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280. Philarète Chasles209

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15. Januar 1835

[Nach Mitteilung von Philibert Audebrand:] 1835, nach der Veröffentlichung seines Buches „De l’Allemagne“, war die Popularität dieses neuartigen Historikers auf ihrem Höhepunkt, wenigstens in der literarischen Welt, die sich damals für alles Neue begeisterte. Die Revuen beschäftigten sich angelegentlich mit allem, was er tat. Sehr geschätzt als Schriftsteller, war er nicht weniger gesucht als Causeur. Obgleich in seiner Aussprache noch immer ein Rest deutschen Akzentes störte, legten die Damen der Gesellschaft ihren Freunden eifrig ans Herz, ihn mitzubringen; Heine war ein sehr hübscher Kerl und für einen Mann der Arbeit ziemlich elegant, aber das Drum und Dran der westeuropäischen Umgangsformen erschien ihm als abgeschmackte Lüge und widerte ihn an; wenn er sich auch nicht wie eine Schnecke in sein Haus verkroch, so war ihm doch der Lärm der Salons unerträglich. Er gab daher Absagen, und ziemlich schroff. Ein Grund mehr, um sich viel mit seiner Person zu beschäftigen. Achille Déveria hatte ihn gemalt, der sonst nur Frauen porträtierte.

An dieser Skizze eines großen Künstlers hatte man noch nicht genug; man verlangte nach einer Biographie, die dieses Bild würdig ergänzen sollte. Eine der großen aktuellen Revuen beauftragte Philarète Chasles, sich zu dem Humoristen zu begeben, um den Plutarch zu spielen. Als der Besucher bei ihm eintrat, saß oder vielmehr lag Heine auf einem Sofa, um ein Schläfchen zu machen.

Heine (sich erhebend): „Lieber Kollege, Sie kommen gerade zur rechten Zeit!“

Chasles: „Warum?“

Heine: „Weil ich eine Minute später eine Seite Nodier gelesen hätte, um einzuschlafen.“

Chasles: „Ist das der Eindruck, den Nodier auf Sie macht? – Sie schwärmen also nicht für diesen Biedermann, diesen Tacitus und Sterne in einer Person?“

Heine: „Doch, doch! Ich bin ganz vernarrt in diese köstliche, nur zu köstliche Prosa. Aber diese Blätter, in denen es von lauter Diamanten wimmelt, verursachen mir mit ihrem steten Blitzen Augenschmerzen; ich fühle mich geblendet und werde schläfrig. Aber welcher glückliche Zufall führt Sie her?“

Chasles: „Achille Déveria forderte Ihren Kopf, ich fordere Ihr Leben.“

Heine: „Im Ernst?“

Chasles: „Durchaus im Ernst! Ich muß wenigstens dreihundert Zeilen über Sie bringen.“

Heine (in Lachen ausbrechend): „So ernst nimmt man mich, daß man eine Biographie von mir bringen will, und dazu noch aus der Feder eines bedeutenden Schriftstellers?“

Chasles: „Ganz gewiß. Wundert Sie das?“

Heine: „Zunächst, lieber Freund, wundere ich mich über nichts; dann – halt, mir kommt eine recht ergötzliche Idee –“

Chasles: „Und die wäre?“

Heine: „Als ein Kapitel der Literaturgeschichte improvisieren wir, Sie und ich, wie wir da sind, einen kleinen Roman, dessen Hauptperson ich sein müßte.“

Chasles: „Warum denn nicht!“

Heine: „Ich komme sehr weit her, denn ich bin ein Flüchtling aus Preußen. Was könnte ich Ihnen für Wunderdinge erzählen!“

Chasles: „Wir müßten aber immer möglichst bei der Wahrheit bleiben.“

Heine: „Wahr ist alles an dem Tag, da es gedruckt wird. (Heine tut, als wolle er diktieren.) ‚Heine wurde 1800 in Düsseldorf geboren, als Sohn eines ziemlich vermögenden Kaufmanns. Aber war Herr Heine wirklich sein Vater? Man erzählt sich, daß der berühmte Räuberhauptmann Schinderhannes eines Tags durch Düsseldorf kam und ein unbekanntes Kind in dem Flur des Hauses niederlegte, das der ehrenwerte Herr Heine bewohnte.‘ Was meinen Sie zu diesem Anfang?“

Chasles: „Sehr pikant wäre das, aber Findelkinder sind nicht mehr recht Mode“...

Heine: „Das könnte stimmen. (Er klingelt.) Joseph, Tee und zwei Tassen! Aber Butter und Brot nicht vergessen, nach deutscher Sitte. – (Fortfahrend.) Übergehen wir also die Kindheit! Beschäftigen wir uns mit meiner Jugend. Einverstanden?“

Chasles: „Wie Sie wollen, lieber Herr Kollege.“

Heine: „Ich brauche eine stürmische, bewegte, abenteuerliche Jugend. Nicht umsonst habe ich mir den anspruchsvollen Titel ‚Vetter Byrons‘ zugelegt. Ich brauche also unbedingt etwas von dem Format dieses revolutionären Titanen, der den ‚Manfred‘ schrieb.“

Chasles:„Nichts einleuchtender als das. – (Holt ein Notizbuch aus der Tasche.) Also diktieren Sie, ich schreibe.“

Heine: „Einen Augenblick. Erst müssen wir wenigstens eine Tasse Tee trinken.“ (Der Diener ist eingetreten und serviert. Eine Minute Schweigen.)

Chasles: „Tatsachen. Tatsachen, aber mit zuverlässigen Daten. Daran ist der Revue am meisten gelegen. – Wo waren wir also stehengeblieben, teurer Meister?“

Heine: „Nur nicht so stürmisch! Man setzt doch niemandem die Ruhmespistole so auf die Brust.“

Chasles: „So wie in Delphi, wo man Gewalt brauchte, um das Orakel zum Reden zu bringen.“

Heine: „Etwas recht Abenteuerliches also, ich dachte, das sei das Einfachste. Ein Duell? Nicht übel. Und wie neu! Eine Entführung? Das hieße Scribe, dem Vaudevillefabrikanten, ins Handwerk pfuschen. Ein mißglückter Selbstmord? Darüber lacht man nur, und mit Recht. Wissen Sie was, mein Lieber? Nichts ist wohl lustiger als sein Jahrhundert zu mystifizieren: es muß den Himmel für einen Dudelsack ansehen. Aber, bei Lichte besehen gibt es nichts Bedenklicheres. Also bin ich heute nicht dafür.“

Chasles (lächelnd): „Pardon – ich bin hier, um mir Notizen zu machen – ohne das geht’s nun einmal nicht.“

Heine: „Nur keine Sorge, daran soll’s nicht fehlen. (Ernst.) Das Beste in solchen Fällen ist, dumm und prosaisch die Wahrheit zu sagen. (Er klingelt.) Joseph, Joseph, bring’ mir mein Schreibzeug. (Wieder zu Chasles.) Lieber Herr Chasles, während ich zwei Seiten Papier bekritzele, amüsieren Sie sich mit der Entzifferung dieses Manuskriptes.“

Chasles: „‚William Ratcliff‘. – Was ist das?“

Heine: „Ein Drama Ihres ergebenen Dieners, das aber nie gespielt werden wird.“

Chasles: „Ein Drama von Heinrich Heine – das ist herrlich.“ (Er beginnt zu lesen.)

Unterdes schrieb Heine mit gesammelter Aufmerksamkeit einen Brief an seinen Besucher. Dieser flüchtig aufs Papier geworfene Brief von etwa hundert Zeilen trägt das Datum vom 15. Januar 1835 und erschien im folgenden März in der „Revue de Paris“...

Als Heine den Brief beendet hatte, war auch Chasles mit der Lektüre des Dramas fertig. Man trank noch eine Tasse Tee und trennte sich mit kräftigem Händedruck.

Gespräche mit Heine

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