ungestümer an den Strängen... Ich ging auf Pontroyal zu und sah unterwegs manches verdrießliche Gesicht, manche Beine, welche der plötzliche Sturm aus dem Takt und aus der Richtung gebracht hatte. Da fiel mir dem Pavillon Marsan gegenüber ein kleiner blonder Mann auf, der, an die Brustwehr des Kais gelehnt und seinen triefenden Hut mit einer Hand haltend, die Vorübergehenden musterte und dem Unwetter zusah. Die Wolke riß, auf sein wallendes Haar fiel ein Sonnenstrahl und beleuchtete eine höchst originelle Gesichtsbildung. Ich betrachtete den Mann aufmerksam: es war eine jener Figuren, wie sie weder der Weltmann hat noch der Musterreiter, weder der Pflastertreter noch der Handwerker, weder der Gimpel noch der Kaufmann. Als die Sonne wieder vollkommen Meister geworden war, steckte er ruhig die Hände in die Taschen und fuhr in seinem Geschäfte fort, und das bestand darin, die Leute zu betrachten. Ich machte es ihm nach, schlenderte langsam vor ihm dahin, kehrte um und ging beobachtend um den Beobachter her. Sein ganzes Wesen war mir höchlich aufgefallen, der Mann erschien mir wie ein Rätsel, dessen Lösung ich zu suchen hatte... Wohlgefällig und schwermütig ruhte sein Blick auf den vorübergehenden Kindern, auf den jungen Weibern, die mit den Nachzüglern des Ungewitters kämpften und sich der wiederkehrenden Sonne freuten, auf den Schuhputzern, die sich wieder an ihren Stationen niederließen und ihr Gewerbe ausschrien. Der Mann hatte in seinem ganzen Wesen etwas so Unbekümmertes und Schwermütiges, sein Blick war so lang gehalten und doch so beweglich, seine Neugier so gar nicht französisch, so echt germanisch träumerisch, die Sentimentalität, die aus seinem Gesichte sprach, so sonderbar mit Melancholie versetzt, daß er mir nicht aus dem Kopfe kam, als ich ihn längst aus den Augen verloren. Waren nicht alle ungewöhnlichen Menschen Menschenbeobachter auf Markt und Straße?... Menschenkenntnis, die große Kunst, lernt sich nur auf der Straße... Ich sah ihn seitdem wieder, meinen deutschen Beobachter, ich sah ihn glänzend als Stern erster Größe, bewundert, gehaßt, eifrig gesucht und nachgeahmt: Es war Heinrich Heine...
[1835 war Heine mit Chasles schon bekannt; 1834 kommt für die obige Schilderung nicht in Betracht, da sich Heine seit dem 15. Juli nicht in Paris, sondern in Boulogne aufhielt. Daher erschien mir 1833 als das wahrscheinlichste Datum für jene Begegnung auf der Straße.]